Kapitel 3: Maid in Nöten
Es ist seltsam zu sehen, wie die Lichter der U-Bahn immer größer werden, mich blenden und es doch nie zu einem Aufprall kommt. Denn alles, was ich spüre, ist eine kalte Hand, die grob nach meinem Arm greift und mich nach hinten zieht.
Für einen Moment glaube ich daran, dass dies der Tod selbst ist, der nun in meinen letzten Sekunden nach meiner Seele hascht, um sie mit sich ins Jenseits zu schleppe. So grauenvoll und leblos fühlt sich die Hand zumindest an. Doch schnell werde ich eines Besseren belehrt, als der erwartete Schmerz einfach ausbleibt. Kein riesiger metallener Rammbock überrennt mich, deren Knochen unter dem Gewicht und der Geschwindigkeit des Zuges zu feinem Sand zermahlen werden würden. Mir fehlen die Qualen beinahe schon. So sehr habe ich mich doch nach dem Ende gesehnt, auch wenn mich kurz die Angst gepackt hat. Aber das ist wohl immer so, wenn man einfach aus dem Nichts heraus sein Leben beenden will.
Der Tod ist vielleicht ein ganz netter Gedanke, aber umso erschreckender, wenn man wirklich sterben will. Schmerzen sind schließlich nie schön, aber wenn auch notwendig, damit am Ende alles besser werden kann.
Meine Gedanken rasen. Noch schneller als üblich. Das Chaos ist nun mehr als das, doch es gibt wieder kein Wort dafür, um dieses Ungetüm in meinem Kopf zu beschreiben. Ich hasse dieses Gefühl so sehr und doch kann ich es nicht einfach abschalten. Wenigstens steht die Welt für diesen kurzen Augenblick still. Meine Gedanken sind schneller als die Zeit, in der sich die Erde drehen sollte. Alles schweigt um mich herum, weil das Chaos in mir wieder so laut ist.
Ich habe meinen eigenen Selbstmordversuch überlebt. Irgendwie kommt mir das falsch vor. Wenn ich sterben will, soll das gefälligst auch passieren. Sonst habe ich wohl versagt. Und ich will nicht meinen eigenen Tod vergeigt haben. Das wäre so erbärmlich. Ich bin scheinbar sogar zu dumm, mich umzubringen. Wie kann man nur so ein Versager sein?
Zu wem gehört eigentlich diese Hand von vorhin? Habe ich sie mir nur eingebildet und bin am Ende selbst aus dem Gleisbett gesprungen, weil ich zu viel Angst vor dem Ende hatte? Die anderen Personen hier am Bahnsteig müssen mich doch für komplett geisteskrank halten. Haben sie denn gesehen, wie ich hier hinuntergesprungen bin und dann wieder zurück in meine Ausgangsposition, als hätte ich gerade nur eine dumme Mutprobe hinter mich gebracht, die eh niemand gesehen hat? Das ist doch alles krank. Ich komme mir vor, als hätte ich soeben meinen Verstand endgültig an das Chaos verloren. Was habe ich mir nur dabei gedacht?
Erst jetzt wird mir bewusst, dass mich eine Wolke aus Menschen umgibt. Nur langsam kann ich meinen Kopf drehen und mich auf dem plötzlich so überfüllt wirkenden Bahnsteig umsehen. Die U-Bahn, die mich beinahe erwischt hätte, hat angehalten und die Menschen strömen aus den Wagen auf den Bahnsteig. Es wirkt, als würden sie alle von etwas Bestimmtem nach draußen gezogen werden. Die Leute starren mich an, während ihnen die Neugier und auch die Verwunderung ins Gesicht geschrieben steht. Ich verstehe nicht ganz, was all diese Menschen von mir wollen. Haben sie etwas gesehen, wie ich da im Scheinwerferlicht vor der U-Bahn stand und bereit war, mich von dieser überfahren zu lassen? Wie es wohl dem Fahrer gehen muss, der mich beinahe umgebracht hätte. Ich sehe ihn gerade nicht, aber sicher ist er ebenfalls ausgestiegen.
