Kapitel 17: Kontrollverlust

Evan hat recht gehabt. Es hat nur ein paar weitere Tage gebraucht und schon ist alles wieder normal. Die Leute behandeln uns wieder, als wären wir Luft. Zumindest ist das für Evan normal, für mich ist das eine willkommene Abwechslung zur falschen Freundlichkeit, die mir sonst immer entgegengebracht wird. Jetzt macht sich keiner mehr Sorgen, weil ich immer allein und so still bin. Ich habe Evan. Mit ihm zusammen muss ich ganz normal auf Leute wirken. Wir blödeln rum, sind mitunter laut und ziehen alle Blicke auf uns, doch gleichzeitig beachtet uns niemand. Ich habe mich nie besser gefühlt, glaube ich. Seit Evans Geburtstagsparty sind wir noch enger verbunden als zuvor. Wie auch immer das möglich ist.

Ich bin so dankbar, dass ich Evan meinen Freund nennen kann. Er hat einen so guten Einfluss auf mich, dass ich mich selbst kaum wiedererkenne. Ich bin so leer gewesen. Jetzt kann ich mir kaum noch vorstellen, in das Leben zurückzukehren, das ich vor dem Tag am U-Bahnhof geführt habe.

Heute habe ich wieder einen Tapetenwechsel gebraucht. Ich bin es gewesen, die Evan überredet hat, etwas zu unternehmen. Doch ich habe nicht ins Café oder ins Baumhaus gehen wollen. Beide Orte haben sich allein, als Evan sie mir zur Auswahl gegeben hat, viel zu vertraut angefühlt. Heute muss etwas Neues her. Ich fühle mich abenteuerlustig und möchte heute nicht an einem einsamen Ort sein.

Es fühlt sich mittlerweile besser an, unter Menschen zu sein. Früher habe ich mich an öffentlichen Orten so unwohl gefühlt, weil ich immer nur die Blicke der anderen Leute auf mir habe brennen spüren. Ich habe mich immer so beobachtet und verurteilt gefühlt, obwohl ich nicht das Geringste getan habe, was die Aufmerksamkeit anderer auf sich gezogen hätte. Es ist mir immer vorgekommen, als würde mich die ganze Welt hassen. So ein egoistischer Gedanke. Warum sollte sich die Welt um mich scheren? Ich bin wie jeder andere und niemand kennt mich. Da kann mich auch niemand wirklich hassen. Außer mir selbst vielleicht.

Heute scheint mir das nächste Einkaufszentrum ein passender Ort zum Reden zu sein. Ich habe den Weg dahin nachschlagen müssen. Um ehrlich zu sein, habe ich nicht einmal gewusst, dass diese Kleinstadt ein Einkaufszentrum hat. Ich habe mich nie dafür interessiert. Warum auch? Vor ein paar Monaten ist es mir alles egal gewesen, was außerhalb meines Zimmers gelegen hat.

Dass ich jetzt anfange, mich für meine Umwelt zu interessieren, ist nur Evan zu verdanken. Er hat mich aus meinem Schneckenhaus kriechen lassen. Und selbst wenn es auf irgendeine zynische Art sinnlos ist, sich Orte in einer Stadt zu merken, in der ich eh nur für eine begrenzte Zeit lebe, ist es doch ganz interessant. Ich sollte wohl generell mehr neue Dinge ausprobieren. Irgendwann mal, wenn ich Zeit dafür finde.

Evan hat mich bereits zweimal gefragt, was wir hier wollen. Er wirkt etwas irritiert und gleichzeitig so, als wollte er sich das nicht anmerken lassen. Es ist immer wieder ein gutes Gefühl, diesem sonst so ruhigen und abgeklärten Jungen einen Schritt voraus zu sein. Sonst ist eher Evan der, der mich an Orte schleppt, die mir vollkommen fremd sind. Heute haben wir uns beide ins Unbekannte gewagt. Zumindest wirkt Evan nicht, als hätte er bereits auf dem Weg hierher erkannt, wohin es geht. Auch scheint er auch niemand zu sein, der in seiner Freizeit gerne einkaufen geht, wie andere in unserem Alter.

