Kapitel 4: Krüppel sind kein Heldenmaterial

»Bist du nicht der Junge, der gestern dieses Mädchen gerettet hat?«, spricht mich eine junge Frau, die ich noch nie zuvor in meinem Leben gesehen habe, auf meinem Heimweg an.

Kurz bin ich versucht, sie einfach anzulügen und weiterzugehen. Ich würde sie somit einfach im Regen stehen lassen. Doch ich lasse es bleiben. Immerhin hat diese Fremde mich von sich aus erkannt – vermutlich anhand eines Fotos, was einer dieser viel zu neugierigen Schnüffeljournalisten veröffentlicht hat, ohne mich zu fragen, ob ich das überhaupt will. Es wird ohnehin keinen Sinn haben, diese fremde Frau abzuwimmeln. Deshalb nicke ich wortlos und lasse dann ihre bewundernden Blicke über mich ergehen.

»Wow, das ist echt mutig von dir gewesen. Was hast du dir in dem Moment gedacht, als du sie da weggezogen hat?«

Das ist wirklich die erste Frage, die diese Tante mir stellt? Warum kann man nicht einfach den Mund halten, wenn man nichts Interessantes zu sagen hat? Trotzdem will ich der Frau auf ihre dumme Frage antworten. Einfach aus Höflichkeit, auch wenn mir das sonst nicht sonderlich liegt. So zucke ich zunächst nur mit den Schultern.

»Keine Ahnung. Wirklich gedacht habe ich in der Sekunde nicht, glaube ich. Zumindest kann ich mich nicht daran erinnern. Mein Körper hat reagiert, bevor mir bewusst geworden ist, was da gerade genau passierte. Wenn mich das zu einem Helden macht, ist es echt leicht, einer zu sein. Und vollkommen überschätzt. Ich war nur zur rechten Zeit am rechten Ort und in der Lage, das Leben eines anderen zu retten. Dazu gehört weder Talent noch irgendeine andere Qualifikation. Das hätte jeder tun können, da bin ich nicht so besonders, wie jetzt alle tun.«

Die Frau schaut mich an, als hätte ich sie soeben auf persönlicher Ebene beleidigt. »Aber es war eben nicht jeder, sondern du. Das Mädchen ist dir sicher echt dankbar, dass du es gerettet hast, Evan. Ebenso wie seine Familie. Nur wegen dir und deiner Heldentat kann sie weiterleben. Ist dir das etwa gar nichts wert?«

Warum diese Fremde mich duzt, ist mir wirklich schleierhaft. In dieser Situation ist mir das sogar etwas unangenehm, auch wenn ich das Siezen sonst hasse. Aber bei einem so seltsamen Gespräch sollte ich mich nicht mit einem so kleinen Detail aufhalten. Diese Fremde tut, als würde sie mich kennen. Das stört mich vermutlich mehr, als es eigentlich sollte. Ich will ihr zeigen, dass sie keine Ahnung hat, wer ich überhaupt bin. Und dass sie kein Recht hat, irgendwie zu denken, dass sie sich etwas über einen Fremden zusammenreimen kann, nur weil der jetzt plötzlich stadtbekannt ist.

Noch auf die Frage der Frau antworten kann, scheint irgendwas im Kopf der Hellhaarigen ‚Klick' zu machen und ein beinahe wissend wirkendes Lächeln ziert plötzlich ihre Lippen. »Du bist ziemlich bescheiden, oder? Schäm dich nicht für das, was du getan hast. Du solltest dich eher dafür feiern lassen. Falsche Bescheidenheit ist auf Dauer ungesund. Ich kenne mich da aus, auch wenn ich nie etwas so Großes wie du gemacht habe.«

Jetzt reicht es mir. Ich kenne diese Person nicht. Sie soll nicht so tun, als wären wir alte Freunde oder so. Das ruft nur wieder in Erinnerung, dass ich all die Jahre ganz allein war. Bis dieser Scheiß mit der U-Bahn passiert ist. Jetzt muss auch niemand mehr ankommen und so tun, als wäre ich etwas Besonderes. Diese Ziege ist doch gar nicht dabei gewesen, als das passiert ist, wofür sie mich hier bewundern will. Vermutlich meint sie es gut mit mir. Trotzdem fühlt es sich für mich falsch an, einen ganzen Menschen in all seinen Einzelheiten auf diese eine Handlung heruntergebrochen zu sehen. Würden diese Frau, die vielen neugierigen Journalisten und alle anderen in dieser beschissenen Stadt mich auch nur im Geringsten kennen, würden sie es gar nicht erst wagen, mich so ins Rampenlicht stellen. Krüppel sind kein Heldenmaterial.