Die Welt scheint stillzustehen, weil ich überlebt habe. Gleichzeitig bewegen sich die Menschenmassen viel zu schnell, reden zu laut und sind zu nahe, sodass ich kaum begreifen kann, was hier gerade vor sich geht. Wild schweift mein Blick in alle Richtungen, doch überall ist Chaos und selbst in diesem komischen Moment, in dem ich die Hauptperson des Geschehens bin, scheint keiner wirklich auf mich zu achten. Alles, was ich von den vielen Gesprächen um mich herum verstehe, ist, dass die Menschen geschockt sind. Also wissen sie alle, was ich so eben habe tun wollen. Ich glaube, in meinem ganzen Leben habe ich mich noch nie so sehr geschämt wie in diesem ewig andauernden Augenblick.
Erst nachdem ich all diese Leute um mich herum gemustert habe, fällt mein Blick auf den Jungen, der mir direkt gegenüber steht. Es ist der Typ von vorhin, der auf der Bank etwas in sein Notizbuch geschrieben hat. Da hat er mich noch keines Blickes gewürdigt, jetzt lässt er mich scheinbar keine Sekunde lang aus den Augen und hat ein feines Lächeln auf den Lippen, was mich etwas verwirrt zurücklässt. Dieses Lächeln wirkt, als wäre er einerseits froh, mich zu sehen, wie ein alter Bekannter, der mich vermisst hat. Auf der anderen Seite schaut dieser Fremde mich an, als müsste ich ihm für irgendetwas dankbar sein und als erwarte er, dass ich ihm genau diesen Dank auch vor all diesen Leuten entgegenbringe. Ich verstehe nur noch nicht ganz, wofür eigentlich.
Dann fällt der Groschen allmählich.
Dieser Junge hat mich aus dem Gleisbett gezogen. Mein Tod ist von keiner göttlichen Fügung oder so was wie ein Überlebensinstinkt meinerseits verhindert worden. Nein, die Geistesgegenwart dieses fremden Jungen hat mir das Leben gerettet. Ich sollte ihm wohl wirklich dankbar sein. Doch ich bin es nicht. Stattdessen bin ich wütend auf diesen Jungen, der mich vor dem Tod bewahrt hat, ohne mich vorher gefragt zu haben, ob ich das überhaupt will. Was denkt er, wer er ist? Ich soll ihm danken? Er sollte er mir eher erklären, warum er mich nicht einfach hat sterben lassen.
Ich habe diesen Jungen noch nie zuvor gesehen und trotzdem hat er nicht mit ansehen können, wie ich vor seinen Augen in den Tod springe. Ich bin nicht sicher, was ich davon halten soll. Hat der irgendeinen Helferkomplex oder so? Ist sein eigenes Leben so inhaltslos, dass dieser Kerl in das von anderen Menschen eingreifen muss? Ich will darüber gar nicht lange nachdenken, schätze ich. Geht mich ja auch nichts an. Jedenfalls bin ich ziemlich sauer auf diesen Fremden, der einfach Gott gespielt und mich damit kurzerhand der Lächerlichkeit preisgegeben hat.
In diesem Moment fühle ich mich wie entblößt, so wie mich alle Menschen auf diesen Bahnsteig entgeistert anstarren. Hätte ich sterben dürfen, müsste ich diese Blicke jetzt nicht ertragen. Na vielen Dank auch, Lebensretter. Da hast du mir ja einen ganz tollen Dienst erwiesen. Jetzt halten die mich alle sicher für vollkommen durchgeknallt. Oder spielen mir vor, dass sie sich um mein Wohlergehen sorgen würden. Zumindest den in Falten gelegten Gesichtern von denen nach zu urteilen, die mir hier am nächsten stehen. Ich glaube sogar, einige von denen versuchen, mich auszufragen, was gerade fast geschehen wäre. Doch ich höre nicht zu. Ihre Stimmen verschwimmen zu irgendeinem monotonen Summen, das ich nur ganz am Rande wahrnehme.
