11
Henry schaute die Stelle an seinem Hemd an und schaute dann Carsten an. Seine Augen blickten starr in die von Carsten und er schnaubte wie ein Stier.
"Du Idiot! Schau, was du getan hast!", rief Henry.
Es sah tatsächlich so aus, als würde sein Hemd wellig werden, genau dort, wo das Wasser hingekommen war. Ein dezentes Gefühl einer verhaltenen Euphorie regte sich in Carsten. Es funktionierte. Wenn ein paar Tropfen Wasser so etwas bewirken konnten, was würde dann ein ganzer Eimer Wasser auslösen?
"Das tut mir leid. Kann ich dir helfen?", fragte Carsten, bemüht so zu tun, als täte es ihm wirklich leid.
"Tu nicht so", blaffte Henry.
"Wie ...?"
Henry lief nervös auf und ab. "Du hast das geplant", murmelte er. Carsten stellte die beiden Gläser auf seinem Schreibtisch ab und hielt abwehrend die Hände nach oben.
"Nein, ich bin gestolpert. Es tut mir wirklicht leid, Henry. Willst du was Neues zum Anziehen?"
Henry blieb abrupt stehen und sah Carsten entgeistert an. Dann fuhr er sich mit beiden Händen am Körper entlang und rief: "Sieh mich an. Sieh mich an! Glaubst du wirklich, ich könnte deine Kleidung anziehen?"
"Ja." Carsten hatte geantwortet, ohne groß darüber nachzudenken. Das schien Henry für einen Moment aus dem Konzept zu bringen. Was nicht unbedingt schlecht war, denn so gewann Carsten immerhin etwas Zeit, um nachdenken zu können. Um abzuschätzen, was als nächstes passieren würde. Aber er stellte fest, dass er das nicht abschätzen konnte. Henry war unvorhersehbar. Würde er ausrasten? Würde er herumbrüllen? Oder sogar auf Carsten losgehen? Was würde er tun?
In solchen Situationen im Roman blieb Henry für gewöhnlich unheimlich gelassen. Natürlich nur äußerlich, denn Selbstbeherrschung war nicht seine Stärke. Diesen Zustand konnte Henry auch nicht lange aufrecht erhalten. Er blieb einfach so unheimlich gelassen, dass es sein Gegenüber so sehr verunsicherte, dass dieses Gegenüber das starke Bedürfnis hatte, sich schnellstmöglich vom Acker zu machen. Und der Trick funktionierte immer. Das war auch gut so, denn wenn es nicht so wäre, dann würde der Zorn Henrys auf das Gegenüber hernieder kommen.
Aber in dieser Nacht reagierte Henry ohnehin nicht wie gewöhnlich. In dieser Nacht war nichts gewöhnlich. Henry war bereits aus der Haut gefahren und so weit kam es im Roman nur am Höhepunkt der Handlung. Dann, wenn es absolut unvermeidbar war. Denn es war Henrys beherrschende Art, die seinen Widersachern so gut wie immer den Wind aus den Segeln nahm, sodass es oft gar nicht nötig war, dass Henry zum Äußersten ging. Was aber nicht hieß, dass er nicht dazu bereit wäre. Natürlich loderte das Feuer immer in ihm, es wurde entfacht, sobald jemand es wagte, Henry die Stirn zu bieten.
Nur diesmal war es nicht so. Ob das mit den Änderungen zusammenhing, die Carsten an der Geschichte gezwungenermaßen hatte vornehmen müssen? Hatte das auch Auswirkungen auf Henry selbst gehabt? Das wusste er nicht. Naheliegend war für Carsten, dass es an dem Wasser gelegen hatte, das Carsten auf Henry verschüttet hatte. Es schien, als habe Henry Angst. Aber war das denn wirklich so? Henry hatte Angst? Angst vor Carsten? Das war nicht möglich, wenn man betrachtete, in welchem Verhältnis die beiden zueinander standen. Was die physische Kraft anging, war Henry Carsten eindeutig überlegen. Doch Carsten hatte einen entscheidenden Vorteil. Henry hatte zwar seine Fäuste, aber Carsten hatte einen Stift und Papier. Und somit deutlich mehr Macht über seine Romanfigur als die über ihn.
Henrys Augen funkelten. Das sah so aus, als wenn man mit einem weißen Korrekturstift auf jedes dunkelblaue Auge von Henry einen kleinen weißen Punkt gemalt hätte.
"Okay, dann bring mir etwas, das ich anziehen könnte", entgegnete er kühl.
Carsten drehte sich um und wollte schon die erste Treppenstufe in Richtung Obergeschoss betreten, da spürte er ein leichtes Gewicht auf seiner Schulter. Hinter ihm räusperte sich Henry. Er hatte ihm die Hand auf die Schulter gelegt und hielt ihn zurück. Für Papier war der Griff ganz schön fest.
"Ich komme mit", sagte Henry mit leiser, aber fester Stimme.
Carsten drehte sich nicht um, sondern nickte nur und spürte, wie die Hand seine Schulter losließ. Sie gingen zusammen hoch. Ausgerechnet ins Schlafzimmer, denn dort stand natürlich Carstens Kleiderschrank. Und Lisa. Dort schlief noch Lisa.
Leise öffnete Carsten die Tür und schaute zum Doppelbett, das rechts von der Tür stand. Lisa war nicht dort. Erschrocken fuhr Carsten herum und schaute mit unverhohlenem Entsetzen in Henrys Papiergesicht.
"Wo ist sie?", raunte er. Henry zuckte mit den Schultern.
"Woher soll ich das wissen? Ich bin kein Zauberer. Ich hab sie nicht verschwinden lassen."
Es klang ehrlich. Der angesäuerte Klang in seiner Stimme war echt. Aber irgendwie wollte Carsten es ihm trotzdem nicht so recht glauben. Einerseits fragte er sich ja auch selbst, wie Henry Lisa hätte verschwinden lassen können. Aber andererseits, ja, andererseits traute er Henry nicht. Kein bisschen.
Außerdem schien in dieser Nacht alles möglich zu sein. Carsten wurde von seiner Romanfigur besucht. Oder viel eher heimgesucht. Wenn das ging, dann war theoretisch alles möglich. Wahrscheinlich tanzte als nächstes noch ein lilafarbenes Nilpferd durch das Schlafzimmer ...
Carsten suchte alles ab; er schaute hinter der Tür, schaute sogar im Kleiderschrank, aber Lisa war nicht da. Auch im Badezimmer, das sich direkt gegenüber des Schlafzimmers befand, war das Licht aus und niemand war darin. Entmutigt setzte sich Carsten auf den Rand des Bettes. Henry war direkt vor ihm stehen geblieben und schaute ihn von oben her argwöhnisch an.
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