Kapitel 6: Schuld und Sühne
»Alles in Ordnung mit dir, Taissa?«, werde ich von Amber, einem eher rundlichen Mädchen mit rotbraunen Haaren, gefragt. Die Geschichtsstunde ist endlich vorbei und ich bin gerade erst zur Tür hinaus.
Ich bin etwas perplex darüber, dass sie mich das fragt, wo wir in der Zeit, in der ich schon auf diese Schule gehe, vielleicht insgesamt vier Sätze miteinander ausgetauscht haben. Nicht, dass Amber eine unangenehme Person wäre und ich ihr deshalb aus dem Weg gehen würde. Das Mädchen ist, ganz im Gegenteil, ein absoluter Sonnenschein, unglaublich freundlich zu jedem und einfach jemand, der die Stimmung im Raum allein durch seine bloße Anwesenheit aufhellt. Das ist ja auch der Grund, warum ich Amber über die letzten Monate hinweg so erfolgreich aus dem Weg gegangen bin: Sie ist einfach zu nett. Wären wir Freunde, müsste ich ihr kleines, bestimmt noch echt unschuldiges Herzchen irgendwann brechen. Denn Kontakt mit Freunden aus vergangenen Leben halte ich nie. Man lebt sich einfach irgendwann auseinander, wie ich vor allem bei meinen Kindheitsfreunden festgestellt habe. Das soll mir nicht noch mal passieren.
So kann ich dieses mir fremde Mädchen nur verwundert ansehen und nicken. Wie kommt sie darauf, dass es mir nicht gut gehen könnte? Bis darauf, dass ich soeben als Verrückte entlarvt worden bin und mich nun wie ein in die Ecke gedrängtes Tier fühle, geht es mir bestens. Doch vermutlich ist auch genau das der Grund, warum sich mein Gegenüber nach meinem Wohlergehen erkundigt. Amber muss mich für komplett durchgedreht halten, so wie auch der Rest dieser Schule es tun wird, wenn sich die Nachricht von Evans Erscheinen hier erst mal rumgesprochen hat.
»Okay gut. Aber wenn was ist, kannst du mit mir reden, weißt du? Ich bin froh, dass du noch hier bist. Ehrlich, wir kennen uns zwar nicht sonderlich gut, aber ich bin trotzdem gern für dich da. Denn ich wette, dass es Menschen gibt, denen du echt wichtig bist und die dich sehr vermissen würden, wenn du einfach so weg wärst. Also bitte, sprich darüber, was dich belastet. Dann wird es besser. Versprochen.«
Ich könnte schwören, dass über Ambers zuvor so hell leuchtendes Lächeln ein dunkler Schatten huscht, ehe sie wieder wie eh und je aussieht.
Irgendwas an ihren Worten beunruhigt mich zutiefst. »Sicher, dass bei dir auch alles okay ist?«, frage ich deshalb, worauf der dunkle Schatten auf Ambers Gesicht zurückkehrt und mir wirklich Sorgen bereitet.
Kurz ist mein Gegenüber vollkommen perplex, dass ich ihr geantwortet habe – ein echtes Gespräch habe ich in den Monaten hier noch nie mit einem meiner Mitschüler geführt, weil mich das Sprechen so anwidert, dass ich es fast verlernt habe.
»Ich will einfach nicht mehr tatenlos danebenstehen müssen, wenn es Menschen so schlecht geht, dass sie sich selbst wehtun oder sogar auslöschen. Das hat mir schon bei meinem Vater gereicht, mehr Leute sollen nicht so enden. Nicht, wenn ich zumindest versuchen kann, es zu verhindern.«
Tränen blitzen in den Augen des Mädchens auf, ehe es sich einfach von mir abwendet und sich zum Gehen wendet. Amber tut mir leid. Dass ich jemanden außer meiner Eltern mit meiner dummen Aktion treffen könnte, hätte ich nicht gedacht, wenn ich ehrlich bin. Doch jetzt ist es passiert. Und ich schäme mich dafür, dass ich nicht daran gedacht habe. Ich bin immerhin nicht die erste Person auf diesem Planeten, die sich hat selbst umbringen wollen. Wie habe ich nur so ignorant sein können?