Und hinter diesem Mädchen mit den dunklen Haaren – ihr Name ist Taissa, wenn ich mich recht an die Artikel erinnere, die ich heute früh gelesen habe – steckt sicher auch mehr als eine hübsche Fassade und ihr dummer Selbstmordversuch. Wie wütend mich doch allein der Gedanke daran macht, dass wir verurteilt werden für etwas, was ein reiner Zufall gewesen ist. Als könnte ich was dafür, dass Taissa sich umbringen wollte oder sie etwas dafür, dass ich sie aus dem Gleisbett gezogen habe.

Doch meine unliebsame Gesprächspartnerin schafft es sogar noch, mich ein bisschen mehr anzukotzen.

»Ich bin übrigens Sarah. Und ich finde, dass ein so gut aussehender Typ wie du nicht so bescheiden oder von dieser ganzen negativen Energie umgeben sein sollte. Du konntest ja nichts dafür, dass diese arme Irre sich umbringen wollte. Selbst wenn du sie gerettet hast, um bei ihr landen zu können. Aber mit solchen Menschen sollte man sich gar nicht erst abgeben. Also, wenn du wen willst, mit dem man Spaß haben und sich von den ganzen nervigen Interviews ablenken kann ...«

Die junge Frau kramt kurz in ihrer Handtasche und reicht mir einen kleinen Zettel. »Hier hast du meine Nummer. Ruf mich einfach an, wenn dir das alles zu viel wird und du wen brauchst, der dich wie einen ganz normalen Menschen behandelt.«

Kurz mustere ich die schwarzen Zahlen auf dem viel zu grellen Untergrund, die für mich zu einem konturlosen Mischmasch verschwimmen, je länger ich diese anschaue. Ich spiele sogar für einen Moment mit dem Gedanken, diese Nummer einzustecken. Mir hat es schon immer Spaß gemacht, dumme Leute wie Sarah zu verarschen. Es ist so einfach, die Blase, in denen solche Idioten leben, mit ein bisschen Realismus, der ihnen wie spitze Steine ins Gesicht prasselt, platzen zu lassen. Dieser Schmerz ist alles, was ich andere Menschen fühlen lassen will. Denn so wie sie mich in irgendeine Rolle pressen wollen, die nicht zu mir passt, brauche ich die Gewissheit, dass die anderen verstehen, wie sehr sie mich einschließen und erdrücken. Am liebsten würde ich der gesamten Menschheit ins Gesicht schlagen, aber nach so vielen Ohrfeigen müsste man mir vermutlich die Hand amputieren, so wie die schmerzen würde.

Doch dann schleicht sich ein kleines Lächeln auf mein Gesicht. Ich zerreiße den Zettel mit der Telefonnummer in winzige Schnipsel. Wie Papierschnee fallen diese zu Boden. Der Schock und die Niedergeschlagenheit in den hellen Augen meines Gegenübers bereiten mir beinahe schon Freude. Ich schäme mich für diese sadistische Ader, die immer wieder mal kickt. Aber was soll ich schon groß dagegen machen? Solche Leute haben es verdient, mal wie Dreck behandelt zu werden.

»Sorry, aber ich stehe nicht so auf Frauen, die die fünf Minuten Ruhm von anderen für sich ausnutzen wollen und stumpf alles glauben, was man in den Medien so verbreitet. Ich kenne zwar keine von euch, aber lieber habe ich eine depressive Irre an meiner Seite als eine falsche Schlange, die mich für den nächstbesten Protzproleten verlassen würde.«

Normalerweise hätte ich hier das Gespräch beendet. Doch irgendetwas an Sarahs Gesicht gefällt mir so wenig, dass ich das dringende Bedürfnis habe, doch einmal nachzutreten.

