Kapitel 15: Künstlersorgen

Ich fühle mich so leer. Seit dem Tag im Baumhaus ist wieder ein wenig Zeit vergangen und mittlerweile haben Evan und ich alles durchgeplant. Wir werden im Baumhaus feiern. Allein. Weil dieser Junge niemanden anderen an diesem besonderen Tag sehen möchte. Ich fühle mich auf eine seltsame Weise geehrt. Evan hat recht gehabt, wir sind abhängig voneinander. Nur zusammen sind wir glücklich, weil wir dann vollständig sind.

Deshalb kann ich immer noch nicht verstehen, warum wir alles im Geheimen planen müssen. Was können nur seine Eltern gegen mich haben? Evan hat gesagt, dass seine Mutter nicht möchte, dass er eine Freundin hat. Weil sie paranoid ist. Doch selbst wenn der Junge und ich zusammen wären, könnte es Evans Mutter nicht einfach unter den Teppich kehren. Will sie denn nicht, dass ihr Sohn glücklich ist? Es klingt immer noch komisch, dass ich Evan glücklich machen soll. Doch er hat es selbst gesagt. Mehrfach sogar. Da muss ich mich wohl an diesen Gedanken gewöhnen. Ebenso wie Evans Mutter. Ich weiß nicht, für wen von uns beiden das schwieriger sein wird.

Ich fühle mich wieder wie ein Kind. Evan und ich planen geheime Treffen, haben zusammen in einem Baumhaus übernachtet und holen generell das nach, was Kinder sonst so tun. Wir haben das damals beide verpasst. Ich hätte auch nicht gedacht, dass ich diesen ganzen Kinderkram vermissen würde. Doch jetzt, wo ich diese ganzen Dinge nachhole, weiß ich erst, wie viel ich doch verpasst habe. Wie ist das nur passiert? Ich hätte gar nicht gedacht, dass meine Kindheit sich so sehr von der von anderen in meinem Alter unterscheiden würde. Doch sie tut es scheinbar.

Was ist nur schiefgelaufen? Es kann immerhin nicht nur an den Umzügen liegen. Vielleicht bin ich einfach seltsam. Deshalb habe ich nie echte Freundschaften geschlossen und keine Erinnerungen mehr an alte Zeiten. Zumindest keine, wo es sich lohnen würde, sich an diese zu erinnern. Wie kann man nur so leer sein? Ich fühle mich schlecht, dass ich mir die ganze Zeit selbst im Weg gestanden habe. So viel Zeit habe ich verschwendet, weil ich mich lieber eingeigelt habe, anstatt mich der Außenwelt zu stellen, selbst wenn diese immer wieder zusammengebrochen ist, um vollkommen neu aufgebaut zu werden.

Aber jetzt habe ich Evan und zumindest eine Chance, einige Sachen nachzuholen. Das muss wohl wirklich Schicksal sein. Der Junge soll mir zeigen, wie man lebt, obwohl er es doch selbst nicht weiß. Wir sind beide so unbeholfen und trotzdem wird das Chaos in mir Tag für Tag leiser. Hätte ich Evan früher getroffen, hätte ich wohl nie die Lust am Leben verloren. Oder einen Hass auf Worte entwickelt, der auch immer schwächer wird. Evan heilt mich. Ich hoffe einfach, dass ich einen ähnlichen Effekt auf ihn habe. Was auch immer ihn zuvor belastet hat.

Ich sollte mich jetzt auf das Wesentliche konzentrieren. Evans Geburtstagsfeier steht bevor und obwohl wir alles durchgeplant haben, fehlt noch etwas. Ich brauche ein Geschenk. Seit Stunden gehe ich jetzt schon wie ein eingesperrtes Tier in meinem Zimmer auf und ab und überlege, was ich meinem besten Freund schenken könnte. Wer hätte ahnen können, dass das so schwierig sein könnte? Nichts kommt mir gut genug vor. Ich habe auch kein Geld, um großartig irgendetwas zu kaufen. Woher soll ich auch wissen, worüber Evan sich freuen würde? Ich will ihn mit dem Geburtstagsgeschenk nicht enttäuschen.

