Kapitel 9: Ungebetener Besuch
Nach dieser Nacht bin ich nicht bereit, mich wieder dem Alltag zu stellen. Deshalb bleibe ich heute zu Hause. Ich will nicht durch die mitleidigen Blicke meiner Mitschüler an meinen Traum erinnert werden. Ich kann ihn auch so schon nicht vergessen, so gerne ich das auch tun würde. Da brauche ich nicht noch mehr Anspannung.
Als meine Mutter also in mein Zimmer kommt, um mich zu wecken, will ich ihr sagen, dass ich heute nicht zur Schule kann. Ich will mir gerade schon irgendeine halbwegs plausibel klingende Geschichte über eine Krankheit oder so ausdenken, da unterbricht mich meine Mutter, ohne dass ich etwas gesagt habe.
»Vielleicht solltest du heute daheimbleiben. Dich gestern in die Schule gehen zu lassen, war wohl doch etwas überstürzt. Dein Vater und ich haben gedacht, dass es vielleicht eine Ablenkung sein könnte. Doch vielleicht sollten wir dich zuerst mit jemandem reden lassen, der dir helfen kann. Der Alltag kann bis dahin warten.«
Ich nicke nur langsam. Wie hat meine Mutter mich nur so schnell durchschauen können? Vermutlich kann man mir ansehen, wie schlecht es mir gerade geht. Ich habe nur keinen Spiegel in meinem Zimmer, um das selbst überprüfen zu können. Die habe ich alle abgehängt, weil ich es kaum ertrage, mich selbst anzusehen.
Es herrscht Schweigen. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Es ist ein seltsames Gefühl zu wissen, dass meine Eltern mich doch besser kennen, als ich gedacht hätte. Oder als mein Traum mir hat weismachen wollen. Meine Mutter weiß, wie es mir geht. Und sie will mir helfen. Ich könnte mich nicht mehr geliebt fühlen als ich diesem Moment. Gleichzeitig fühlt es sich aber an, als würde ich diese Hilfe nicht verdienen. Als müsste ich meine Probleme doch allein bewältigen. Obwohl mir Menschen von sich aus ihre Hilfe anbieten. Ich kann sie nicht annehmen. Noch nicht.
»Ich glaube, mir reicht einfach eine kleine Auszeit«, erwidere ich langsam und nach viel zu langer Zeit. »Morgen kann ich bestimmt auch wieder in die Schule. Ich will mich nur noch etwas sammeln. Gestern war alles etwas viel auf einmal. Aber morgen werde ich darauf vorbereitet sein. Ich kann dann auch mal mit einem meiner Lehrer sprechen, ob sie vielleicht eine Idee haben, was ich machen könnte, damit es mir besser geht.«
Meine Mutter gibt sich mit dieser Antwort zufrieden. Vermutlich ist sie einfach froh, dass ich ihr keine Vorwürfe mache. Selbst macht sie sich vermutlich schon genug davon. Da kann ich noch so oft sagen, dass ich ganz allein die Schuld an dem trage, was ich fast getan hätte. Niemand wird mir glauben. Vielleicht nach außen hin, um mich ruhig zu stellen, aber tief im Innern werden sich alle um mich herum fragen, warum sie nicht eher die Warnzeichen gesehen haben.
Doch wie soll man etwas sehen, was nie da gewesen ist? Ich habe immerhin selbst nicht gewusst, wie schlecht es mir geht. Bis zu diesem Moment, in dem ich fast alles beendet hätte. Woher sollte ich es auch wissen, wenn ich lieber meine Zeit damit verbringe, das Chaos zu unterdrücken, anstatt mich ihm zu stellen?
Meine Mutter will schon wieder den Raum verlassen, da fällt mir noch etwas ein, was ich viel öfter sagen sollte.
»Mum?«, frage ich etwas zittrig.
Sofort habe ich wieder die ungeteilte Aufmerksamkeit meines Gegenübers. Mir wird stumm die Frage gestellt, was mich jetzt noch bedrückt. Sehe ich wirklich so erbärmlich aus, dass meine Mutter mich behandeln muss, als wäre ich sterbenskrank?
