Kapitel 14: Festung der Einsamkeit
Als ich bei dem Baumhaus mitten im Nichts ankomme, wartet Evan schon auf mich. Ich fühle mich schuldig, weil ich ihn so lange habe warten lassen. Ehe ich mitbekommen habe, dass er mich versucht hat anzurufen, ist bestimmt eine Stunde vergangen. Bis ich dann seine Textnachricht verstanden und mich auf den Weg gemacht habe, vermutlich eine weitere. Ich habe erst nicht kommen wollen. Nicht unbedingt, weil ich Besseres zu tun gehabt habe oder nicht gerne Zeit mit Evan verbringen würde. Eher, weil ich ihn so lange habe warten lassen. Ich will diesen Jungen nicht sauer machen. Deshalb habe ich Angst gehabt, herzukommen. Die Fahrt über ist mir ganz flau im Magen gewesen. Ich hasse es, zu spät zu kommen.
Aber bevor ich mich entschuldigen kann, fällt Evan mir ins Wort. »Danke, dass du gekommen bist.«
Er klingt nicht einmal im Geringsten vorwurfsvoll. Trotzdem sehe ich ihm an, dass irgendetwas nicht stimmt. Der Junge lächelt, doch es liegt ein Schatten auf seinem Gesicht, der jede ehrliche Emotion zu schlucken scheint. Evan trägt eine Maske. Und hinter dieser lauert etwas, was er mir nicht zeigen will. Zumindest in diesem Moment noch nicht.
»Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat«, nuschle ich beschämt. »Ich habe meiner Mutter etwas im Haushalt geholfen und mein Handy war nicht bei mir. Ich hoffe, du bist nicht sauer.«
Meine Ausrede klingt so lahm, doch es ist nun mal die Wahrheit. Was soll ich sonst sagen? Ich will ehrlich mit Evan sein. Gerade, um mein Gewissen etwas bereinigen zu können. Es funktioniert nur nicht wirklich. Ich fühle mich immer noch schuldig. Warum ist es mir nur so wichtig, was dieser Junge von mir denkt? Ich sollte nicht so viel auf seine Meinung geben. Und mich vor allem nicht so sehr selbst bestrafen, als hätte ich gerade jemanden umgebracht. Ich bin zu spät gekommen. Zu einem Treffen, von dem ich nichts gewusst habe. Evan hat nicht einmal eine Zeit genannt, zu der ich hier sein soll. Ich habe nichts verbrochen. Jetzt muss das nur noch in meinem Kopf ankommen.
»Ist schon okay«, winkt Evan ab. »Ich hätte nicht einmal wirklich erwartet, dass du herkommst. An deiner Stelle hätte ich meine Nachricht wohl einfach ignoriert. Umso besser finde ich, dass du jetzt hier bist. Und das bisschen Warten war kein Problem. Ich hatte eh vor, ein bisschen hierzubleiben. Mach dir also keine Gedanken.«
Ich nicke nur und setze mich zu Evan auf den Boden. Das Holz ist kalt, doch es stört mich nicht. Ich hätte eine dickere Jacke mitbringen sollen. Es ist Frühling, doch noch immer herrschen winterliche Temperaturen. Der Boden ist nicht direkt gefroren, aber auf dem Weg hierher hat jeder Schritt geknirscht. Auch ohne Schnee. Das Baumhaus schützt nicht direkt vor der Kälte. Wie auch ohne verschließbare Fenster oder Wärmedämmung? Ich ziehe meine Jacke etwas fester um mich. Doch es wird einfach nicht wärmer. Es kommt mir fast vor, als würde die Kälte von mir selbst kommen.
»Was ist das für ein Ort?«, frage ich leise, um mich von meinem eigenen Frösteln abzulenken. Diese Frage stelle ich oft in letzter Zeit. Doch was soll ich sonst sagen?