Vielleicht sollte ich meine Eltern fragen, ob sie eine Idee haben? Sie würden mir vermutlich auch Geld geben, um etwas Passendes suchen zu können. Doch das kommt mir falsch vor. Ich sollte das allein tun. Es ist die erste Geburtstagsparty, zu der ich seit Ewigkeiten eingeladen werde. Ich sollte es schaffen, ein passendes Geschenk für Evan zu finden. Auch wenn ich nicht wirklich einen Anhaltspunkt habe.

Obwohl wir so viel reden, weiß ich kaum etwas über meinen besten Freund. Evan ist ein Mysterium und ist viel zu gut darin, geheimnisvoll zu wirken, obwohl er doch vollkommen ehrlich zu mir sein will. Ich werde aus diesem Jungen nicht schlau. Doch ich sollte es wohl langsam werden. Mit leeren Händen werde ich sicher nicht bei Evans Geburtstag auftauchen. Selbst wenn ich ihn jetzt schon sagen höre, dass es ihm schon reicht, dass ich anwesend bin. Dieser Junge verdient ein Geschenk. Es kann doch nicht so schwer sein, etwas Passendes zu finden.

Würde Evan sich vielleicht über ein Videospiel freuen? Ich weiß nicht mal, ob er welche spielt, geschweige denn welche Art und für welche Konsole. Gut, das fällt dann schon mal raus. Ein Parfüm kommt immer falsch an. Ein Buch? Er schreibt gern, aber das verrät mir nicht, welche Art von Büchern er mag. Da könnte ich auch vollkommen daneben liegen. Kleidung? Ich bin nicht seine Mutter. Vielleicht ein neues Notizbuch? Was wäre, wenn er es hässlich findet? Kann man einfach einen Stift schenken? Das kommt vermutlich auch etwas merkwürdig an. Ein Gutschein wäre zu einfach und faul. Evan ist mir mehr wert als das. Und das Geschenk soll auch genau das aussagen.

Es wird wohl eher weniger etwas Gekauftes sein. Selbst gemachtes kommt wohl generell besser an. Zumindest, wenn es gut gemacht ist. Doch was soll ich tun? Was ist, wenn es Evan am Ende nicht gefällt, obwohl ich mein Herz in das Geschenk gesteckt habe? Das will ich mir gar nicht vorstellen. Deshalb sollte ich auch nicht einfach drauf los malen. Ich sollte mir eher genau überlegen, was ich tun möchte, bevor ich anfange. Alles muss perfekt sein.

Mache ich mir damit eigentlich zu viel Druck? Vielleicht. Aber ich habe eben Ansprüche an das Geschenk. Auch wenn Evan nie erfahren wird, wie viele Gedanken ich mir darüber gemacht habe. Er soll sich einfach freuen. Mehr will ich gar nicht. Und trotzdem kommt es mir vor, als wäre genau das so ziemlich unmöglich.

Ich stoppe mitten in der Bewegung, als mir endlich etwas einfällt. Evan hat mir vor zwei Tagen eine Kurzgeschichte gegeben, die er vor Kurzem beendet und überarbeitet hat. Es ist ihm peinlich gewesen, sie vorzulesen, doch der Junge hat meine Meinung hören wollen. Ich bin so dankbar dafür gewesen, dass er mir ein Stück seiner ganz eigenen Kunst gegeben hat, dass ich die Geschichte in einem Stück gelesen habe. Wäre sie von irgendeinem Autor gewesen, hätte ich mich eher durchgequält, weil ich generell beim Lesen wenig Ausdauer habe. Doch bei Evan ist es etwas anderes. Er kann mit Worten umgehen und irgendetwas an seinem Schreibstil macht beinahe süchtig. Er hat etwas Rhythmisches und Leichtes an sich, was einen mitreißt. Evan ist talentiert. Eigentlich habe ich die Geschichte seinetwegen lesen wollen, doch am Ende habe ich mich in die Kunst selbst verliebt.

Das habe ich ihm auch gesagt. Dieser Junge ist so peinlich berührt gewesen, dass man glauben könnte, niemand zuvor hätte ihm das zuvor gesagt. Vermutlich hat das auch niemand, so wie Evan immer von seinen Eltern spricht. Dann muss ich ihm das wohl öfter sagen. Wann immer er eine Geschichte beendet, sollte ich diese lesen und Evan in den Himmel loben. Bis er selbst weiß, wie talentiert er ist.

