Kapitel 2: Gedankenchaos
»Siehst gut aus, Taissa«, wirft mir einer der Gesichtslosen im Vorbeigehen zu.
»Cool, was du mit deinen Haaren gemacht hast«, belächelt mich ein anderer.
Ich gehe wortlos nur an ihnen vorüber. Dass meine Mitschüler überhaupt meinen Namen kennen, überrascht mich. Schließlich rede ich nie mit ihnen. Nicht weil ich nicht will - ich kann es nicht. In der Gegenwart von Fremden vergesse ich mich selbst, verschlucke meine Zunge und stehe nur da; vollkommen hilflos und verloren, wenn jemand versucht, mich in ein einfaches Gespräch zu verwickeln. Dabei komme ich mir wie ein Außerirdischer, ein Fremder in meiner eigenen Welt vor. Als wäre ich anders, ohne es wirklich zu sein.
Allein wenn mich jemand fragt, wie es mir geht, schwirren so viele Gedanken durch meinen Kopf, dass sie meine Stimme blockieren. So kommt höchstens ein verzweifeltes Krächzen zustande. Worte bringen mir nichts. Sie können kaum das ausdrücken, was in meinem Kopf vor sich geht. Ich denke im Chaos – Worte sind viel zu geordnet und klar definiert, um so komplexe Gefühle umfassen zu können. Wie schaffen das nur alle anderen? Kommen sie sich nicht auch gefangen vor, wenn sie nur einen Bruchteil der Dinge, die sie denken, ausdrücken können? Oder denken sie einfach nicht so viel drüber nach wie ich und leben, ohne sich ihrer Eingeschränktheit bewusst zu sein?
Vermutlich halten mich meine Mitmenschen für sehr arrogant, weil ich ihnen nie antworte. Egal was für Komplimente oder Angebote sie mir vor die Füße werfen, als wäre ich ein wildes Tier, das sie zu zähmen versuchen. So komme ich mir generell öfter vor. Mit meiner dunklen Haut wirke ich inmitten meiner ausnahmslos weißen Mitschüler wie eine ertrinkende Fliege in der Milch. Vermutlich versuchen sie aus genau diesem Grund nett zu mir zu sein – weil ihnen die Lehrer eingetrichtert haben, dass man freundlich zu Minderheiten sein sollte, wenn man nicht als Rassist abgestempelt werden möchte. Und natürlich kann sich diese Schule mit makellosem Ruf und nur den reichsten der Reichen in ihrer Obhut keine üble Nachrede durch eine schwarze Schülerin leisten, die nicht an diesen Ort gehört und eh bald schon fort sein wird.
Denn so ist es immer. Sobald mein Vater, der viel zu abhängig von Wildfremden ist, wieder einen neuen Auftrag bekommt, ziehen wir um. Das passiert manchmal im Monatstakt, sodass ich kaum Zeit habe, mich an die neue Schule und die ganzen fremden Gesichter um mich herum zu gewöhnen. Bisher sind wir bestimmt zwölf Mal umgezogen, seit ich denken kann. Auch wenn ich nicht direkt mitgezählt habe. Irgendwann habe ich es aufgegeben, mich Leuten anzuvertrauen und Freunde zu finden – ich hätte sie doch eh nur irgendwann zurücklassen müssen und wäre wieder an der Einsamkeit zerbrochen. Die Menschen um mich herum zu ignorieren, ist viel einfacher. Da weint mir niemand nach, wenn ich gehe, und ich tue genau das in Frieden, ohne mich selbst hassen zu müssen. Dass ich ohnehin meine Stimme verloren habe, blende ich dabei aus. Meine Gedanken sind immerhin lauter als alles andere.
Wenn ich denn aber etwas sage, hört mir niemand zu. Fragt man mich, ob ich Lust auf eine Party im Haus von irgendeinem beliebigen Schüler hätte, möchte ich anfangen zu weinen, weil ich so sehr auf diesen indirekten Freundschaftsversuch eingehen will. Doch ich kann es nicht. Oder fragt mich jemand, ob alles in Ordnung mit mir ist, möchte ich vor dieser rührenden Fürsorge davonlaufen und allein sein an einem Ort, wo die Zeit stillsteht. So oft habe ich das Verlangen, einfach allen Frust aus mir herauszuschreien und mein Innerstes nach außen zu kehren, damit wirklich jeder sehen kann, was da in mir vorgeht und was ich einfach nicht in Worte fassen kann.