Ich lege Amber fast schon reflexartig eine Hand auf die Schulter, womit sie sich wieder mir zuwendet und dabei wirkt, als hätte sie eher noch damit gerechnet, dass ich über sie lachen würde. Halten mich meine Mitschüler wirklich für so herzlos? Nur weil mich das Chaos in meinem Kopf bereits verschlungen hat, bin ich noch lange kein Monster, das noch auf den Schwachstellen von anderen herumtrampelt, wenn es diese erst mal erkannt hat.
»Es tut mir so leid«, ist alles, was mir dazu einfällt, so hilflos fühle ich mich in diesem seltsam vertraulichen und doch unangenehmen Moment. Wir sind Fremde, aber gleichzeitig meine ich plötzlich eine Verbindung zwischen diesem Mädchen und mir zu sehen. Weil es plötzlich nicht mehr nur nett für mich ist. Da steckt mehr in meinem Gegenüber. Erst jetzt sehe ich einen Menschen vor mir, nicht nur ein Trugbild, dem ich über die letzten Monate aus dem Weg habe gehen wollen.
Amber winkt traurig lächelnd ab. »Schon okay. Du konntest es nicht wissen. Immerhin weiß niemand außer dir davon. Ich will nicht als das Mädchen bemitleidet werden, dessen Vater sich einfach so umgebracht hat, als es klein war und wo bis heute niemand genau weiß, wieso er das getan hat. Da versuche ich lieber wiedergutzumachen, was ich damals versäumt habe zu tun. Klingt dämlich, ich weiß. Die Vergangenheit kann man nicht ändern.«
Ich ringe mir ein kleines Lächeln ab, um meine Gesprächspartnerin nicht noch zum Weinen zu bringen, wenn sie weiter von dem redet, was ihr so schwer auf der Seele gelastet haben muss. In diesem Moment könnte ich mich Amber nicht verbundener fühlen. Wir sind uns so ähnlich. Und genau das ist, was mir so Angst macht und was ich von Anfang an befürchtet habe.
»Aber die Zukunft, wenn man aus der Vergangenheit lernt. Also keine Sorge. Eine dumme Entscheidung wie diese vor ein paar Tagen reicht mir, um das nicht noch mal zu machen. Konzentriere dich lieber auf Leute, die echte Probleme haben und nicht nur voreilig handeln, wie ich es getan habe. Tut mir leid, aber in mir findest du keine Wiedergutmachung. Ich denke nicht mal, dass du dich so auf die Probleme von anderen fixieren musst, wenn das keiner verlangt. Und das tut keiner, erst recht nicht dein Vater. Denn an seinem Tod bist du nicht schuld. Das ist nur er. Wir sind alle für uns selbst verantwortlich. Deswegen solltest du auch erst mal zusehen, dass du deine eigenen Probleme in den Griff bekommst, ehe du dich um die von deinen Mitmenschen kümmern kannst. Ist gesünder, denke ich.«
Dem Gesichtsausdruck meines Gegenübers nach zu urteilen, hätte ich ihr auch einfach ins Gesicht schlagen können. Hätte wohl denselben Effekt erzielt. Doch so ist es besser für alle Beteiligten. Hätte ich mich mit ihr angefreundet, wären wir nur beide irgendwann verletzt worden. Außerdem denke ich, dass Amber tief in ihrem Inneren weiß, dass ich recht habe. Egal, wie viele Vorwürfe sie sich für das macht, was damals passiert ist, man kann sich nicht einfach selbst vergessen, nur um anderen zu helfen. Denn das wird nicht lösen, was Amber hinter all dieser zuckersüßen Freundlichkeit zu verstecken versucht. Wir alle müssen unser Päckchen tragen und können es nicht einfach bei anderen abstellen, in der Hoffnung, dass es dann von allein verschwindet.
Ich zucke zusammen, als ich wieder spüre, dass mich jemand so unverhohlen anstarrt, dass mir beinahe ein Loch ins Fleisch gebrannt wird. Ich weiß genau, wer da hinter mir steht und mich vermutlich schon die ganze Zeit über beobachtet. Sofort flammt wieder diese eiskalte Wut in meinem Inneren auf, die mich zu diesen Jemand fast schon magisch hinzieht.
