Kapitel 19: Ein letztes Geschenk

Es ist ein Tag wie jeder andere. Und doch ist alles anders, weil ich einfach nicht vergessen kann, dass ich nun allein bin. Eigentlich hätte ich von heute an versuchen sollen, allein klarzukommen. Doch wie soll ich das tun, nachdem ich die letzten Monate erst lernen musste, dass es doch jemanden gibt, der mich versteht?

Jetzt ist Taissa weg. Natürlich nicht für immer, doch irgendwie fühlt es sich ein bisschen so an. Deshalb liege ich auch hier, weiß nicht, was ich mit mir anfangen soll und wäre am liebsten ganz weit weg. Die Schule muss auch heute ohne mich klarkommen. Ich hätte es vermutlich nicht einmal den halben Tag durchgehalten, so sehr, wie ich meine beste Freundin vermisst hätte. Das tue ich auch jetzt, aber in der Schule hätte ich ihr Fehlen nicht verdrängen können. Hier, in meinem Zimmer, kann ich zumindest so tun, als wäre noch alles beim Alten. Auch wenn es mir immer schwerer fällt, wenn ich darüber nachdenke, wie es jetzt mit mir weitergehen soll.

Für einen Moment bin ich wütend auf Taissa. Sie hat mir gestern etwas genommen, von dem ich nicht einmal geglaubt habe, es noch zu haben. Hoffnung. Für ein paar Stunden habe ich wirklich gedacht, dass wir dem, was uns bevorsteht, noch entkommen können. Doch Taissa hat sich geweigert, mit mir zu kommen. Weil sie Weglaufen für sinnlos hält. Dabei mache ich doch mein Leben lang nichts anderes. Ich laufe weg – vor den Erwartungen, die meine Eltern in mich haben, vor dem Normalsein, vor dem Wissen, jemandem beim Sterben zuzusehen und jetzt eben vor dem Tod. Warum zwingt mich dieses Mädchen jetzt stehenzubleiben? Ich würde lieber weglaufen, als mich hier einsperren zu lassen.

Als diese Gedanken langsam verfliegen, richtet sich meine Wut auf Taissas Eltern. Was haben sie sich gedacht, mitten in der Woche umzuziehen? Hätten sie uns nicht noch bis zum Wochenende Zeit geben können, damit wir uns beim Abschied nicht so abhetzen müssen? Doch dann glaube ich zu wissen, warum es genau dieser Tag hat sein müssen. Die Erwachsenen wollen den Umzug so schnell wie möglich hinter sich bringen, um ihr altes Leben vergessen und das neue beginnen zu können. Das Leben, das ohne mich stattfindet und so weit weg, dass ich nicht einmal die Chance habe, hinterherzufahren. Taissa hat recht, ich sollte loslassen und mich auf mich konzentrieren. Doch das macht es mir nicht leichter. Gerade weil ich immer noch davon überzeugt bin, dass es mir nur dank ihr noch halbwegs gut geht.

Mein Handy vibriert. Ich brauche eine Weile, um durch dieses dumpfe Geräusch aus meiner kleinen Tagtraumwelt zu erwachen und zurück in die Realität zu finden. Die Schmerzen und den Schwindel ignorierend, die dabei entstehen, richte ich mich auf, um nach meinem Handy zu greifen. Ich weiß genau, wer mir da eine Nachricht geschrieben hat. Schließlich gibt es nur wenige Menschen, die meine Nummer überhaupt haben. Und nur einer der Glücklichen wüsste genau, wann er mich aus meinem Trübsal blasen rausholen muss.

Taissa scheint nicht viel Zeit gehabt zu haben, die Nachricht zu schreiben. Doch ich bin so froh, dass sich meine Freundin überhaupt bei mir meldet, dass ich über die Flüchtigkeitsfehler hinwegsehen kann. Sie hat mich also doch noch nicht vergessen. Tief in meinem Inneren weiß ich natürlich, dass das auch so gut wie unmöglich wäre, doch das Vermissen einer Person redet einem eben oft so kleine Lügen ein, die am Ende noch zur schmerzlichen Gewissheit werden.

Beim Lesen der Nachricht runzle ich unwillkürlich die Stirn. Geh nach der Schule zum Haus, schreibt Taissa, vermutlich hoffend, dass ich verstehe, was sie damit sagen will. Ich habe etwas für dich zurückgelassen, was du dir holen solltest, bevor die neuen Leute einziehen.

Mehr steht da nicht. Kein Abschiedsgruß, kein Hinweis darauf, dass das Mädchen mich so sehr vermisst, wie es andersherum der Fall ist. Ich sollte wohl wieder wütend auf Taissa sein, weil sie schon am ersten Tag so kalt wirkt. Stattdessen frage ich sie nur, was genau dieses Etwas ist, von dem sie da spricht.