Hier im Einkaufszentrum sind wir beide Fremde, die sich erst zurechtfinden müssen. Für das, was ich vorhabe, müssen wir auf einer Stufe stehen. Sonst kommt es mir immer vor, als wäre mir Evan überlegen und der, der mich anleitet. An jedem anderen Tag bin ich dankbar dafür, dass er so ist. Doch jetzt muss ich Evan zu mir hinunterziehen und auf Augenhöhe sein. Ein neuer Ort ist wohl meine einzige Chance, das zu erreichen.

Langsam wird mir das Schweigen zwischen uns zu viel. Es ist so untypisch für Evan, still hinter mir herzutrotten. Doch das liegt wohl daran, dass er versucht herauszufinden, was genau ich hier vorhabe. Vielleicht denkt er, dass ich irgendwelchen Mädchenkram machen möchte. Ich könnte es ihm nicht wirklich verdenken. Aber nein, so bin ich nicht, auch wenn Evan das nicht über mich wissen kann.

»Hast du Lust auf ein Eis?«, frage ich, während ich einen Blick über meine Schulter werfe.

Evan nickt langsam. »Klar, wieso nicht? Heute ist es ziemlich warm, da klingt ein Eis besser als eine heiße Schokolade.«

Irgendwie habe ich das Gefühl, dass der Junge sauer ist, dass wir etwas Neues ausprobieren. Sofort fühle ich mich schuldig. Vielleicht hätte ich ihn vorher fragen sollen, ob er einverstanden ist. Ich sollte nicht so egoistisch sein. Doch eigentlich sollte ich mir keine Vorwürfe machen. Immerhin will ich Evan etwas überrumpeln. So wenig ihm das auch gefallen wird.

Auf seine Antwort hin kann ich nur nicken. Dann herrscht wieder diese Stille, die heute so anders ist als sonst. Plötzlich ist mir kalt. Ob ich vielleicht von meinem Plan abkommen sollte? Heute ist vielleicht nicht der richtige Tag dafür. Doch was sollen wir sonst hier machen? Mein Begleiter soll meine Unsicherheit nicht merken. Ich fühle mich so hilflos. Aber ich muss ruhig bleiben. Beim Eis essen kann ich mir vielleicht noch etwas überlegen.

Zusammen fahren wir vom Erdgeschoss aus eine Etage nach oben. Auf der Rolltreppe kommt mir wieder die Metapher in den Sinn, die Evan mir an seinem Geburtstag hat erklären wollen. Sie kommt mir in diesem Moment so passend vor. Ich bin eingeklemmt zwischen Menschen, es gibt kein Vor oder Zurück und doch geht es immer weiter aufwärts. So hat es sich die ganze Zeit seit meinem dummen Suizidversuch angefühlt. Ich habe nichts mit meinem eigenen traurigen Erfolg zu tun gehabt. Doch jetzt ist das zum Glück vorbei und ich kann sagen, dass eine gute Freundschaft aus diesem unglücklichen Zufall heraus entstanden ist.

»Ich bin froh, dass jetzt alles wieder normal ist«, sage ich leise an Evan gewandt. Sofort taucht er aus seinen Gedanken auf und schaut mich dennoch an, als wäre er gerade ganz woanders.

Trotzdem fahre ich fort. »Danke, dass du wirklich mein Freund bist und nicht nur bis zum Ende unseres komischen Ruhms geblieben bist. Ich weiß, das klingt so, als würde ich dir nicht vertrauen, aber darum geht es nicht. Ich dachte nur nicht, dass ich jemals wieder jemanden so an mich heranlassen könnte. Ich wollte keine Freunde mehr haben, um niemanden mehr verletzen zu müssen. Aber du hast mir erst gezeigt, was ich alles verpasst habe. Danke, dass du mein Freund bist, Evan. Irgendwie fühlt es sich an, als wären wir jetzt am Höhepunkt unserer Freundschaft angekommen.«