»Meine Zuflucht. Wenn mir das Café zu laut und warm ist. Ich weiß nicht, ob du das auch kennst, aber manchmal habe ich einfach das Gefühl, ganz allein auf der Welt sein zu müssen. Dann ist alles leise und ich kann abschalten. Das kann ich nur im Baumhaus haben. Selbst in einer Kleinstadt gibt es keine richtige Privatsphäre. Da muss man aus der Stadt raus, um sich wieder beruhigen zu können.«
Ich nicke langsam und setze endlich den Rucksack ab, um ihn vor mich zu stellen. »Hast du denn hier oft Zeit verbracht, als du noch ein Kind warst?«
Evan schüttelt mit dem Kopf. »Nein, das Baumhaus ist nicht meins. Ich habe es vor einigen Jahren gefunden, als ich von zu Hause weglaufen wollte. Klingt dumm, ich weiß. Aber damals hatte ich das Gefühl, es einfach nicht mehr daheim auszuhalten. Aber ich bin nie über den Stadtrand hinausgekommen. Das Baumhaus hat mich wieder zur Vernunft kommen lassen, als ich darin eine Nacht geschlafen habe. Seitdem komme ich immer wieder hierher, wenn ich eine Auszeit von der Welt brauche. Doch heute wollte ich nicht allein sein. Deswegen habe ich dich gebeten, herzukommen. Damit wir wirklich keine Geheimnisse mehr voreinander haben. Zumindest wenn es darum geht, wer wo seine Zeit verbringt.«
»Dann war es wohl doch eine gute Idee, dass ich zwischendurch noch einmal einen Stopp im Supermarkt gemacht habe«, stelle ich fast schon erleichtert fest, während ich meinen Rucksack öffne.
»Wie kommst du jetzt darauf?« Die Verwirrung in Evans Gesicht passt irgendwie nicht. Wo er doch sonst immer so abgeklärt wirkt und gerade so, als hätte er immer alles unter Kontrolle.
Nach und nach hole ich mehrere Tüten und Flaschen aus meinem Rucksack, um alles um uns herum auf den Boden zu stellen. Dafür ist fast das ganze Geld draufgegangen, das ich mir irgendwann mal mit der Hilfe im Haushalt bei dem alten Nachbarspärchen und durch das Hüten von fremden Kindern verdient habe. Doch das ist es mir wert gewesen. Das Geld habe ich ohnehin nicht gebraucht. Wofür auch? Je weniger ich besitze, desto besser. Dann kann ich weniger zurücklassen, wenn ich gehe.
Evan staunt wie ein kleines Kind am Weihnachtsmorgen, während er sich die ganzen Snacks und Getränke anschaut. »Warum?«, ist alles, was er dazu sagen kann.
»Irgendwie hatte ich da Gefühl, dass etwas nicht stimmt. Ich dachte bei deiner Nachricht sogar kurz daran, dass du weglaufen willst. Frag mich nicht, wie ich darauf gekommen bin. Deswegen habe ich auf der Fahrt hierher einen Zwischenstopp eingelegt und alles gegriffen, was man auf der Flucht mitnehmen und gebrauchen könnte. Jetzt kommt mir das etwas lächerlich vor, tut mir leid.«
Evan winkt wieder auf. »Ist es nicht«, fängt er lächelnd an. »Wie gesagt, ich hatte vor, eine Weile hierzubleiben. Weil ich es gerade wieder nicht bei mir zu Hause aushalte. Da kann ich ein bisschen Essen und was zu trinken gut gebrauchen. Also bevor ich in den Wald muss, um ein Reh zu erlegen oder so, nehme ich lieber die Chips. Wir sind wohl auf irgendeine komische Art auf einer Wellenlänge. Danke, Taissa.«
Ich erwidere sein Lächeln. »Nichts zu danken. Ich wollte nur helfen.«
Dann herrscht für eine Weile Schweigen. Da gibt mir Zeit, mich endlich umzusehen. Das Baumhaus wirkt alt. Vermutlich sind die Kinder, die es damals erbaut haben, schon längst im Altersheim. Es gibt einen kleinen Tisch aus Holz, auf dem ein Notizbuch liegt. Vermutlich hat Evan die Wartezeit mit Schreiben überbrückt. In der Ecke liegen ein paar Kissen und eine Decke. Alles wirkt verstaubt und wie aus einer vollkommen anderen Zeit. Trotzdem wirkt alles hier gemütlich auf mich. Der Wald um uns herum schirmt uns von der Außenwelt ab. Es ist idyllisch und ich habe das Gefühl, die Zeit würde stillstehen. Ich kann gut verstehen, dass Evan an diesen Ort kommt, wenn alles um ihn herum zusammenzubrechen scheint. Würde ich an seiner Stelle wohl ebenso tun, wenn ich so einen Ort kennen würde.
»Denkst du, es weiß jemand außer uns von diesem Baumhaus?«, frage ich leise, während ich hinaus in den Wald schaue. Die Aussicht hier ist atemberaubend, obwohl nichts daran wirklich besonders ist. Es liegt vermutlich an der Höhe. Trotzdem kann ich mich nicht satt daran sehen.