Ich schweige auch jetzt und gehe an denen vorüber, die sich bei mir einzuschmeicheln versuchen. Alles nur, weil ich mir die Haare gefärbt habe. Mir hat einfach dieses langweilige, glanzlose Dunkelbraun nicht mehr gefallen, das mich bestimmt hat, als wäre das Braun alles, was ich noch habe. Es hat mich in den Wahnsinn getrieben, nur braun zu sein. Und wenn ich schon nicht meine Haut- und Augenfarbe so einfach ändern kann, habe ich zumindest meinen Haaren ein wenig von mir selbst geben wollen, ohne dass mich irgendetwas zu kontrollieren versucht, was ich nicht abstellen kann.
Gestern ist ein Teil des Brauns zu einem funkelnden Violett geworden, das mich einfach glücklich macht. Denn Violett sagt nichts aus. Violett hat keine genaue Bedeutung und steht einfach für sich selbst. Das ist genau das, was ich damit sagen möchte. Warum nicht Blau, Grün oder Schwarz? Ganz einfach – alle diese Farben werden mit einer tieferen Botschaft verbunden, die nicht mir entspricht. Blau steht für die Freiheit, Grün für die Hoffnung und Schwarz für die Dunkelheit, in der man sich verloren hat. Ich bin nichts davon. Weder frei, hoffnungsvoll noch verloren.
Außerdem ist die Farbe Violett wie ich. Ein Teil des Universums, auch wenn sie ihren Platz noch nicht ganz gefunden hat. Aber doch ist sie da und passt perfekt. Mir egal, ob jemand meine Wahl missverstehen kann. Sollen sie doch. Nur ich weiß, was ich allen zeigen möchte. Nämlich, dass ich nichts aussagen will.
Darum schenke ich diesen falschen Komplimenten weder ein Lächeln noch ein dankbares Wort. Einfach, weil ich mich wieder so unwohl fühle und glaube, dass das Färben meiner Haare ein riesiger Fehler gewesen ist. Mein Kopf macht dicht und ich fühle mich zugleich federleicht und von einer immensen Kraft zu Boden gedrückt.
Das ist bisher nur ein einziges Mal in der Öffentlichkeit passiert – mitten im Unterricht, als es an eine Gruppenarbeit ging. Vor Angst ist mir schwarz vor Augen geworden und ich hörte eine Stimme, die klang wie einer dieser typischen amerikanischen Nachrichtensprecher, die ich so sehr hasse. Doch ich verstand kein Wort von dem, was die Stimme sagte, da sie plötzlich verzerrt war, als befände ich mich unter Wasser. Erst als ich wieder zu mir kam, halb auf dem graubraunen Boden des Klassenzimmers lag und von zwei meiner Mitschüler getragen und von den anderen mit besorgten Blicken umringt wurde, realisierte ich, dass ich soeben in Ohnmacht gefallen war. Der Krankenwagen wurde geholt und den Rest des Tages verbrachte ich im Krankenhaus, da all die sinnlosen Untersuchungen, die die Ärzte dort mit mir anstellten, ewig anzudauern schienen.
Ich separiere mich von meiner Außenwelt. Die Mauer um mich herum wird immer dicker mit jedem Tag, den ich unter Menschen sein muss. Strecken sie die Hand nach mir aus, zucke ich automatisch zurück. Sie sollen nicht glauben, ich würde nur für sie leben – weder wechsle ich Worte mit diesen Leuten, noch färbe ich meine Haare für sie, damit sie etwas zum Interpretieren haben. Das Violett gehört nur mir und steht für sich und mich; ohne tiefere Bedeutung. Doch dass ich so viel darüber nachdenke, was meine Mitmenschen nun von mir halten, bedeutet wohl, dass sie doch wichtig für mich sind.
Es hilft nichts, ich muss diesen Tag hinter mich bringen. Zumindest haben die Lehrer bereits aufgeben, mich aufrufen zu wollen, da ich eh nicht antworten würde. Dafür zeichne ich, während die anderen an all die unwichtigen Themen denken, die man uns zu lehren versucht, ohne dass sie uns weiterbringen.
Nutzlos wirken all die Worte, die meine Mitschüler benutzen, wenn man bedenkt, wie viel ein Bild aussagt, ohne auch nur eines davon zu verwenden. Jeder, der mich zeichnen sieht, nennt mich „talentiert". Obwohl ich auch da kaum hinhöre, wenn sie mir zu schmeicheln versuchen. Weil ihre Worte leichtfertig sind und deshalb an Wert verloren haben.