Stattdessen bin ich doch etwas fasziniert davon, wie sehr der Junge mir gegenüber sich von all den anderen Menschen unterscheidet. Sein abwartender und fast neckischer Blick hat nicht auch nur eine Spur von Mitleid an sich. Es scheint ihn nicht mal zu interessieren, was soeben passiert ist. Eher scheint ihm diese Situation tief in seinem Inneren genauso unangenehm zu sein wie mir. Das macht diesen Typen fast schon sympathisch.
So überwinde ich mich auch, das Eis zu brechen und meinem Gegenüber ein kleines Lächeln, was vermutlich alles andere als echt wirkt, zu schenken.
»Danke oder so ähnlich.«
Der Junge winkt ab. »Wenn du dich schon umbringen willst, solltest du vorher nachdenken, ob du es auch wirklich tun willst. Wie ein verängstigtes Kaninchen da im Gleisbett zu sitzen und es am Ende doch zu bereuen ist würdelos. Das konnte ich nicht mit ansehen.«
Ich bin wirklich überrascht von dieser Antwort. Ich habe mit allem gerechnet, nur nicht mit so etwas. Doch vermutlich hat der Junge recht. Das alles ist so unüberlegt gewesen. Doch ist das so ein Selbstmordversuch nicht immer? Wenn man wirklich alle Argumente dafür und dagegen abwägen und regelrecht zerdenken würde, würde man doch am Ende nichts tun und weiter unglücklich sein. Obwohl man es eigentlich aus dem Gefühl heraus beenden könnte.
Doch ehe ich den Jungen genau das fragen kann, ist er aus meinem Sichtfeld verschwunden. Stattdessen umringen mich jetzt wieder all diese Menschen, die nicht das Geringste verstehen und die Worte von mir fordern, um zu beschreiben, was ich mir dabei gedacht habe. Doch ich kann das alles nicht in Worte fassen. Mein Lebensretter könnte das, da bin ich aus irgendeinem Grund sicher. Er hat sogar in diesem ganzen Chaos so ruhig gewirkt, als könnte ihn einfach nichts erschüttern. Ich fühle mich diesem Fremden so verbunden und doch kenne ich nicht mal seinen Namen. Meine Wut verraucht für einen Moment. Meinen Lebensretter nach seinem Namen fragen, werde ich ihn wohl auch nicht mehr können. Denn in dieser Menschenmasse kann ich diesen seltsam ruhigen Jungen nirgends mehr erblicken, was mich auf eine unbestimmte Art und Weise sogar etwas traurig stimmt.
Jetzt muss ich mich wohl oder übel den ganzen Leuten um mich herum stellen. Ich darf nicht mehr schweigen, sonst macht es diese Situation nur noch schlimmer. Irre ich mich, oder sehe ich da Sanitäter und Polizisten auf mich zu laufen? Na, das kann ja noch heiter werden.
Es hat nicht einmal ganz einen Tag gedauert, bis dieser kleine Zwischenfall an der U-Bahnstation öffentlich ausgeschlachtet wird. Gefühlt jeder regionale Fernsehsender und jede Zeitung berichten über meinen Selbstmordversuch, aber vor allem auch über meinen Retter, der scheinbar Evan heißt. Irgendwie kein so asiatischer Name, wie ich gedacht hätte. Aber was soll's. Dieser Junge scheint doch eh jede Erwartung, die man an ihn auf den ersten Blick haben könnte, mit seiner Andersartigkeit zu brechen. Ich habe Evan erst einmal gesehen und doch hat er schon mein Leben um hundertachtzig Grad gedreht. Allein schon, weil es nun weitergehen kann. Ich will mir gar nicht mehr vorstellen, was geschehen wäre, wenn dieser seltsame Junge nicht zur rechten Zeit am rechten Ort gewesen wäre.