Natürlich erhalte ich keine Antwort mehr. Wie hätte es auch anders sein können? Taissa hat vermutlich gerade andere Dinge zu tun, als sich um meine Verwirrung zu kümmern. Doch das tötet nicht die Neugier, die gerade an meinen Nerven zerrt. Plötzlich habe ich das Gefühl, nur so vor Energie zu strotzen. Kurz frage ich mich, was Taissa nur von mir denken würde, wenn sie wüsste, dass ich auch heute nicht in der Schule bin. Und das alles nur wegen dieses Mädchens, das mich einfach nicht mehr loslassen will. Vermutlich würde es mir eine Standpauke halten, bis wir beide lachen würde, wie albern das alles ist. Doch das spielt jetzt keine Rolle mehr. Meine Gedanken drehen sich nur noch um Taissas letztes Geschenk.

Deshalb verschwende ich auch keine Zeit mehr, stehe auf und mache mich auf den Weg zu dem Haus, das ich mittlerweile vermutlich mit verbundenen Augen finden würde. Jeder Schritt bereitet mir heute Schmerzen und nicht selten habe ich das Gefühl, das Bewusstsein zu verlieren. Ich hätte wohl vor meinem Aufbruch versuchen sollen, doch ein wenig zu essen. Doch das spielt jetzt auch keine Rolle mehr. Ich kann alles ignorieren, solange ich mich nur auf das Ziel vor mir konzentriere. Das ist alles, was noch zählt. Wenn ich herausgefunden habe, was Taissa mir zeigen will, kann ich immer noch über den Tumor und das jammern, was er bei mir anrichtet.

Als ich endlich vor dem Haus stehe, kommt mir alles so normal vor. Als hätte ich, als ich die Einfahrt betreten habe, gleichzeitig das Tor zu einer anderen Welt geöffnet, in der die Zeit so lange stillsteht, wie ich es brauche. Auf einen Schlag geht es mir so gut wie lange nicht mehr. Ich habe sogar das Gefühl, dass die Welt etwas heller geworden ist, auch wenn das natürlich nur Einbildung ist.

Ich klopfe an die Haustür und komme mir schon im nächsten Moment unglaublich dumm vor. Niemand wird mir öffnen. Das Haus ist verlassen. Wie habe ich das vergessen können?

Anstatt also zu warten, bis mir irgendein Luftzug die Tür öffnet, schaue ich unter der Fußmatte nach, ob ich irgendwo den Hausschlüssel finde. Doch da ist nichts. Ich brauche eine Weile, um zu verstehen, dass die Tür nicht abgeschlossen ist. Taissa hat mich also nicht verraten und vergessen, mir den Weg zu ihrem letzten Geschenk zu ebnen. Fast wäre ich wieder wütend geworden oder so enttäuscht gewesen, dass ich auf der Stelle an diesem Gefühl erstickt wäre. Stattdessen öffne ich die Tür und trete ein.

Die heile Welt, die ich mir eben noch versucht habe aufzubauen, bleibt draußen. Hier im Haus ist alles so still, dass ich mich einfach nicht selbst davon überzeugen kann, dass sich nichts verändert hat. Ich komme mir wie ein Eindringling vor. Trotzdem nehme ich allen Mut zusammen, wische die Erinnerungen beiseite, die wie Geister um mich herumtanzen und mich ablenken wollen und gehe ohne Umwege hoch in Taissas Zimmer. Für den Rest des Hauses habe ich keinen Blick mehr. Was sollte mich dort auch groß erwarten? Dieses Gemäuer ist still und leer wie der Tod selbst und mich interessiert nur noch das bisschen Leben zu retten, das man mir hier hinterlassen hat.

Taissas Zimmer so leer zu sehen, tut weh. Doch ich halte mich mit diesem Gefühl nicht auf und wende mich lieber dem recht großen Gegenstand zu, der verhüllt in der Mitte des Zimmers steht. Er wirkt so fehl am Platz, dass ich gar nicht anders kann, als meine gesamte Aufmerksamkeit auf ihn zu richten. Ungeduldig reiße ich das Handtuch, das mir sonderbar bekannt vorkommt, zu Boden, um endlich meine Neugier befriedigen zu können.