Die Geschichte, die ich gelesen habe, beginnt mit dem Tod einer jungen Frau, die sich vor die U-Bahn geworfen hat. Alles deutet auf einen Selbstmord hin, bis ein Augenzeuge, dem das alles ein wenig komisch vorkommt, genauer hinschaut. Evan erzählt die Geschichte rückwärts und so, als würde man selbst in der Rolle des Augenzeugen stecken und auch selbst zu den Schlüssen kommen, die schließlich zur Auflösung des Falles führen. Da hat mich vermutlich auch so süchtig nach der Geschichte gemacht. Sie ist interaktiv, ohne es wirklich zu sein. Es ist alles festgeschrieben, doch es fühlt sich beim Lesen nicht so an.

Wie auch immer Evan das hinkriegt, ich mag es. Bei seinen Geschichten wird man nicht direkt in eine Rolle gepresst, die sich selbst für die kurze Dauer des Lesens wie eine Last anfühlt. Genauso ist man nicht nur ein passiver Beobachter des Geschehens, das vor dem inneren Auge abläuft. Das ist wohl die wahre Kunst des Schreibens. Evan weiß, wie man Geschichten erzählt. Und ich will ihm mit meinem Geschenk sagen, wie gut er das kann. Außerdem will ich dem Jungen auch beweisen, dass er mir zurecht sein Vertrauen geschenkt hat, als er mir die Geschichte gegeben hat. Ich habe ihn überreden müssen, weil es ihm so peinlich gewesen ist, dass jemand außer ihm seine Werke liest.

Deshalb will ich die Bilder, die sich beim Lesen in meinem Kopf abgespielt haben, zu Papier bringen. Nur ohne die Farben. Damit es Evan nicht am Ende noch Schmerzen bereitet, die Bilder anzuschauen. Ich will, dass die Bilder das perfekte Geschenk sind. Wie muss es sich eigentlich anfühlen, wenn man eine Geschichte schreibt und man die am Ende in einem Comic oder Ähnlichem umgesetzt sieht? Vermutlich freut man sich als Autor zunächst darüber, ehe man die Fehler sieht, die der Künstler bei der Umsetzung gemacht hat. Ich hoffe einfach, dass ich Evans Kurzgeschichte genauso zeichnen kann wie die Bilder, die ihm beim Schreiben keine Ruhe gelassen haben. Sein bildlicher Schreibstil sollte mir das recht leicht machen. Hoffe ich zumindest.

Noch während ich darüber nachdenke, wie ich das Geschenk am besten umsetzen könnte, habe ich das Gefühl, dass mir die Zeit davonläuft. Deswegen setze ich mich nun lieber an meinem Schreibtisch, lege etwas Schmierpapier und meine Bleistifte samt Radiergummi bereit und stelle mir eine halbwegs passende Playlist zusammen, um noch etwas Zeit zum Nachdenken zu schinden. Ich muss mich vorbereiten. Allein die Skizzen, die ich erst einmal anfertigen will, kommen mir schon kompliziert genug vor. Doch es gibt kein Zurück mehr. Ich habe einen Entschluss gefasst und werde nicht zurückschrecken, nur weil es schwierig werden könnte.

Sobald also die Musik läuft, schalte ich meine Zweifel aus und beginne damit, Evans Kurzgeschichte noch einmal aufmerksam zu lesen, um auch ja keinen Fehler machen zu müssen, der das Geschenk wertlos machen könnte.

Als ich schließlich mit den Skizzen fertig und gerade dabei bin, das erste finale Bild anzufangen, wird es gerade wieder hell. Ich habe wieder einmal kaum mitbekommen, wie schnell die Zeit verflogen ist. Scheinbar habe ich die ganze Nacht durchgearbeitet. Um mich herum liegen verworfene Skizzen, der Papierkorb quillt über und generell herrscht ein Chaos, das mich sonst an den Rand des Wahnsinns bringen würde. Doch meine Gedanken sind heute ruhig und ich bin immer noch so vertieft in meine Aufgabe, dass ich auch nur noch diese wirklich wahrnehme.