»Ich hab dich lieb. Dad auch, aber er ist vermutlich schon zur Arbeit gegangen. Ich sage ihm das heute Abend. Es tut mir leid, dass ich nicht nachgedacht habe. Ich wollte euch nie wehtun. Aber ich glaube, in solchen Momenten ist der Kopf irgendwie aus. Und wenn man denken kann, steigert man sich so in seine Traurigkeit hinein, dass man denkt, alle wollen, dass man stirbt. Dabei will man das nur selbst und redet sich ein, dass es für alle anderen auch in Ordnung ist. Damit man sich nicht so schuldig fühlt. Aber das ist alles eine Lüge. Bitte verzeiht mir. Es tut mir leid, dass ich vergessen habe, dass es noch Menschen gibt, die mich lieben. Und das nur, weil ich mich selbst so sehr hasse.«
Meine Mutter antwortet nicht direkt darauf. Sie scheint einen Moment zu brauchen, um das, was ich gesagt habe, zu verarbeitet. Oder dass ich überhaupt etwas gesagt habe. Es ist schon eine ganze Weile her, dass ich so viel gesprochen habe. Aber ich will nicht mehr schweigen. Sonst wird mein Leben nur noch leerer als ohnehin schon.
»Es ist in Ordnung«, meint meine Mutter leise. »Wir haben dir schon lange vergeben, Taissa. Dein Vater und ich können nur nicht vergessen, dass uns fast unsere einzige Tochter genommen wurde. Auch wir werden Zeit brauchen, um darüber hinwegzukommen, was fast geschehen wäre. Ich hoffe einfach, dass du von jetzt an ehrlich zu uns bist. Damit es nie wieder so weit kommt. Wenn wir uns alle gesammelt haben, sollten wir uns einmal alle zusammensetzen und über das reden, was gerade noch zwischen uns steht. Ich weiß, es ist schwer für dich, dass wir ständig umziehen und nirgendwo wirklich zuhause sind. Doch daran sollte unsere Familie nicht zerbrechen müssen. Nun ruh dich aber erst einmal aus. Du scheinst in der letzten Nacht nicht allzu viel Schlaf bekommen zu haben. Hol den am besten nach. Und iss dann etwas. Gib auf dich acht und hab einen schönen Tag. Bis heute Abend.«
Mit diesen Worten verlässt meine Mutter den Raum und hinterlässt eine Leere, die mich für einen Moment zu erdrücken droht. Dann stehe ich auf, bringe meine morgendliche Routine hinter mich und frage mich, was ich heute eigentlich tun soll. Dabei fällt mein Blick für einen kurzen Moment auf die Staffelei samt Leinwand, die mir im Prinzip den Rücken zuwendet. Plötzlich wird mir kalt. Hoffentlich hat meine Mutter keinen Blick auf dieses Bild geworfen. Nicht einmal ich habe es gesehen, da soll es auch kein anderer tun.
Ich bin noch immer nicht bereit, es anzusehen. Und es ist mir unangenehm, dass ich gerade viel zu sehr in Versuchung komme, die Staffelei zu mir herumzudrehen und zu schauen, was ich mitten in der Nacht bei halbem Bewusstsein produziert habe. Die Neugier ist zu groß. Trotzdem überwiegt die Angst. Ich kann mir das Bild nicht ansehen. Dafür bin ich nach dieser Nacht noch nicht bereit.
Deshalb verlasse ich kurz meinen Raum, hole ein großes Handtuch aus dem Badezimmerschrank und werfe es über die Staffelei. Für einen Moment frage ich mich noch, ob ich damit das Tuch ruiniert habe. Aber nein, die Farbe sollte mittlerweile getrocknet sein. Damit kann ich das Bild auch erfolgreich aus meinen Gedanken verdrängen und mich dem zuwenden, mit was ich mich heute von meinem persönlichen Chaos ablenken werde.
Am Ende habe ich mich dafür entschieden, etwas Musik zu hören, dabei vor mich hin zu kritzeln und dann, als mir das zu langweilig geworden ist, ein paar Filme von meiner endlos langen Watchlist abzuarbeiten. So gehen die Stunden ins Land. Das Chaos in meinem Kopf ist heute etwas leiser als sonst. Vermutlich, weil ich mich endlich erfolgreich ablenken kann. In der Schule wäre das niemals möglich gewesen. Zumindest nicht, wenn ich mich nicht noch mehr als Freak outen möchte.
Ich kann nicht einmal sagen, welchen Film ich pausieren muss, als mich der dumpfe Klang der Türklingel aus meinem Halbschlaf reißt. Heute ist ein seltsamer Tag. Ich kann kaum wach bleiben, obwohl ich doch eigentlich in der letzten Nacht genug Schlaf bekommen habe. Meine Gedanken sind so leise, dass ich sie kaum hören kann. Genauso brauche ich auch eine Weile, um zu begreifen, dass es gerade an der Tür geklingelt hat.