Ich erhalte keine Antwort. Vielleicht hat Evan nicht mal zugehört. Genauso wie die anderen Leute um uns herum, wenn ich mich so umschaue. Niemand wendet beschämt den Blick von uns ab oder wirkt sonst so, als hätte er gelauscht. Für einen kurzen Moment fühle ich mich wieder wie ein Geist, den niemand sehen oder hören kann. Wenn ich ehrlich bin, führe ich Selbstgespräche. Ich bin verloren in meiner eigenen Welt, aus der es kein Entkommen mehr gibt. Das Chaos wird wieder lauter. Mehrere Tage hat es geschwiegen, doch jetzt, wo ich wieder zurück in die Dunkelheit geworfen werde, kommt es wieder hervor, um nachzutreten.

Ich muss mich ablenken. Das Chaos darf nicht lauter werden. Nicht, wenn gerade alles so normal sein könnte. Was ist heute nur los mit mir? Alles scheint aus dem Ruder zu laufen, nur weil ich einmal die Kontrolle über die Situation haben möchte. Muss ich denn immer ein passiver Zuschauer sein? Ich will das nicht. Heute kann mich das Schicksal mal kreuzweise.

Oben angekommen, weise ich Evan an, sich schon mal auf eine Bank in der Nähe der Eisdiele zu setzen. Dann frage ich ihn, welche Sorte Eis ich ihm holen soll. Plötzlich ist mein Freund zurück. Evan blinzelt kurz, ehe er mir sagt, dass ich ihm nichts holen muss und er mich einladen möchte. Doch ich winke ab.

»Nein, heute bin ich dran. Ich muss mich dafür entschuldigen, dass ich dich aus deiner Komfortzone geholt habe. Also, was möchtest du haben?«

Der Junge seufzt leise auf, ehe er dann einfach nachgibt. »Schokolade und Zitrone, bitte.«

Ich nicke und schenke ihm ein kleines Lächeln, ehe ich hinüber zum Tresen gehe, um meine Bestellung aufzugeben. Es fühlt sich gut an, dass ich meinen Willen habe durchsetzen können. Evan scheint mittlerweile auch nicht mehr sauer zu sein. Mir macht nicht einmal das Bestellen etwas aus. Das falsche Lächeln der jungen Frau hinter dem Tresen stört mich nur minimal, doch es ist schon vergessen, als ich mit zwei Eiswaffeln in der Hand zurück zu Evan gehe. Ich wundere mich auch nicht darüber, wie man Zitroneneis zusammen mit Schokoladeneis essen kann, sondern reiche meinem Freund einfach nur seine Bestellung.

Dann setze ich mich neben ihn und mache mich über meinen Kirsch-Bananeneis-Mix her. Es fühlt sich wie eine Belohnung an. Sonst bin ich immer so unruhig und gestresst, wenn ich mit fremden Menschen reden muss. Ich weiß nie, was ich sagen soll, habe das Gefühl, dass mich der andere nicht richtig versteht und bin generell verloren, während ich mir Sorgen über die Fehler mache, die ich eventuell machen könnte. Doch heute ist es anders. Jede Unsicherheit ist verflogen. Seit Evan wieder aus seinen Gedanken aufgetaucht ist, färbt wieder seine Ruhe auf mich ab.

Wieder schweigen wir. Doch diese neue Stille ist fast schon angenehm. Jeder hängt seinen eigenen Gedanken nach und doch steht nichts mehr zwischen uns, wie es noch ein paar Minuten zuvor der Fall gewesen ist. Ich bin glücklich. Deswegen denke ich auch gar nicht mehr daran, den Plan, der seit gestern in meinem Kopf herumspukt, zu verwerfen.

Ich bin mir sicher, dass heute der richtige Tag ist. Man sollte Dinge wie diese generell nicht aufschieben, denke ich. Der perfekte Moment kommt nicht, wenn man auf ihn wartet. Das ist irgendein ungeschriebenes Naturgesetz, von dem jeder weiß, aber das niemand wirklich beachten will.