Erst als ich den ominösen Gegenstand in voller Pracht vor mir sehe, wird mir bewusst, worum es sich dabei handelt. Das Bild, das ich nun direkt anstarre, zeigt einen dunklen Tunnel, der so beengt und bedrohlich wirkt, dass mir für einen Moment die Luft wegbleibt. Doch es ist nicht vollkommen dunkel. Nein, ein wenig Licht fällt in den Tunnel. Es muss eine Farbe haben, die ich nicht sehen kann, doch irgendwie wirkt es blass und so, als sollte es eigentlich nicht auf diese Leinwand gebannt sein. Doch erst durch das Licht kommt die Gestalt zum Vorschein, die sonst ganz in der Dunkelheit verschwinden würde. Ich muss nicht zweimal hinschauen, um zu sehen, dass ich da einen Geist anstarre. Die Gestalt ist nur ein dunkler Schatten ohne nennenswerte Details, die erst eine Person aus ihr gemacht hätten, doch das lässt sie erst recht tot wirken. Für einen Moment kommt es mir fast vor, als würde die Tote mich sogar stumm anlächeln, bevor ich diesen wirren Gedanken beiseiteschiebe.

Das ist also das Bild, das Taissa so lange vor mir versteckt hat. Ihr letztes Geheimnis ist damit wohl endlich gelüftet. Ich zwinge mir selbst ein Lächeln auf, um mich erleichtert fühlen zu können. Ich muss wie ein Idiot aussehen, wie ich hier ganz allein stehe und dieses finstere Albtraumbild angrinse, als wären wir alte Freunde. Doch das ist der Punkt. Ich bin allein. Niemand sieht mich bei diesem kleinen Nervenzusammenbruch, der vermutlich gerade passiert, ohne dass ich es recht wahrnehme. Dieses Bild ist das letzte, was mir von Taissa geblieben ist. Abgesehen ihrem Geburtstagsgeschenk und den ganzen gemeinsamen Erinnerungen zumindest. Deshalb ist mir auch klar, was ich jetzt zu tun habe.

Fast schon behutsam decke ich das Kunstwerk, das zeigt, was hätte sein können, wieder mit dem Handtuch ab und entferne es dann von der Staffelei, die als letzter Zeuge in diesem Haus zurückbleiben wird. Ein bisschen komme ich mir wie ein Feuerwehrmann vor, der ein Kind aus seinem Flammengrab rettet, während ich das Bild aus dem Haus trage und mich auf den Heimweg mache.

Hätte ich nicht gewusst, dass meine Stimme mir gerade ihren Dienst versagen würde, hätte ich wohl über diesen Gedanken gelacht. Ich werde wohl nie wieder davon loskommen, mich selbst als irgendeinen tapferen Helden sehen zu wollen. Das haben mir alle anderen immerhin lange genug eingeredet. Doch wäre ich ein echter Held, würde wohl nicht so etwas Leichtes wie ein Gemälde so schwer auf meinen Armen lasten, dass ich das Gefühl habe, an dieser Last zu zerbrechen. Doch ich will das Bild mit nach Hause nehmen. Um Taissa zumindest ein bisschen näher sein zu können. Sie hätte wohl auch gewollt, dass ich ihr Geschenk aus der Leere rette. Wie ich es damals wohl mit ihr getan habe und was das Bild mir regelrecht entgegen zu schreien scheint.

Zu Hause angekommen, mache ich mich sofort daran, das Bild über meinem Bett aufzuhängen. Ich weiß jetzt schon, dass es für Streit sorgen wird, sobald meine Eltern von seiner Existenz erfahren werden. Dann werde ich endlich meine Geheimnisse lüften müssen, fürchte ich. Doch das macht mir keine Angst mehr. Was sollen meine Eltern schon groß tun? Mich umbringen? Da kommen sie etwas spät. Enttäuscht sein? Vielleicht, aber immerhin nicht für eine lange Zeit. Ich habe mich noch nie so sorglos gefühlt wie in diesem Moment. Ob das an dem Bild liegt, das mir endlich klar zeigt, was die ganze Zeit über tief in Taissas Innerem vorgegangen ist? Vielleicht. Vielleicht ist es aber auch der Schwindel, der mich wieder überkommt und meine Sicht verschwimmen lässt.

Diese kleine Reise ist wohl doch etwas anstrengender gewesen, als ich gedacht hätte. Alle Kräfte, die ich vorhin noch zu haben geglaubt habe, haben mich nun verlassen. Ich habe kaum noch Zeit, sicherzugehen, dass das Bild auch wirklich an der Wand hängt und mir nicht in den nächsten paar Sekunden auf den Kopf fällt, ehe ich mich schon hinlegen muss. Mein Hirn ist wieder so verwirrt, dass sich die Welt um mich herum viel zu schnell im Kreis dreht. Ich wünschte, es würde einfach aufhören. Das Drehen, die Übelkeit, die Schmerzen, der Tumor. Einfach alles soll aufhören.

Und als hätte irgendeine höhere Macht meine Bitte erhört, werde ich schon im nächsten Moment von ein paar tanzenden schwarzen Punkten in die Bewusstlosigkeit geführt.

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