»Kleiner Tipp übrigens: Ich an deiner Stelle würde mir auch den Namen des Mädchens merken, auch wenn du es nur auf den Jungen abgesehen hat. Denn wäre Taissa nicht vor die U-Bahn gesprungen, hättest du mich nie auf der Straße erkennen können. Ich bin für ihren traurigen Ruhm verantwortlich und sie für meinen fast schon heldenhaften. Trotzdem sind wir nichts Besonderes. Dass das Leute wie du nicht verstehen, ist mir schon klar. Aber das gibt euch trotzdem nicht das Recht, uns hinzustellen, als wären wir erst gestern in die Existenz gekackt worden und flach wie die Figuren eines Groschenromans. Das ist einfach menschenunwürdig, Heldentum hin oder her.«

Mit diesen Worten lasse ich die junge Frau stehen, die immer noch dreinschaut wie eine Kuh, wenn es donnert, und setze meinen Heimweg fort. Es ist seltsam mild für einen Mittwintertag und die Sonne blendet mich mit ihrem grellweißen Licht. Ich hätte mir eine Sonnenbrille mitnehmen sollen. Doch damit sehe ich erst recht nichts mehr. Bin ich doch froh, dass zwischen dem Park und meinem zu Hause nur etwa fünfzehn Minuten Fußweg liegen.

Dass mich diese dumme Ziege so lange aufgehalten hat, geht mir im Nachgang noch immer echt auf den Sack. Ich hätte schon längst zuhause sein können. Dann würde ich mich jetzt nicht noch blinder als sonst schon fühlen und hätte nicht ganz so ins Gesicht geklatscht bekommen, wie falsch doch alle von uns zwei Idioten denken. Diese Zeitverschwendung drückt mir wirklich auf die Nerven. Ich sollte wohl nie wieder mit irgendwelchen Fremden reden, die mich aus dem Nichts heraus auf der Straße ansprechen.

Wenigstens ist der Rest des Weges ereignislos wie sonst auch immer verlaufen. Ich muss jedoch zugeben, dass ich genau wegen diesem unangenehmen Gespräch vorhin noch immer etwas paranoid gewesen bin und beim Laufen alle paar Meter einen Blick über meine Schulter geworfen habe, um mich zu versichern, dass mich auch ja kein Journalist oder ein verrückter Fan verfolgt. Ich will keine Interviews mehr geben. Oder irgendwelche Autogramme, oder was man sonst so von Helden verlangen würde. In diesen Minuten bin ich mir wie irgendjemand Wichtiges vorgekommen – so berühmt wie ein Musiker oder Schauspieler, der keinen Schritt in der Öffentlichkeit tun kann, ohne von Fans belagert zu werden. Und zugleich habe ich mein Verhalten selbst lächerlich gefunden, weil ich noch lange nicht so bekannt bin, dass mir so was wirklich passieren kann. Eine Heldentat macht einen längst nicht zum Weltstar, dem der Ruhm schnell mal zu Kopf steigt.

Darauf lege ich es auch gar nicht an. Ich bin froh, wenn die Aufmerksamkeit, die diese gesamte Kleinstadt auf einmal auf mich zu richten scheint, wieder abebbt und ich wieder der gleiche Langweiler wie zuvor auch sein darf. Ich will nichts Besonderes sein. Nicht noch mehr als ohnehin schon. Viel lieber wäre ich wie jeder andere auf diesem Planeten. Warum kann ich nicht einmal einen Tag lang so tun, als wäre ich normal? Immer kommt etwas dazwischen. Als würde mich irgendetwas wieder und wieder daran erinnern wollen, dass ich eben nicht einer unter vielen sein darf. Nein, ich muss herausstechen, obwohl ich mich manchmal am liebsten in einer dunklen Ecke verkriechen und vor der Welt verstecken würde.