Wie in Zeitlupe strample ich meine Decke weg und stehe vom Bett auf. Ich bin mir kaum bewusst, dass ich mich bewege, bis ich endlich direkt vor der Haustür stehe. Was ist nur heute los? Ich fühle mich krank und elend, ohne dass es einen bestimmten Grund dafür gibt. Es ist wohl eine gute Entscheidung gewesen, daheimzubleiben.
Vermutlich steht da wieder ein Postbote vor der Tür. Es würde erklären, warum es jetzt schon zum dritten Mal klingelt. So ungeduldig ist sonst nur der Paketbote. Vermutlich hat meine Mutter mal wieder etwas bestellt, was am Ende nur in der Ecke rumstehen und Staub fangen wird. Das macht sie ständig. Ich würde es fast als so etwas wie eine Kaufsucht bezeichnen, auch wenn meine Mutter alles abstreitet, wenn man sie darauf anspricht.
Manchmal frage ich mich, woher sie das ganze Geld nimmt, um diesen nutzlosen Kram zu kaufen. Vermutlich will ich es gar nicht so genau wissen. Wir sind eine durchschnittliche amerikanische Familie, was den Verdienst meiner Eltern angeht. Da will ich mir gar nicht vorstellen, was für einen Schuldenberg meine Eltern vor mir verbergen, um mich nicht zu beunruhigen.
Doch vor mir steht kein Postbote, als ich endlich die Tür öffne. Stattdessen sehe ich mich Evan gegenüber. Er ist klatschnass vom Regen, der immer noch auf ihn niederprasselt und für einen Moment tut es mir fast leid, dass ich heute nicht in der Schule gewesen bin. Dann frage ich mich, was ich da überhaupt denke. Was kann ich denn dafür, dass es heute regnet?
»Was willst du hier?«, frage ich etwas benommen.
Der Junge mir gegenüber blinzelt kurz etwas überrascht, ehe er sich fängt und mich wieder direkt anschaut. »Du warst heute nicht in der Schule und da wollte ich dir das vorbeibringen, was wir heute gemacht haben. Damit du nichts verpasst.«
Ich nicke langsam. »Aber warum?«
»Habe ich doch schon gesagt«, erwidert Evan nun wieder etwas irritiert.
»Nein, ich meine, warum bist gerade du hergekommen?«
Mein Gegenüber wirkt gekränkt. »Hast du denn etwa jemand anderen erwartet?«
Nur langsam begreifend, dass wir hier gerade ein doch sehr inhaltsloses Gespräch führen, während Evan immer noch buchstäblich im Regen steht, schüttle ich mit dem Kopf. »Nein. Das hat nur noch nie jemand für mich getan. Da dachte ich nicht, dass es ein Junge machen wird, den ich gestern kennengelernt habe.«
Evan ringt sich ein kleines Lächeln ab, als würde er mir so zeigen wollen, dass er nun mein Misstrauen versteht. »Ich habe schon lange nicht mehr mit jemandem so gut reden können wie mit dir. Und seitdem habe ich das Gefühl, irgendwie für dich verantwortlich zu sein. Du weißt schon. Freakallianz und so.«
Das beruhigt mich nicht allzu sehr. Plötzlich fühle ich mich wieder so hilflos und klein, dass es mir Schmerzen bereitet. Ich brauche niemanden, der sich um mich kümmert. Ich kann das allein machen. Warum kann ich nicht einmal in Ruhe gelassen werden?
»In Ordnung«, antworte ich leise. »Dann gib mir einfach die Aufgaben und geh nach Hause. Sonst erkältest du dich noch bei dem Wetter.«
Doch anstatt dem nachzukommen, rührt Evan sich nicht von der Stelle. Er schüttelt nur mit dem Kopf. »Ich glaube, ich sollte dir einiges erklären, damit du morgen wieder mitmachen kannst. Mir wäre es also lieber, wenn ich so lange reinkommen könnte. Dann könnte ich auch warten, bis der Regen aufhört. Um eben keine Erkältung zu kriegen.«
Jedes Wort meines Gegenübers macht mich nur noch misstrauischer. Doch ich lasse mir nichts anmerken. Immerhin habe ich mir vorgenommen, mich anderen anzuvertrauen. Zumindest so ein bisschen. Und da scheint dieser ungebetene Besuch ein Zeichen zu sein, dass ich dieses Versprechen einhalten sollte. Auch wenn ich mich noch nicht bereit dafür fühle und lieber selbst entscheiden würde, wann und wie ich an mir selbst arbeite.