Um diese Gedanken loszuwerden, schüttle ich mit dem Kopf und wende mich wieder dem grellen Laptopbildschirm zu. Ich bin froh, dass man mich ohne großartige Untersuchungen oder Befragungen aus dem Krankenhaus entlassen und dass die Polizei sich ebenfalls nicht lange mit mir aufgehalten hat, womit ich recht schnell wieder nach Hause konnte. Nachdem meine Eltern geweint, mich umarmt und ausgeschimpft haben, meinten sie, dass ich mir einen Therapeuten suchen sollte, um diese Probleme in den Griff zu bekommen. Doch was bringt mir schon ein Seelenklempner, wenn wir bestimmt wieder in drei Monaten schon wieder weiterziehen und ich wieder von Neuem beginnen muss?
Deshalb verbringe ich meinen Samstag nun lieber damit, mir die Schlagzeilen und dazugehörigen Artikel zu dem gestrigen Vorfall durchzulesen. Jedes einzelne Wort brennt sich in meine Seele ein. Wunden entstehen dort, wo sie sehr lange brauchen würden, um zu heilen. Ich sollte mir diese Berichte nicht ansehen. Doch ich kann nicht anders. In dieser Kleinstadt scheint wirklich nicht viel zu passieren, wenn ein so lächerlicher Selbstmordmordversuch plötzlich überall präsent ist. Dass es dabei um mich und meine eigene Dummheit geht, ist noch immer nicht ganz zu mir vorgedrungen. Es ist, als hätte ich mich selbst verloren und würde jetzt eine vollkommen Fremde im Spiegel sehen. Was habe ich mir nur dabei gedacht, mich in aller Öffentlichkeit umbringen zu wollen? Es war doch klar, dass so etwas passieren würde. Aber ich habe nicht nachgedacht. Vermutlich zum ersten Mal in meinem Leben.
Was mir an diesen Artikeln auffällt, ist, dass es in diesen eher weniger um mich geht. Zwar wird mein Name immer mal wieder erwähnt und auch das, was ich fast getan hätte, aber Evans Heldentat, die im gleichen Atemzug erwähnt wird, überstrahlt alles. Er ist die Hauptperson in dieser Geschichte. Ich bin hier nur ein trauriges Mädchen, das wie die Maid in Nöten von ihrem strahlenden Prinzen gerettet worden ist und diesem nun ewig dankbar sein sollte.
Doch genau das macht mich wieder wütend. Diese dummen Journalisten haben alles falsch verstanden. Weil sie mich kaum befragt haben. Sie haben alles verdreht, weil sie ihre Worte falsch benutzt haben. Es macht mich krank. Warum muss man überhaupt über etwas berichten, was man nicht versteht? Ich bin kein Opfer und Evan sicher nicht mein Held, selbst wenn er mein Leben gerettet hat. Dieser Unfall ist nicht so schwarz und weiß, wie alle da draußen denken. Aber so wollen sie ihn darstellen. Damit es leichter zu begreifen ist, warum sich jemand, der nicht einmal volljährig ist, sich vor den Augen aller das Leben nehmen will. So funktioniert das nicht. Ich fühle mich in eine Rolle gedrängt, die mir alles nimmt, was ich eigentlich bin. Für die Leute bin ich das traurige Opfer einer Krankheit, die mir niemand ansehen kann. Doch ich bin so viel mehr. Zumindest denke ich das. So fremd wie mir gerade meine eigene Tat ist, bin ich mir da selbst mehr so sicher.
Ich bin nur froh, dass ich noch das Wochenende Zeit habe, mich mental auf die Schule und die neugierigen und mitleidigen Blicke meiner Mitschüler vorzubereiten. Alles nur, weil einer der Polizisten oder Sanitäter der Presse hat petzen müssen, was geschehen ist. Ich hasse jedes Wort, was diese Idioten da geschrieben haben. Wäre ich doch einfach gestorben, verdammt.
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