Mit einem kleinen Seufzer öffne ich die Haustür, bereits ahnend, dass ich auch hier nicht in Ruhe gelassen werde, so wie ich meine Eltern kenne. Nur wenn etwas Großes passiert, bin ich mal ihrer Aufmerksamkeit würdig und sie lassen alles für mich stehen und liegen. Sonst bin ich in diesem Haus eigentlich ziemlich für mich. Auch wenn ich diese Stille meist nicht lange ertrage und entweder laut Musik anmache oder hinausgehe wie heute.

Wie erwartet höre ich ein leises Räuspern aus dem Esszimmer, das direkt an den Hausflur angrenzt, als ich schon die Treppe hinauf in mein Zimmer schleichen will. Als hätten sie mich auf frischer Tat bei irgendwas ertappt, trotte ich ins Esszimmer, stelle meinen Rucksack noch im Türrahmen ab und verbeuge mich vor meinen Eltern, ehe ich mich zu ihnen setze.

So läuft das immer. Meine Mutter besteht darauf, dass ich meine koreanischen Wurzeln ehre und diese steifen und mitunter echt lächerlichen Rituale und Umgangsformen einhalte. Meine Eltern sind auf ihre eigene Weise sehr traditionell, obwohl sie eigentlich allein aus der Sicht ihrer Arbeit echt mehr mit der Zeit gehen müssten. Meine Mutter leitet ein internationales Marketingunternehmen und mein Vater ist in der Forschung tätig. Also so etwas wie ein verrückter Wissenschaftler nur in langweilig. Und trotzdem haben mich beide seit meiner Geburt darauf gedrillt, ein Allrounder zu sein, als wäre das heute noch wichtig. Sie haben mich trilingual erzogen, ich bin zum Saxofonunterricht und Kampfsporteinheiten geschickt worden und auch die obligatorische Nachhilfe in so ziemlich jedem Fach, egal ob benötigt oder nicht, hat nicht fehlen dürfen.

Wenn ich es mir recht überlege, sind wohl meine Eltern die, die mich auf dieser Welt am meisten einengen. Weil sie fast schon Unmögliches von mir verlangen und gleichzeitig alles verteufeln, was ich selbst will. Mein Schreiben ist für meine Erzeuger eine Unart und Zeitverschwendung. Von der Musik, die ich höre, wollen sie nichts wissen. Und was für einen Aufstand meine Eltern doch gemacht haben, als ich mir die Haare gefärbt habe. Doch was haben sie schon groß dagegen tun wollen im Nachhinein? Ich habe es fast schon lustig gefunden, wie sie sich wegen dieser Kleinigkeit aufgeregt haben und doch haben wir alle gewusst, dass sie komplett machtlos in diesem Moment gewesen sind. Da hat es sich doch gelohnt, das eintönige Schwarz gegen ein helles Braun einzutauschen. Auch wenn ich selbst keine Ahnung habe, wie es genau aussieht. Aber was interessiert mich schon, wie ich aussehe? Ich wollte nur einmal eine Regel brechen. Da ist mir der Rest vollkommen egal.

»Wo bist du gewesen, Evan? Wir haben versucht, dich auf dem Handy zu erreichen, doch du bist nicht drangegangen. Wie oft haben wir dir schon gesagt, dass du das Handy nicht einfach auszustellen hast und immer erreichbar sein muss, falls etwas passiert?« Meine Mutter sieht mich, wie so oft, vorwurfsvoll an.

Ich senke nur demütig den Kopf, denke mir meinen Teil und nicke. »Das wird nicht wieder vorkommen, eomma. Ich bin in der Bibliothek gewesen und habe mir neues Wissen angeeignet, da ich auch ohne echte Schule nicht hinter Gleichaltrigen zurückfallen möchte. Verzeiht, dass ich darüber die Zeit vergessen habe.«