Somit nehme ich die Hand von Ambers Schulter und höre auf zu lächeln, was in dieser plötzlich so angespannten Situation auch mehr als deplatziert ist, wie mir schon im nächsten Moment auffällt. »Ich sollte dann wohl gehen, bevor dich noch mehr Leute zusammen mit dem wohl größten Freak der Schule sehen. Würde nur deinen Ruf ruinieren. Bis dann.«
Damit wende ich mich von der noch immer sprachlosen Amber ab, die so verletzt aussieht, dass sie mir noch mehr leidtut als zuvor. Aber es ist besser, wenn ich sie jetzt von mir fernhalte, als wenn ich ihr später das Herz breche, wenn wir uns bereits angefreundet haben, so ähnlich wie wir uns sind. Ich frage mich nur, ob ich wirklich der größte Freak hier bin. Wenn schon Amber nicht so perfekt ist wie sicher viele meinen, haben bestimmt auch noch andere hier Leichen im Keller, für die sie sich schämen, weshalb sie sie lieber unter alltagstauglichen Fassaden verstecken. Könnte man doch nur Mäuschen in den Leben mancher hier spielen. Vielleicht würde ich mir dann nicht so sehr wie ein Sonderling unter perfekten Söhnen und Töchtern vorkommen. Denn jeder hat doch seine schmutzigen Geheimnisse, selbst wenn es sich dabei nur um Pornohefte unter der Matratze handelt.
Diese Gedanken wische ich jedoch beiseite und stapfe geradewegs auf Evan zu, der mich weiterhin mit diesem unergründlichen Blick ansieht, der mir einen kalten Schauder den Rücken hinunterlaufen lässt. Seine Augen wirken leer, als würde dieser Junge nichts sehen können, doch gleichzeitig so voller Leben, dass es mir beinahe schon Angst einjagt. Ich werde einfach nicht schlau aus Evan. Und dennoch bin ich weiterhin wütend auf ihn, egal wie sehr sein Blick mich in diesem Moment fasziniert.
»Bist du dann fertig?«, frage ich ihn deshalb angepisst.
Evan zieht nur eine Augenbraue in die Höhe und grinst mich an, als wäre ihm vollkommen egal, wie kurz ich doch gerade vorm Explodieren stehe. »Ja, ich wäre bereit für die Führung. Wie sieht's mit dir aus?«
Dieser Junge ist wirklich unglaublich!
»Warum hast du uns belauscht? Wirst du jetzt zum Stalker, edler Lebensretter?«
Am liebsten würde ich dem Jungen einfach ins Gesicht schlagen. Ich weiß nicht mal genau, warum ich so wütend auf ihn bin. Dieser Zorn ist einfach da und bringt mich fast um den Verstand. Wenigstens fühle ich mich in diesem seltsamen Moment fast schon lebendig. Zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit.
Evan zuckt nur mit den Schultern. »Irgendeine Ausrede brauchte ich doch, um nicht von der halben Schule mit dämlichen Fragen gelöchert zu werden. Da war es ganz nett zu sehen, dass es dir genauso auf die Nerven geht wie mir. Also, wie läuft das jetzt? Willst du mich weiter mit deinen wütenden Blicken in Grund und Boden starren oder warten wir einfach die Pause ab und tun so, als hättest du das getan, was Miss Blondiert dir aufgetragen hat?«
Die Worte bleiben mir im Halse stecken, so sehr bin ich irritiert von dieser komisch warmen Kälte, die mein Gegenüber da an den Tag legt. Was ist nur los mit diesem Jungen? Oder mit mir, dass meine Wut plötzlich verraucht, obwohl ich sonst Tage brauche, um kein Vulkan kurz vor dem Ausbruch mehr zu sein?
Nach einigen Momenten des Schweigens zuckt Evan mit den Schultern und legt dann ein kleines Lächeln auf, das viel ehrlicher wirkt als die zuvor. Es steht ihm auf jeden Fall besser als dieser todernste Blick, der nicht zu seinen recht feinen und weichen Zügen passt. Was denke ich da? Bin ich nicht gerade noch der festen Überzeugung gewesen, diesen Jungen als Ursprung fast aller meiner derzeitigen Probleme sehen zu können? Aber er ist eben doch nur Evan Leroy – ein ganz gewöhnlicher Kerl, auch wenn der irgendwie eine besondere Art von Charisma zu haben scheint.