Das Schweigen hält an, bis wir beide fertig mit unserem Eis sind. Ich will schon anfangen, meinen Plan in die Tat umzusetzen, da fällt mir Evan ins Wort.

»Was ist los? Irgendetwas stimmt nicht und ich komme einfach nicht drauf, was es sein könnte. Es macht mich fertig. Ist irgendetwas passiert?«

Ich bin fast dankbar dafür, dass er mir diesen Einstieg ins Gespräch gibt. Die Außenwelt ist in diesem Moment vollkommen irrelevant. Es gibt nur noch Evan und mich. Alles steht still, während ich noch nach den richtigen Worten suche, ehe ich mich dazu entschließe, einfach nur zu reden, bevor das Chaos mich wieder zweifeln lassen kann.

»Ich möchte, dass wir wieder vollkommen ehrlich zueinander sind«, werfe ich einfach in den Raum.

»Wieder? Ich habe keine Geheimnisse vor dir. Willst du denn etwas loswerden?«

Ich übergehe Evans Frage einfach. Er will ablenken. Zumindest kommt es mir so vor. Doch ich will ihm diesen Fluchtweg versperren. Heute habe ich die Kontrolle über das Gespräch. Und ich möchte etwas Bestimmtes hören und werde auch so lange nachhaken, bis ich es endlich von Evan höre.

»Bitte lüg mich nicht an«, erwidere ich deshalb. »Denkst du, ich sehe nicht, dass es dir seit Tagen schlecht geht? Ich mache mir Sorgen um dich. Deshalb möchte ich die Wahrheit wissen. Was ist los?«

Evan seufzt leise auf. Er scheint einzusehen, dass es keinen Zweck hat, vor diesem unangenehmen Thema wegzulaufen. Ich bin dankbar dafür. Denn ich glaube nicht, dass ich wirklich gegen die Redegewandtheit dieses Jungen ankommen würde, wenn es wirklich darauf ankäme. Er scheint zu verstehen, dass mir wichtig ist, dass er mir gerade das nicht verheimlicht. Weil die Wahrheit immer noch besser ist als irgendein Verdacht, der sich irgendwann zur übertriebenen Lüge aufschaukelt.

»Okay, du hast recht«, gibt Evan nach. »Mir geht es schlechter, ja. Ich habe eigentlich versucht, es vor dir zu verheimlichen, damit du dir eben keine Sorgen machen musst. Aber ich bin ein offenes Buch für dich, was?«

Er hält kurz inne, als würde er eine Antwort von mir erwarten. Doch ehe ich das überhaupt realisiere, fährt der Junge schon fort.

»Ich bin deswegen auch schon beim Arzt gewesen, bevor du fragst. Der Tumor ist wieder da. Ich habe nicht genau verstanden, was der Arzt gesagt hat, aber er meinte, dass ich eigentlich schon sehr viel früher hätte kommen müssen. Scheinbar ist dieser Parasit schon in einem sehr fortgeschrittenen Stadium und an einer Stelle, an der eine Operation riskanter als hilfreich wäre. Deswegen bin ich auch so lange nicht alarmiert gewesen. Ich dachte, mein Hirn spielt einfach verrückt. So wie immer. Aber nein, scheinbar habe ich mir mit meiner Sorglosigkeit die Chance auf Heilung verbaut. Schon ziemlich dämlich, was?«

Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Die Welt steht Kopf und dreht sich nur noch in Zeitlupe. Meine Sorgen sind berechtigt gewesen. Warum kann es kein falscher Verdacht gewesen sein? Ich verfluche mich dafür, überhaupt gefragt zu haben. Zu gerne würde ich Evan gerade umarmen und sagen, dass alles wieder gut wird. Doch das wäre eine Lüge. Deswegen sitze ich einfach da und versuche zu verarbeiten, was mein bester Freund mir da gerade gesagt hat.