Deshalb versuche ich nun, Evan abzuwimmeln. »Ich denke, ich schaffe das schon allein. Außerdem bin ich mir nicht sicher, ob meine Eltern es nicht seltsam finden, wenn ich einen fremden Jungen ins Haus lasse, während ich allein bin. Zusammen zu lernen klingt immer nach einer echt lahmen Ausrede, weißt du? Auch wenn es in unserem Falle die Wahrheit wäre. Und ich glaube, noch nasser kannst du nicht werden. Also würde es keinen Unterschied machen, ob du jetzt ins Trockene kommst, oder etwas später, wenn du zu Hause bist. Du musst also nicht denken, dass du etwas für mich tun musst. Ich komme schon klar.«
Evan schüttelt daraufhin wieder mit dem Kopf. »Ich bestehe darauf, dir bei den Hausaufgaben zu helfen. Außerdem ist es doch gut, wenn deine Eltern gerade nicht da sind. Dann müssen wir niemandem etwas erklären. Außerdem bin ich bestimmt schon weg, wenn sie von der Arbeit kommen. Ich habe immerhin nicht vor, bei dir zu übernachten. Also komm schon. Lass mich rein.«
Mit einem etwas entnervten Seufzer nicke ich schließlich und trete zur Seite. Es hat keinen Sinn, gegen diesen Jungen argumentieren zu wollen. Er scheint sehr stur zu sein. Und ich habe nicht die Kraft, mich gegen diese Sturheit zu stellen.
Evan tritt zufrieden ein, streift seine durchnässte Jacke ab und schaut mich fragend an. Stumm nehme ich das dunkle Kleidungsstück an mich, ekle mich kurz vor der Kälte und Nässe und hänge es dann im Gästebad nebenan auf.
Dann bedeute ich dem Jungen, mir zu folgen und führe ihn etwas widerwillig in mein Zimmer. Ich bin froh, dass ich meine Schandtat der letzten Nacht am Morgen verhüllt habe. Ich könnte es erst recht nicht ertragen, wenn jemand wie Evan einen Einblick in das bekommt, was in mir vorgeht. Deshalb tue ich nun auch so, als wäre das Bild gar nicht da. In der Hoffnung, Evan wäre so auf mich fixiert, dass er die verhüllte Staffelei in der Ecke nicht bemerken würde. Zumindest lässt er sich nichts anmerken. Er schaut sich nur kurz in meinem Zimmer um und wirft mir dann einen abwartenden Blick zu.
Ich zeige dem Jungen mit einer einzelnen Handbewegung, sich auf mein Bett zu setzen, was er jedoch mit einem Kopfschütteln verneint. Stattdessen setzt er sich vor dieses, stellt seinen ebenfalls vollkommen durchweichten Rucksack vor sich ab und öffnet diesen. Zum Vorschein kommt schließlich ein recht dünner Stapel an Blättern, den Evan mithilfe einer Mappe vor dem Regen geschützt hat. Diesen Stapel ordnet der Junge nun noch einmal, ehe er sich umdreht, die Blätter vor sich aufs Bett legt und daneben seine eigenen Aufzeichnungen des Tages legte.
»Dann lass uns anfangen«, leitet Evan seinen Unterricht ein.
Mit einem erneuten Seufzen setze ich mich zu ihm auf den Boden und sehne mich schon im ersten Moment nach meinem Schreibtischstuhl. Es wäre alles so viel einfacher, wenn ich allein sein könnte. Doch diese Misere habe ich mir nun selbst eingebrockt. Weil Evan kein Nein zugelassen hat.
»Was hast du da eigentlich versteckt?«, fragt Evan direkt nachdem wir mit allen Aufgaben fertig geworden sind.