Eine glatte Lüge. Eigentlich bin ich im Park gewesen und habe an einer kleinen Geschichte gearbeitet, wie ich es seit mehreren Wochen schon tue. Doch meinen Eltern das zu erzählen, käme einem Kamikazeakt gleich. Also sage ich das, was sie hören wollen und tue so, als wäre mir nicht komplett egal, was diese beiden Stressmonster von mir denken. Der Hauslehrer reicht doch schon, da muss ich nicht noch ständig lernen, nur weil man es von mir erwartet. Wenn sie schon denken, dass ich die normale Schule wegen meiner Farbblindheit und den Tumornebenwirkungen nicht packe, sollen sie mich gefälligst auch wie einen hilflosen Behinderten behandeln. Und nicht so tun, als wäre ich wie jeder andere, der dieselbe Menge Stress und dieselbe Menge an Leistungsdruck ertragen und aus dem später was Vernünftiges werden kann. Der Zug ist mit der missglückten Operation bei mir abgefahren. Auch wenn meine Eltern das immer noch nicht wahrhaben wollen.

Diese kleine, manipulative Lüge erzielt genau den Effekt, den ich mir erhofft habe – sofort wird der Blick meiner Mutter weicher und sie ringt sich sogar ein kleines Lächeln ab.

»Wir haben uns Sorgen um dich gemacht. Wir dachten schon, deine Krankheit hätte dich eingeholt und dir wäre etwas passiert. Doch wenn du so pflichtbewusst warst und uns deshalb hast warten lassen, ist das wohl noch entschuldbar. Nur ist es ärgerlich, dass wir nun nicht mehr wirklich viel Zeit haben, ehe wir wieder zur Arbeit müssen. Du weißt doch, wie schwer es für uns ist, uns freizunehmen. Da zählt jede Minute, die wir gemeinsam verbringen können.«

Diese Vorwürfe überhöre ich fast schon, so oft, wie ich sie schon zu Ohren bekommen habe. Was kann ich denn dafür, dass sie ja ach so wichtige Jobs haben, dass kaum Zeit für ein Familienleben bleibt? Sie hätten sich einfach früher darüber klar werden müssen, dass sie eigentlich nur für die Arbeit leben, dann hätten sie mich wohl nie gezeugt und könnten mich jetzt nicht so erstklassig vernachlässigen. Aber vermutlich bin ich auch nur ein Unfall gewesen, wie alles, was im Leben von Menschen schlecht ist und von diesen am liebsten ausradiert werden würde.

»Gibt es denn etwas, was ihr mit mir besprechen wollt?«, frage ich leise und schaue nun wieder direkt ins Gesicht meiner Mutter, ehe mein Blick kurz zu meinem Vater hinüber zuckt, der bisher auffällig still gewesen ist.

Sonst spricht er mindestens genauso viel wie meine Mutter, auch wenn er in der Rangordnung der ist, der definitiv unter seiner Frau steht. Sie gibt den Ton an, doch das heißt nicht, dass mein Vater auch nur ein Stück weit weniger streng mit mir wäre. Stattdessen ist er der, der meine Mutter noch in dem Druck, den sie auf mich ausübt, bestärkt. Zusammengefasst: Beide arbeiten gegen mich. Ich komme mir in meinem eigenen Heim vor wie ein Verbrecher unter ständiger Beobachtung und wie ein einsamer Soldat im Krieg gegen eine riesige Übermacht, der mir Freiheit verspricht, falls ich siegen sollte.

Mein Vater räuspert sich kurz, als hätte er nur darauf gewartet, dass mein Blick auch mal auf ihn fällt und beginnt daraufhin auch auf seine übliche Marionettenart zu sprechen.

»Wir haben lange mit uns gehadert, weil wir dir nicht zu viel zumuten wollen in deinem Zustand. Aber ein Gespräch mit Doktor Swanson und die jüngsten Ereignisse haben uns gezeigt, dass du trotz deiner Eigenheiten keine Rückschläge in deiner Entwicklung davongetragen hast und somit nicht länger unter Verschluss gehalten werden musst, als wärst du im Gefängnis. Du bist ein vollkommen normaler Junge, Evan. Auch wenn deine Mutter und ich das lange nicht wahrhaben wollten und dachten, du wärst der echten Welt nicht gewachsen. Doch wir haben uns geirrt und diesen Fehler sehen wir jetzt ein.«