Die Bilder, die ich pausenlos zeichne, sind nur dazu da, meine Gedanken etwas zu ordnen, nicht um einen tieferen Sinn zu haben. Ich bin keine Künstlerin, auch wenn ich eine Zeit lang gedacht habe, dass ich irgendwann von meinem kleinen Hobby leben könnte. Ich zeichne einfach und versuche mich selbst in meinen Werken wiederzufinden, ohne von den vielen Worten überschwemmt zu werden, die aus mir herauszufließen versuchen, aber sowieso von meinen Mitmenschen nie verstanden werden würden.
Auch ist es kein Talent, sondern Übung durch einen gewissen Zwang, den ich an meinen Nerven ziehen spüre. Zeichne ich auch nur für ein paar Stunden nicht, habe ich das Gefühl, in meinen eigenen Gedanken zu ertrinken und fühle mich auch körperlich krank. Mir wird schlecht und ich zittere, als wäre ich ein Junkie auf Entzug. Ob wohl auch andere dieses Gefühl kennen? Vermutlich nicht, schließlich stecken sie im Morast der Worte fest, die so erdrückend viele sind und doch nichts aussagen.
Endlich geht auch dieser Schultag vorüber und ich könnte es nicht eiliger haben, ins Freie zu kommen. Nun bin ich frei von all den Worten, mit denen meine Mitschüler um sich werfen und frei von ihren ganzen Komplimenten, die mich mehr verletzen, als dass sie mir so helfen, wie sie es eigentlich tun sollten.
Schnellen Schrittes mache ich mich auf zur U-Bahn-Station. Diese hasse ich mindestens genauso sehr wie die Schule. Überall sind Menschen, die laut miteinander reden oder in ihr Smartphone plärren. Als hätte die Menschheit nichts Besseres zu tun, als ihren ach so wichtigen Gesprächen zu lauschen. Außerdem stinkt es immer nach Rauch, Alkohol und Pisse, weil scheinbar niemand mehr so etwas wie Anstand kennt. Und manchmal wird die einzige Bank des Bahnsteigs von einem Obdachlosen besetzt, der gerade seinen Rausch ausschläft und dabei mindestens genauso übel riecht wie der Rest der Halle. Warum nur muss die Außenwelt so grauenvoll sein?
Zumindest der Schnee, der in leichten, fast flauschig wirkenden Flocken aus den ergrauten Wolken am Himmel fällt, muntert mich ein wenig auf. Ich liebe den Winter samt der Kälte und dem Schnee, der sich in meinen dunklen Haaren verfängt und mich für einen Moment genauso weiß wie die Welt um mich herum macht. Auch wenn das vermutlich nur Einbildung ist.
Wie kann man Schnee eigentlich nur mit dem Wort „Schnee" bezeichnen? Es ist nicht einfach eine einzige weiße Masse, die da vom Himmel geregnet kommt. Da fallen Millionen an Schneeflocken, die alle auf den ersten Blick gleich aussehen, zu Boden. Dabei werden sie von uns nur nicht genau genug angesehen, damit wir merken, wie jede einzelne von ihnen unterschiedlich und in ihrer Einzigartigkeit wunderschön ist.
Menschen benennen Dinge unterschiedlich, die auch unterschiedlich sind. Ein Ball ist keine Orange, nur weil beide rund sind. Müsste es dann nicht für jede Schneeflocke, die da fällt, ein eigenes Wort geben? Zwar wäre es dann sehr schwer, jedes dieser Millionen Worte auf die einzelne Schneeflocke anzuwenden, aber so überkorrekt wie Menschen immer sein wollen, sollten sie auch dem Schnee diesen Respekt zollen können. Schließlich sind wir alle Menschen, doch werden trotzdem in Nationen eingeteilt, obwohl wir im Prinzip alle gleich sind. Es sind nur diese dummen Äußerlichkeiten, die uns trennen. Genauso wie die Schneeflocken, die alle einzigartig, aber doch gleich sind, auch wenn sie unterschiedlich aussehen.
Mich über mich selbst ärgernd, schüttle ich den Kopf. Ich sollte nicht so viele Gedanken an so unwichtige Dinge verschwenden. Stattdessen betrete ich den U-Bahnhof und rette mich auf die Rolltreppe, um endlich von den Gedanken, die dort draußen lauern, fortzukommen. Als ich dann am Gleis stehe und mich, mitsamt der vielen anderen Menschen um mich herum, eine Ebene nach unten tragen lassen, fällt mir ein bestimmtes Gesicht in der Menge auf.