Nur langsam komme ich wieder zu mir. Ich muss mich von dem losreißen, was ich gerade noch so konzentriert getan habe, um mich wieder in den Alltag zu stürzen. Als ich mit den Skizzen angefangen habe, habe ich vollkommen verdrängt, dass ich heute wieder zur Schule muss. Müde bin ich erstaunlicherweise nicht, doch ich weiß, dass ich im Unterricht einschlafen werde, sobald ich mit den Gedanken nicht mehr bei Evans Geschenk bin.

Vielleicht sollte ich in der Schule mit dem Gedicht anfangen, das ich Evan zusätzlich schreiben möchte. Die Idee ist mir mitten in der Nacht gekommen, als ich in einer kurzen Schaffenskrise gesteckt habe. Ich will damit einen Schritt auf meinen neuen besten Freund zugehen. Schließlich muss ich auch versuchen, aus meiner Wohlfühlzone herauszukommen. Zumindest ein wenig. Ich hoffe, Evan wird es zu schätzen wissen. Was denke ich da? Natürlich wird dieser Junge die Geste genauso verstehen, wie ich sie meine. Wir sind viel zu sehr auf einer Wellenlänge, damit irgendetwas schief gehen kann.

Nur widerstrebend kann ich mich von meiner Aufgabe lösen, um mich auf den kommenden Tag vorzubereiten. Für einen Moment spiele ich mit dem Gedanken, die Schule heute ausfallen zu lassen, um weiter an den Bildern arbeiten zu können. Es wäre so einfach. Selbst meine Eltern hätten wohl nichts dagegen, wenn ich ihnen meine Situation erklären würde.

Doch alles muss normal wirken. Evan darf sich wegen meiner Abwesenheit nichts zusammenreimen. Am Ende würde er mir nur wieder die Hausaufgaben vorbeibringen wollen und hier ungefragt auftauchen. Ich kenne mich gut genug, um zu wissen, dass ich Evans Neugier nicht standhalten könnte und auch keine gute Ausrede parat hätte, was es eigentlich mit diesen ganzen Skizzen auf meinem Schreibtisch auf sich hat. Der Junge soll nur das fertige Geschenk sehen, nicht das unfertige Chaos hier. Ich sollte wohl alles verstecken, was mit meinem Projekt zu tun hat. Nur zur Sicherheit.

Ich muss zur Schule. Allein Evan zu sehen, lässt mich vermutlich neue Energie schöpfen. Dann geht bestimmt auch die Müdigkeit weg, die sich gerade breitmacht. Die Welt wird etwas taub um mich herum. Das kann ja nur ein toller Tag werden. Ich sollte mich ausruhen. Doch gleichzeitig muss ich zur Schule. Damit ich mein Geheimnis wahren kann und nicht aufschieben kann, das Gedicht zu schreiben.

Doch während ich mich also für die Schule fertigmachen will, werde ich von der Stimme meiner Mutter unterbrochen. »Taissa?«

Ich erstarre noch während ich ein Outfit für den Tag raussuchen und dann im Badezimmer verschwinden will. Es ist ungewöhnlich, dass meine Mutter nicht ins Zimmer kommt, um mich zu wecken. Weiß sie etwa bereits, dass ich wach bin? Vielleicht will sie darüber reden. Meine Mutter ist wohl immer noch in Alarmbereitschaft. Ich kann ihr da keine Vorwürfe machen, schätze ich. Ich habe mit meiner dummen Aktion unsere Familie so gut wie kaputtgemacht. Jetzt muss ich mir das Vertrauen meiner Eltern erst wieder erarbeiten.

Meine Mutter ruft noch einmal nach mir. Schnell ziehe ich mich an und haste hinunter ins Wohnzimmer. Noch ehe ich eine Entschuldigung oder ein »Guten Morgen« murmeln kann, bittet mich meine Mutter, mich zu setzen. Ich werde immer misstrauischer. Irgendetwas ist seltsam. Vor allem, weil mein Vater noch hier ist. Sollte er nicht schon bei der Arbeit sein? Warum sehen beide so bedrückt aus?

»Wir müssen dir etwas sagen«, leitet meine Mutter das Gespräch ein. Ihre Stimme klingt so schleppend und leer, dass es mir einen kalten Schauer den Rücken hinunterjagt.

Sofort ist die Schule, Evans Geschenk und alles andere um mich herum vergessen. Was wollen meine Eltern mir sagen, was nicht bis nach der Schule warten kann?

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