»Ich hätte da noch eine andere Idee, was wir tun könnten«, sagt der Braunhaarige in fast schon verschwörerischem Tonfall, der mich sofort aufhorchen lässt.
Was hat er denn jetzt vor? Irgendwas sagt mir, dass dieser Junge wirklich kein guter Umgang für mich ist und dass er mich irgendwann noch in Schwierigkeiten bringen wird.
Meine Annahme bestätigt sich, als Evan auf mein kurzes, fast schon aufforderndes Nicken hin weiterspricht. »Ich denke, wir beide haben uns nach der Situation vorhin echt eine Auszeit verdient. Montags ist doch eh nie was los. Vor allem nicht in einer Dorfschule wie dieser. Also wie wär's, wenn wir uns den Rest des Tages freinehmen und einfach mal tun können, als wären wir ganz normale Teenager, die keinen Bock auf Schule haben?«
Sein Angebot klingt so verlockend. Wenn ich einwilligen würde, müsste ich diese ganzen verurteilenden Blicke meiner Mitschüler und Lehrer nicht mehr ertragen, selbst wenn ich mir diese am Ende vielleicht nur einbilde. Ich wäre frei von diesen Schuldgefühlen, die ich mir selbst einrede, weil ich mir vormache, andere würden durch den Selbstmordversuch schlecht von mir denken. Generell würde ich mich vermutlich an einem anderen Ort als diesem nicht so bedrängt von mir selbst fühlen.
Ich unterdrücke ein Lächeln, als mir bewusst wird, dass Evan mich schon bei unserem zweiten richtigen Aufeinandertreffen stumpf zum Schwänzen überreden will. Als wären wir verliebte Kinder, die denken, dass das Leben erst durch ihre Zweisamkeit lebenswert werden würde, ungeachtet aller Verpflichtungen, die außerhalb ihrer kleinen Blase auf sie warten. Kurz bin ich fast misstrauisch, was Evan im Schilde führt, ehe ich das alles beiseiteschiebe. Dieser Junge hat bestimmt keine bösen Absichten. Vielleicht hat er einfach verstanden, wie sehr mich das alles hier ankotzt. Und wenn es ihm genauso geht, ist es doch nur logisch, dass man dann zusammen aus seinem Gefängnis ausbrechen will, oder?
Für einen kurzen Moment komme ich mir wie ein Verbrecher vor, dass ich auf Evans dämlichen Vorschlag eingehen will. Doch was schadet es, mal etwas Verbotene zu tun? Ich bin viel zu lange schon brav gewesen und wo hat es mich hingebracht? Zu einem Jungen, dem ich vermutlich echt was schuldig bin, weil er mich gerettet hat. Warum also sollte ich mich nicht genau jetzt für seine Heldentat revanchieren und etwas Zeit mit Evan verbringen, wenn das Schicksal uns erneut hat aufeinandertreffen lassen?
»Du brauchst echt lange zum Überlegen, kann das sein? Sag doch einfach Nein, wenn du dich nicht mit mir abgeben willst.«
Über seine Worte kann ich komischerweise nur lachen und dann vehement mit dem Kopf schütteln. »Du hast recht. Lass uns abhauen. Auch wenn es deinem Ruf an deiner Schule echt nur schaden kann, wenn du direkt an deinem ersten Tag schon schwänzt.«
Sofort entspannt Evan sich und dieses kleine Lächeln kehrt auf seine Lippen zurück, nachdem ich mich in den wenigen Sekunden, in denen es nicht da war, fast schon gesehnt habe. Es lässt ihn wirklich freundlicher aussehen. Dann winkt der Junge ab.
»Ach was. Ich will auffallen, also kann ich ja nicht immer nach den Regeln von anderen spielen, oder?«
Mit diesen Worten bedeutet Evan mir, ihm unauffällig zu folgen. Ich tue es, ohne wirklich darüber nachzudenken, was wir hier gerade tun. Ich bin einfach nur glücklich, dass es endlich jemanden auf dieser großen weiten Welt zu geben scheint, der mich versteht. Auch wenn dieser Jemand mich zu Dingen überredet, an die ich vorher noch nicht einmal in meinen kühnsten Träumen gedacht habe.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top