»Ich bin mir nicht sicher«, antwortet Evan. Er scheint gerade mit den Chips beschäftigt zu sein. Während er spricht, knistert jedes Wort. »Zumindest habe ich noch nie jemanden hier gesehen. Also außer mir natürlich. Ich hatte vor einiger Zeit die Theorie, dass hier mal eine Familie gelebt hat. Allein im Wald, abgeschieden von der Welt, die vermutlich grausam zu ihr gewesen ist. Die Kinder haben dieses Baumhaus gebaut und hier so lange gespielt, bis sie schließlich erwachsen wurden. Sie zogen weg und mussten ihr geliebtes Baumhaus zurücklassen. Die Eltern wussten nichts davon und deshalb ist dieser Ort hier in Vergessenheit geraten, bis ich ihn gefunden habe. Jetzt ist es mein Baumhaus. Ich kümmere mich darum, wenn ich eine Auszeit brauche. Zum Beispiel habe ich schon das Moos aus den Ecken entfernt und die alte Kissen und Decken ausgetauscht, die schon angefangen hatten zu schimmeln. Ich sollte wohl auch mal darüber nachdenken, so etwas wie Fensterläden zu bauen. Oder zumindest eine Truhe, in der das Bettzeug vor Regen und so geschützt wäre.«
Evan versinkt in seinen Gedanken. Ich weiß auch nicht wirklich, was ich sagen soll, also schweigen wir wieder für eine Weile. Es kommt mir falsch vor, meine Hilfe dabei anzubieten. Weil ich wieder nur ein Eindringling bin. Warum kann ich nicht einmal glauben, dass ich an einem fremden Ort willkommen bin? Evan hat mich eingeladen. Seine Zuflucht ist nun auch meine. Zumindest für eine kurze Zeit. Das Chaos soll leise sein. Ich will mich nur einmal gut fühlen. Vor allem, wenn mir jemand so sehr vertraut, dass er mir seine Geheimnisse offenbart.
Mein Blick fällt wieder auf das Notizbuch, während Evan weiter darüber nachzudenken scheint, wie er das Baumhaus mehr zu seinem eigenen machen kann. Wir brauchen einen Themenwechsel, glaube ich. Deswegen räuspere ich mich kurz und deute dann auf das Buch.
»Denkst du, dass das hier der richtige Moment ist, um dein Versprechen mir gegenüber einzulösen?«
Evan erwacht aus seiner Starre und blinzelt kurz etwas überrumpelt, ehe er mit dem Kopf schüttelt. »Schon, ja. Aber ich habe nicht wirklich etwas, um es dir zeigen zu können. In dem Notizbuch steht nur das, worüber ich vorhin nachgedacht habe. Das kann ich dir gerne erzählen, aber dazu brauche ich das Buch nicht. Setz dich.«
Der Junge deutet auf ein Kissen ihm gegenüber. Zu gern komme ich dieser Bitte nach, wende mich vom Fenster ab und setze mich Evan gegenüber. Mein Herz pocht plötzlich wie verrückt. Ich bin aufgeregt, ohne recht zu wissen, warum. Evan will nur seine Gedanken loswerden. Mehr ist das hier nicht. Es ist nicht mein erstes Mal oder etwas vergleichbar Intimes. Und auf irgendeine Weise ist es das doch. Ich kann diese Situation nicht einschätzen. Vermutlich macht mich das so unruhig.
Erwartungsvoll schaue ich Evan an. Auch er wirkt nervös. Immer wieder weicht er meinem Blick aus. Wir sind wohl wirklich auf einer Wellenlänge. So wie sich der eine fühlt, fühlt sich auch der andere. Das muss Freundschaft sein.