»Es tut mir leid«, ist alles, was ich gerade herausbringe. Mein Kopf ist leer, als hätte ich mir diesen angestoßen, nachdem man mir so den Boden unter den Füßen weggezogen hat. Am liebsten würde ich einfach alles ungeschehen machen. Vor allem diesen Tumor, der meinen besten Freund so sehr leiden lässt.

»Muss es nicht.« Evan ist so ruhig, dass es mir in der Seele wehtut. »Niemand weiß, was der Tumor genau für Auswirkungen hat. Vielleicht ist das alles nur eine Phase und irgendwann wird es mir wieder gut gehen. Der Arzt hat zumindest nicht das Gegenteil behauptet, als ich ihm das gesagt habe. Deswegen bleibt das erst mal unter Geheimnis, in Ordnung? Abgesehen von dem Arzt und mir selbst weißt nur du davon. Und du weißt bestimmt selbst, wie es ist, wenn ein Geheimnis ans Tageslicht kommt und man plötzlich von Fremden so sehr bemitleidet wird, dass man nicht mehr ernst genommen wird. Ich will das nicht. Vor allem weil ich nicht weiß, wohin die Reise gehen wird. Ich hoffe einfach, dass du mich jetzt nicht allein lässt. Du gibst mir Kraft, Taissa. Wenn du da bist, habe ich nicht da Gefühl, meinen Verstand zu verlieren, wenn ich über das nachdenke, was sein könnte.«

Ich komme mir so schuldig vor. Eigentlich sollte meine Nachricht heute die sein, die alle schockiert. Doch wenn ich jetzt Evan mein Geheimnis offenbaren soll, komme ich mir wie ein Verräter vor. Ich scheine ihm wirklich Hoffnung zu geben. Warum sollte ich das kaputtmachen wollen? Doch ich muss mein Geheimnis preisgeben, das ich auch nur unter Verschluss gehalten habe, um Evan nicht zu beunruhigen. Ich will ehrlich sein. So sehr es auch wehtut, allein an die Worte zu denken, an die ich gleich aussprechen werde.

»Natürlich lasse ich dich jetzt nicht allein«, fange ich an. »Ich bleibe bei dir, solange es nur geht.«

Schon bevor ich fertig bin, sehe ich schon das Misstrauen in Evans Gesicht. »Was genau meinst du damit?«

Ich wende meinen Blick von ihm ab. Es fällt mir schwer, ihn anzusehen, wenn ich mein Versprechen brechen muss, direkt nachdem ich es abgegeben habe.

»Mein Vater hat einen neuen Job«, sage ich langsam, weil ich selbst kaum glauben kann, was das eigentlich bedeutet. »Wir müssen bald wieder umziehen. Es tut mir so leid, Evan. Wenn ich könnte, würde ich hier bei dir bleiben. Aber dann würde alles auffliegen, oder? Meine Eltern würden mich wohl nie zurücklassen und deine würden mich dafür hassen, dass ich vor ihnen von dem Tumor gewusst habe. Das ist das erste Mal, dass es wichtig wäre zu bleiben und doch werde ich einfach gezwungen zu gehen. Aber ich will dir auch kein Versprechen geben, das ich am Ende nicht halten kann.«

Ich fühle mich den Tränen nahe. Was sage ich da eigentlich? Ich bin zu beschäftigt damit zu begreifen, was gerade passiert, um mir selbst zuzuhören. Meine Gedanken sind so wirr. Ich kann sie nicht greifen und ich weiß nicht, was ich tun soll. Alles wirkt so sinnlos in diesem Moment. Warum kann das Leben nicht einmal einfach sein?

Jetzt ist Evan wieder der, der die Kontrolle über die Situation hat. Ich bin dankbar dafür, denn ich habe gerade das Gefühl, mich selbst zu verlieren. So muss es sich anfühlen, wirklich die Kontrolle über sich und sein Leben zu verlieren. So schlecht habe ich mich nicht einmal bei meinem Selbstmordversuch gefühlt. Jetzt weiß ich wieder, warum ich eigentlich keine Freunde mehr habe haben wollen. Um genau dieses Gefühl der Zerrissenheit nicht mehr fühlen zu müssen. Dass diese beiden schlechten Nachrichten miteinander streiten, wer die schlimmere von beiden ist, kommt mir wie eine Strafe dafür vor, dass ich mir mein Leben zu lange viel zu leicht gemacht habe.