Stur blickt der Junge in meine Richtung, doch schaut eigentlich durch mich hindurch und zur grauen Decke über unseren Köpfen. Er sieht asiatisch aus und gelangweilt, als hätte das Leben nicht das Geringste mehr für ihn zu bieten. Seine Haare sind kurz, glatt und hellbraun, wobei sie aber gefärbt wirken. Doch ehe ich den Jungen genauer mustern kann, dreht er sich auch schon wieder um und verlässt die Rolltreppe.
Ob er mit derselben Linie wie ich fahren muss? Sollte ich ihn vermutlich fragen, was genau er da so gespannt betrachtet hat? Nein, schließlich ist er nur ein Fremder. Zuvor aufgefallen ist er mir auch noch nicht, also vielleicht ist er nur ein Tourist oder so. Obwohl ich bezweifle, dass ein Tourist erst mal die Decke anstarren würde, anstatt diese versiffte U-Bahn-Station aus jedem noch so kuriosen Blickwinkel zu fotografieren.
Dann verliere ich den Jungen aus den Augen und wende mich wieder den wichtigen Angelegenheiten des Lebens zu. Wie zum Beispiel auf die nächste Bahn zu warten.
Ich nur wenige Schritte von den Gleisen entfernt und versuche mich nicht zu angezogen von der Schwärze des Schachtes direkt vor mir zu fühlen. Immer wieder verfängt sich mein Blick in dieser und ich gebe mein Bestes, die finsteren Gedanken zur Seite zu schieben, die sich wie eine Gewitterfront anbahnen.
Ich lebe in einer Welt, in der alles aus Worten besteht und nur so definiert werden kann. Ich habe hier nichts zu suchen, so sehr wie ich jeden einzelnen Buchstaben verabscheue. Allein mein Name ist schon zu viel für mich. Taissa. Eine Schublade, in die man mich gewaltsam stecken will. Ich hasse es. Diese Welt, diese Zeit, dieses Leben. Alles ist falsch und ich möchte mich selbst in Fetzen reißen, um verdammt noch mal nicht mehr hier sein zu müssen. Warum gibt es nur keinen Knopf, mit dem man einfach mal kurz die Welt pausieren kann, wenn sie einem zu viel wird? Warum muss Selbstmord der einzige Ausweg aus diesem Chaos sein?
Für einen kurzen Moment blicke ich mich um, einfach nur um die Lage überblicken zu können. Niemand achtet auf mich. Nicht einmal der Junge von eben, der plötzlich wieder in meinem Blickfeld ist und auf der freien Bank hinter mir Platz genommen hat. Der Fremde hat ein Notizbuch auf dem Schoß. Eifrig schreibt er Wort um Wort auf die leeren Seiten, dass mir schlecht davon wird. Auch er ist nur mit sich beschäftigt, wie auch die Frau dort hinten, die ihr schreiendes Kind im Kinderwagen zu beruhigen versucht, oder der ältere Herr mit Hut, der bei dem Lärm doch seelenruhig seine Zeitung lesen kann. Oder alle anderen hier, die mit mir zusammen an diesem grauenvollen Ort gestrandet sind.
Ich atme einmal tief ein und aus und mache einen zaghaften Schritt vorwärts. Auf diese Weise habe ich mir meinen Tod eigentlich nicht vorgestellt, aber was läuft in dieser Welt schon nach Plan? So werde ich zumindest nie wieder umziehen müssen. Und niemand kann heuchlerisch an meinem offenen Sarg weinen, weil meine Überreste, die irgendwelche Arbeiter von den Schienen kratzen müssen, so zerfetzt sein werden, dass es höchstens noch zum Einäschern reicht. Auf irgendeine kranke Weise ist dieser Gedanke befriedigend. Mir doch egal, ob sie mich selbstsüchtig oder feige nennen werden, wenn ich erst tot bin. Hätten die Menschen diese Welt nicht so verkommen lassen, würde es nicht so viele geben, die einfach nur davonlaufen wollen, ohne wieder zurückkommen zu müssen.
Als ich endlich höre, wie sich die nächste Bahn nähert, fällt mir der Sprung in den Graben gar nicht so schwer, wie ich gedacht habe. Ich stehe einfach nur da und lasse die Lichter auf mich zukommen. Sie blenden mich und mit einem Mal kommt mir der Gedanke, dass das Ganze hier wohl doch keine so grandiose Idee gewesen ist, wie ich zuerst gedacht habe.
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