»Ich habe gedacht, dass ich plötzlich ans Schicksal glauben kann«, beginnt Evan leise und so, dass es klingt, als wäre es ihm peinlich. »Früher habe ich jeglichen Aberglauben für Schwachsinn gehalten. Nichts hatte einen Sinn und Zufälle waren einfach Zufälle. Bis zu dem Tag am Bahnhof. Wir beide waren verzweifelt auf unsere eigenen Weisen. Wir beide sind zur rechten Zeit am rechten Ort gewesen. Ein Zufall eben. Und doch ist es mehr als das gewesen. Wäre nur ein winziges Detail anders gewesen, hätten wir uns nie kennengelernt. Du wärst tot und ich wäre immer noch allein. Aber irgendetwas hat gewusst, dass wir uns treffen sollten. Gibt es denn eigentlich ein spektakuläreres erstes Treffen als unseres? Ich glaube kaum. Dieser eine Moment hat uns zusammengeschweißt, glaube ich. Deswegen fühlt es sich plötzlich an, als wären wir abhängig voneinander. Zumindest in einer gewissen Weise.«
Evan stoppt für einen Moment, um einen Schluck von seiner Cola zu nehmen. Das ist meine Chance, einzuhaken. »Dann denkst du also, dass irgendeine höhere Macht geplant hat, dass alles so läuft, wie es gelaufen ist?«
Der Junge schüttelt mit dem Kopf. »Nicht direkt, nein. Ich glaube schon, dass es Glück war. Ich glaube, an diesem Tag hättest du fast irgendein ungeschriebenes Gesetz gebrochen. Und es war ein Zufall, dass ich da war, um dich davon abzuhalten. Eine Tragödie ist abgewendet worden, was es erst zum Glück macht, denke ich. Denn eigentlich kann ja nur ein Albtraum eine glückliche Wendung nehmen, die auch als solche spürbar ist. Wenn man glücklich ist, bringt man sich nicht um. Und wenn man glücklich ist, rettet man auch niemanden. Beides ist ein Hilfeschrei auf seine eigene Weise. Und unsere Hilfeschreie wurden an diesem Tag vom jeweils anderen erhört. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, dass wir deshalb voneinander abhängig sind. Keine Ahnung, wie es dir geht, aber mir geht es gut, wenn wir Zeit zusammen verbringen. Ähnlich wie eine Droge. Ich kann Sachen vergessen und verarbeiten, wenn du mir zuhörst und fühle mich unvollständig, wenn wir getrennt sind. Ich bin mir nicht sicher, aber so muss sich Freundschaft anfühlen. Man ist abhängig, aber nicht so sehr, dass es einen kaputtmacht. Eher macht Freundschaft Dinge wieder gut, die es lange Zeit nicht waren.«
»Mich stört nur, dass immer dieses Ereignis zwischen uns steht«, werfe ich ein, als mein Gegenüber wieder eine Pause macht. »An dem Tag haben wir uns selbst in Rollen gepresst, in denen wir nicht stecken wollen. Doch die Menschen um uns herum können es einfach nicht vergessen, weshalb auch wir nie darüber hinauskommen können. Zumindest nicht in der Zeit, die wir zusammen haben. Wir wissen nie, wann dieses Hoch endet und wieder das Tief kommt. Es macht mich wahnsinnig, weil ich einfach nicht aufhören kann, darüber nachzudenken, anstatt im Hier und Jetzt zu leben.«
Ich zucke kurz zusammen, als Evan nach meiner Hand greift. Sofort lässt er wieder los. Ich fühle mich schuldig, als ich verstehe, dass er einfach nur versucht hat, mich zu beruhigen. Es ist aber auch Jahre her, dass mich jemand außer meiner engsten Familie berührt hat.
Er fühlt vermutlich dasselbe wie ich in diesem Moment. Gerade weil wir uns so ähnlich sind. Wir sind zwei halbe Seelen, die nur zusammen ganz sein können. Das stellen sich doch Leute unter einem Seelenverwandten vor, oder? Es muss ja nicht immer in Liebe ausarten. Ich bin schon froh, dass es jemanden auf diesem Planeten gibt, der mich zu verstehen scheint.
»Mach dir darüber keine Sorgen«, fährt Evan leise fort. Er scheint peinlich berührt zu sein, dass er auf eine so einfache Weise hat zeigen wollen, dass er für mich da ist. »Alles geht irgendwann vorüber. Gerade so außergewöhnliche Ereignisse verlieren schon irgendwann an Interesse. Es dauert nur länger, als ich gedacht hätte. Aber irgendwann werden uns die Leute wieder als normale Außenseiter sehen und vergessen, warum sie überhaupt unsere Namen kennen. Stell dir diese Art von Bekanntheit wie eine Rolltreppe vor. Wir steigen immer höher, ohne dass wir etwas dagegen tun können. Es gibt keinen Ausweg, man kann es einfach nur geschehen lassen. Irgendwann ist man dann am höchsten Punkt. Man kann dortbleiben, solange man will, kann sich sonnen, doch irgendwann muss es dann auch wieder abwärts gehen. Unten ist wieder alles wie vorher und die Aufmerksamkeit ist vorbei.«
»Denkst du denn, dass wir sind schon am höchsten Punkt angekommen?«, frage ich, während ich an Evan vorbei aus dem Fenster schaue. Es ist mir unangenehm, ihn jetzt anzusehen. Jetzt kommt mir doch alles zu intim vor.