Ich muss zugeben, dass er ein guter Lehrer ist. Er ist ruhig und gibt mir nicht das Gefühl, dumm zu sein, wenn ich etwas nicht auf Anhieb verstehe. Vermutlich sollte ich ihm das sagen. Um mich bei diesem Jungen zu bedanken, dass er sich so viel Zeit für mich genommen hat. Draußen ist es bereits dunkel. Die Zeit ist wie im Flug vergangen und ich habe nicht einmal daran gedacht, dass ich jetzt etwas anderes tun könnte. Evan ist eine gute Ablenkung. Ich fühle mich wohl in seiner Gegenwart, weil ich glaube, dass er mich nicht verurteilt. Und wenn er es tut, merke ich nicht viel davon. Weil Evan weiß, wie man Geheimnisse bewahrt.
Doch ich verkneife mir dieses Kompliment, als er diese Frage stellt.
»Ist etwas Persönliches«, antworte ich einfach nur. Mich überrascht selbst, wie kalt ich klinge. Da kann ich gut verstehen, dass Evan kurz zusammenzuckt.
»In Ordnung, dann eben nicht.«
Er klingt verletzt. Deshalb habe ich das Gefühl, mich erklären zu müssen. Auch wenn ich eigentlich das Recht dazu habe, fremden Leuten den Einblick in mein Unterbewusstsein zu verweigern.
»Ich weiß selbst nicht, was genau es ist«, beginne ich deshalb leise. Als meine Stimme zu sehr bröckelt, räuspere ich mich kurz, um sie halbwegs zu festigen. »Deshalb will ich allein sein, wenn ich das Bild das erste Mal sehe, verstehst du? Weil ich Angst vor dem habe, was ich da sehen werde. Und vor der Reaktion von anderen, wenn sie diesen ungewissen Moment mit mir teilen. Ich bin dann nicht vorbereitet und habe keine Kontrolle darüber, was ich dieser Person von mir zeige. Da müsste ich dir schon sehr vertrauen, um dich das sehen zu lassen. Tut mir leid.«
Evan winkt ab. »Du musst dich nicht rechtfertigen. Ist schon in Ordnung, wirklich. Ich dachte einfach, ich könnte vielleicht versuchen, Gefallen an Bildern zu finden, wenn mir eines von einer Person ansehe, die ich kenne. Bei den meisten Bildern fühle ich nichts. Vielleicht, weil die Farbe fehlt. Oder weil ich eben keine Ahnung von der Person habe, die hinter dieser Kunst steckt. Aber ich verstehe auch, dass so ein Bild etwas ziemlich Persönliches ist. Wäre nur schön, wenn du mir irgendwann so vertrauen könntest, dass du mir solche Dinge zeigen kannst.«
Ich denke nicht sofort darüber nach, was Evan da eigentlich gerade sagt. Er scheint mich zu mögen. Auf seine eigene, etwas zynische und unsichere Art. Vielleicht ist er doch kein Fremder mehr. Aber was dieser Junge genau ist, kann ich nicht sagen. Wie auch, wenn ich mich kaum daran erinnern kann, wie es ist, Freunde zu haben?
»Für das Vertrauen will ich dann etwas im Gegenzug«, antworte ich recht schnell. »Wenn du dich auf meine Bilder einlassen willst, sollte ich versuchen, Gefallen an deiner Schreiberei zu finden. Ich habe bei unserem ersten Treffen gesehen, dass du in dein Notizbuch geschrieben hast. Wenn du mir irgendwann eine deiner Geschichten zeigen könntest, wäre das vermutlich ein fairer Deal.«
Evan nickt langsam. »Irgendwann werde ich dir etwas Persönliches zeigen, um dich von mir überzeugen zu können.«
Mit diesen Worten steht Evan auf, schultert seinen Rucksack und geht einfach. Er verabschiedet sich nicht von mir, sondern zeigt mir wenige Momente später durch das dumpfe Zufallen der Tür, dass ich wieder allein bin. Die Harmonie von vorhin ist nun verflogen. Es fühlt sich an, als hätte ich einen Fehler gemacht.
Doch ich will mich nicht weiter mit diesem Gefühl beschäftigen. Stattdessen räume ich den Schulkram in meinen Rucksack und schnappe mir wieder meinen Laptop, um den Film weiterzuschauen, den ich wegen des ungebetenen Besuchs habe unterbrechen müssen.
Ich beruhige mich damit, dass es vielleicht Evans Art ist, so plötzlich zu verschwinden. Immerhin hat er mir genau das vorher versprochen. Deshalb versuche ich jetzt einfach so zu tun, als wäre dieser Junge niemals hier gewesen. Und als hätte ich ihm nicht ein Versprechen gegeben, das ich vermutlich auch nicht würde einhalten können.
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