Evan spürt wohl, dass ich gerade kurz davor bin, zusammenzubrechen. Ihm ist die Welt egal, als er mich in eine Umarmung zieht. Er sollte der sein, der weint und das Schicksal hinterfragt, nicht ich. Stattdessen hält dieser Junge mich jetzt fest und lässt damit wieder seine Ruhe auf mich überspringen. Ich hasse mich dafür, dass ich mich jetzt nicht zusammenreißen kann. Das Chaos in meinem Kopf ist lauter denn je und doch will ich mich gerade nicht auf die Vorwürfe und das Selbstmitleid konzentrieren. Ich will für Evan da sein. So wie er es gerade für mich ist.

»Mach dir keine Sorgen. Nur weil du wegziehst, bist du ja nicht aus der Welt. Es reicht mir, wenn wir immer wieder schreiben und telefonieren. Wenn ihr nicht allzu weit wegzieht, können wir uns bestimmt auch immer mal wieder sehen. Das ist kein Weltuntergang. Wir kriegen das schon zusammen hin. Außerdem haben wir ja sicher noch etwas Zeit. Ihr werdet ja nicht morgen wegziehen, oder?«

Ich schüttle mit dem Kopf und löse mich langsam aus der Umarmung. Mir geht es besser. Evan ist wirklich mein Fels in der Brandung. Was soll ich nur ohne ihn machen?

»Es ist noch etwa einen Monat hin, bis wir wegziehen, haben meine Eltern gesagt«, antworte ich leise.

»Siehst du?« Evan schenkt mir ein Lächeln. »Wir haben also noch Zeit. Und wenn wir wissen, dass sie begrenzt ist, können wir sie viel besser nutzen, findest du nicht auch?«

Mir kommt es trotzdem vor, als wäre es viel zu wenig, um Loslassen zu können. Doch diesen Gedanken schiebe ich für den Moment zur Seite. Ich muss mich zusammenreißen. Deshalb nicke ich nur. Evan gibt sich damit glücklicherweise zufrieden. Vermutlich sieht man mir deutlich an, dass ich gerade kaum noch klar denken kann.

»Komm, lass uns gehen. Ich bring dich nach Hause, dann kannst du dich erst mal ausruhen.«

Er will aufstehen, doch ich greife nach seiner Jacke, um ihn daran zu hindern. »Du kommst aber noch mit rein, oder? Ich will gerade nicht alleine sein.«

Der Junge nickt und löst meine Hand von seiner Jacke, um mich schließlich auf die Beine zu ziehen. »Klar. Ich kann bleiben, solange du das möchtest.«

Am liebsten hätte ich jetzt mit »Dann für immer« geantwortet, doch es kommt mir wieder vor, als wäre das ein guter Moment, um nichts zu sagen. Deshalb lasse ich mich jetzt von Evan aus dem Einkaufszentrum führen. Noch immer fühle ich mich etwas taub. Haben wir jetzt die Rollen getauscht? Vielleicht sollte ich froh darüber sein. Die Führungsrolle steht mir nicht. Da sollte ich eher froh sein, so einen starken besten Freund zu haben, der mich auffangen kann, wenn ich mal wieder falle.

Als wir die Rolltreppe zurück ins Erdgeschoss nehmen, muss ich wieder an Evans Erfolgsmetapher denken. Jetzt geht es wieder bergab. Doch er hat recht, es muss nicht das Ende der Welt bedeuten. Wir müssen jetzt nur da Beste aus der Zeit machen, die uns noch zusammen bleibt. Damit wir dem Ende dieser zumindest mit guten Erinnerungen entgegengehen können.

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