Der Junge schweigt für eine Weile, ehe er antwortet. »Ich denke schon, ja«, antwortet er schließlich. »Und ich hoffe, dass wir noch eine Weile hier oben bleiben können.«
Mit Evan ist die Zeit wie im Flug vergangen. Wir haben einfach nur geredet und plötzlich ist es Nacht. Ich habe nicht gemerkt, wie die Stunden dahingeflossen sind, während wir einfach nur dagesessen und über Gott und die Welt philosophiert haben. Worte haben bei Evan so viel mehr Bedeutung. Ich glaube, so viel habe ich noch nie in meinem Leben geredet. Am besten wäre es, wenn dieser Moment niemals enden würde. Doch ich merke schon, wie ich langsam müde werde. Der Tag geht zu Ende. So gern ich das auch noch hinauszögern würde.
»Ich glaube, ich sollte langsam nach Hause gehen«, werfe ich ein.
Evan wirkt enttäuscht. »Sicher, dass du so spät noch allein irgendwo hinfahren solltest? Ruf doch lieber deine Eltern an und sag ihnen, dass du heute nicht nach Hause kommst und dass es dir gut geht.«
Er will heute wirklich nicht allein sein. Deshalb gebe ich dem Wunsch meines Gegenübers nach und sage meinen Eltern, dass ich heute bei einem Freund übernachten werde. Sie haben nichts dagegen. Im Gegenteil, sie wirken eher erleichtert, dass ich mich melde. Meine Mutter sagt noch, dass sie mich lieb hat und dass ich auf mich aufpassen soll, dann endet das Gespräch.
Als ich wieder zu Evan schaue, habe ich erneut das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben. Er sieht verletzt aus. Doch ehe ich fragen kann, sagt er mir schon, was ihn gerade bedrückt.
»Deine Eltern klingen echt nett. Ich wünschte, ich hätte auch so eine Familie, die zuhause auf mich wartet und sich wirklich Sorgen um mich macht.«
Warum fühle ich mich jetzt wieder schuldig? Dieser Junge wird mir schon keine Vorwürfe machen, dass ich gute Eltern habe. Hoffe ich zumindest nicht. Ich will nicht, dass er sich jetzt schlecht fühlt. Deswegen wechsle ich das Thema.
»Wir sollten langsam schlafen gehen. Morgen früh können wir darüber reden, warum du eine Auszeit brauchst.«
Ich will schon aufstehen und aus den Kissen und Decken ein provisorisches Bett bauen, da greift Evan wieder nach meiner Hand und hält mich fest. Sofort fahre ich wieder zu ihm herum. Der Junge sieht aus, als wäre er gedanklich gerade meilenweit entfernt.
»Meine Eltern haben mir verboten, dich zu meinem Geburtstag einzuladen. Deshalb bin ich hier. Klingt schon ziemlich lächerlich, oder?«
Ich schüttle mit dem Kopf und ziehe Evan auf die Beine. »Nein, das tut es nicht. Wenn du willst, können wir deinen Geburtstag hier feiern. Dagegen können deine Eltern ja nichts haben. Planen wir das morgen. In Ordnung?«
Der Junge nickt nur und hilft mir dann, das Bett aufzubauen. Als dieses schließlich fertig ist, legen wir uns hin und schweigen wieder für eine Weile. Jetzt ist es vollkommen dunkel um uns herum. Das Licht der Lichterketten, die Evan vorhin eingeschaltet hat, ist erloschen. Nicht mehr lange und ich werde einschlafen.
»Das hier ist meine erste Übernachtungsparty, überhaupt«, höre ich Evan leise flüstern. Er will wohl nicht meinen Halbschlaf stören, deswegen spricht er so leise.
»Geht mir genauso«, antworte ich. Meine Stimme klingt verwaschen. Ich fühle mich wie ein Kind, das nach einem Tag, den es mit seinem besten Freund herumgetollt ist, vollkommen erschöpft ist. Nie bin ich zufriedener in meinem Leben gewesen.
»Ich bin wirklich froh, dass ich diesen Ort jetzt mit dir teile. Jetzt muss ich nie wieder allein sein«, ist das Letzte, was Evan heute sagt. Nur einen Moment später gleite ich schon langsam ins Land der Träume über, ohne sagen zu können, dass ich froh bin, Evans Nachricht nicht ignoriert zu haben.
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