Er legt kurz eine Pause ein, als würde er auf meine Reaktion warten. Doch dann scheint es sich mein Vater doch anders zu überlegen und fährt fort. »Deshalb haben deine Mutter und ich beschlossen, dass du wieder eine öffentliche Schule besuchen solltest. Um dich zu resozialisieren und um dir die Möglichkeit zu geben, auch ein Verhältnis zu einer breiter gefächerten Umwelt aufzubauen und daraus deine Erfahrungen für ein erfolgreiches späteres Leben schöpfen zu können. Um die Anmeldung haben wir uns bereits gekümmert. Du wirst ab morgen die Golden Oak High School hier in der Nähe besuchen und wie jeder andere Siebzehnjährige am Unterricht teilnehmen. Dass du mitten im Schuljahr anfangen wirst, tut uns leid, jedoch sind wir uns sehr sicher, dass du gut mithalten und den verpassten Stoff aufarbeiten wirst. Immerhin hat Mister Choi gute Vorarbeit geleistet.«

Mein alter Herr wendet den Blick nun seiner teuren Armbanduhr zu und schaut dann meine Mutter an. »Es wird Zeit. Noch länger und wir kommen zu spät.«

Sofort erheben sich meine Eltern von ihren Stühlen und eilen an mir vorbei aus dem Esszimmer und direkt zur Tür hinaus, als hätten sie alles um sich herum vergessen. Durch das Fenster zu meiner Linken kann ich sehen, wie beide in ihre Autos steigen und vom Grundstück fahren. Was habe ich eigentlich erwartet? Vielleicht ein ‚Auf Wiedersehen' oder einen flüchtigen Abschiedskuss auf die Stirn. Aber diese Dinge hat es ja noch nie gegeben. Nicht einmal als ich noch ein Kind gewesen bin, das sich nach ein wenig Zuwendung gesehnt hat. Auf so zwischenmenschliche Banalitäten hat in diesem Haushalt noch nie jemand Rücksicht genommen.

Also bleibe ich allein in dem plötzlich totenstillen Haus zurück. Wie immer eigentlich. Ich versuche meine Gedanken zu ordnen und bin überwältigt von dem, was mein Vater mir so leichtfertig erzählt hat. Ich darf wieder zur Schule gehen und zumindest so tun, als wäre ich normal. Ich könnte vor Freude weinen, wenn die Zweiflerstimme in meinem Kopf nicht so laut wäre, dass ich eh wieder versagen würde, mich in die Klasse einzugliedern. Immerhin hat sich nur mein Alter geändert, nicht das, was mich damals zum Sonderling gemacht hat.

Doch die Zweifel verdränge ich einfach. Ist nicht jeder Teenager seltsam auf seine eigene Art? Da falle ich sicher nicht im Geringsten auf. Und wenn, können meine Mitschüler sicher besser damit umgehen als die Kinder damals, die keine Ahnung gehabt haben, was mit mir los ist. Und das in einer Zeit, in der ich noch vollkommen hilflos gewesen bin, weil ich es selbst nicht habe erklären können. Doch über die Jahre habe ich gelernt, meine Krankheit in Worte zu sperren und so fassbar für mich und andere zu machen, was mich zwar nicht weniger zu einem Freak, aber wenigstens zu einem mit etwas mehr Selbstbewusstsein und Gewissheit macht. Weil er weiß, wie er erklären soll, was da eigentlich in ihm vorgeht, was so seltsam auf Außenstehende wirkt.

So gebe ich mich meiner Vorfreude auf morgen hin, springe nun auch von meinem Stuhl auf, schnappe mir meinen Rucksack und renne hinauf in mein Zimmer. Wie ein kleiner Junge freue ich mich auf meinen ersten Schultag seit Jahren. Ich könnte mich selbst dafür schlagen, wie gespannt ich darauf bin, was mich da morgen alles Neues erwarten wird und wie eifrig ich dabei bin, meinen provisorischen Ranzen zu packen.

Es ist eben eine echt große Sache für mich, wieder zur Schule gehen zu können. Und ich glaube, noch nie hat sich ein Schüler so gefreut, nach einem buchstäblich jahrelangen Wochenende wieder zur Schule gehen zu müssen.

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