Kapitel 13: Keine Geheimnisse mehr

Ich habe wieder meinen Kopf freibekommen wollen. Deshalb stehe ich nun wieder hier, an dem Ort, an dem alles begonnen hat. Der U-Bahnhof ist seit diesem einen Tag irgendetwas Besonderes. Ich habe das Gefühl, in der Zeit zurückgereist zu sein, sobald ich diesen Ort betrete. Für mich ist es ein guter Tag gewesen. Für Taissa wohl eher weniger. Zwei Perspektiven, die sich widersprechen. Ich mag solche Situationen. Weil sie mir eine Chance geben, mich in andere Menschen hineinzusetzen. Es fällt mir manchmal schwer, doch ich muss es üben, um ein besserer Autor zu werden. Dafür muss ich nur mal für einen Moment meinen eigenen Schmerz vergessen und den von anderen Menschen in mich aufnehmen. Das klingt allein in der Theorie schon echt schwierig, oder?

Etwas ziellos wandere ich für einen Moment hin und her und versuche einfach, den Rest der Atmosphäre in mir aufzusaugen. Es ist eine Weile her, dass hier fast ein Leben beendet worden ist. Ich bin dafür verantwortlich, dass eine Tragödie abgewendet worden ist. Allein dieser Gedanke lässt mich fühlen, als hätte ich endlich Macht über irgendetwas. Hätte ich einen Gotteskomplex, würde ich von Taissa verlangen, mir ewig dankbar zu sein. Obwohl ich sie ohne ihr Einverständnis gerettet habe. Wie kann so eine Tat sich so richtig und gleichzeitig so falsch anfühlen? Ich will kein Held sein. Aber ich will trotzdem anerkannt werden. Weil ich etwas Gutes getan habe.

Normalerweise bin ich egoistisch. Weil es niemanden in meinem Leben gibt, um den ich mich kümmern muss. So ist es nun mal als Freak, dem niemand etwas zutraut. Man lernt keine Verantwortung. Zumindest nicht, wie es andere normale Leute in meinem Leben. Meine einzige Aufgabe ist das Zubereiten des Abendessens. Neben der Aufgabe, auf mich aufzupassen. Mehr muss ich nicht tun. Weder habe ich einen Nebenjob noch kleinere Geschwister, die mir Verantwortung beibringen würden. Ich kann keine Fehler machen, aus denen ich lernen kann. Irgendwie kommt es mir vor, als würde ich mich nicht weiterentwickeln können. Weil ich erst einmal ein normales Leben bräuchte, mit Verantwortung und Rückhalt, wenn ich wieder falle. Ich muss mir so etwas aufbauen. Weil ich jetzt jemanden kenne, um den ich mich kümmern möchte.

Es ist recht leer heute. Obwohl Samstag ist. Sollten da nicht mehr Leute hin und her reisen? Soll mich nicht stören. So ist es ruhiger. Und es ist ein Unterschied zu dem Tag, an dem ich Taissa kennengelernt habe. Deshalb sollte ich dieses Erlebnis jetzt auch beiseite wischen und im Hier und Jetzt leben. Auch wenn ich gerade nicht wirklich etwas anderes zu tun habe, als meine Gedanken schweifen zu lassen.

Ich setze mich auf eine der freien Bänke und sehe mich noch einmal um. Alles ist grau. Wie immer. Die Farbillusionen sind heute nicht da. Heute ist ein recht guter Tag. Ich bin in Ordnung. Meinen Eltern habe ich immer noch nichts davon gesagt, dass gerade wieder alles bergab geht. Ich will mich noch nicht von meiner Freiheit trennen müssen. Ich bin süchtig nach ihr. Es kommt mir auch noch nicht vor, als hätte ich genug von ihr genutzt. Bisher bin ich ziemlich brav gewesen. Für meine Verhältnisse.

Ich sollte mehr Regeln brechen, glaube ich. So muss sich Freiheit für viele da draußen anfühlen. Doch wie soll ich irgendwelche Regeln brechen, die ich nie gelernt habe? Ich habe oft das Gefühl, aus einer vollkommen anderen Welt zu kommen. Weil meine Eltern wirklich bei meiner Erziehung versagt haben.

Es reicht gerade schon, meine Eltern in meinem Gedanken zu erwähnen, um wieder einen Sturm in meinem Inneren aufziehen zu lassen. Meine Eltern sind schuld daran, dass ich jetzt hier sitze. Wir sind wirklich keine Familie. Alles, was wir tun, ist streiten. Es gibt keine normalen Gespräche. Hat es auch noch nie gegeben. Zumindest fühlt sich kein Gespräch mit diesen beiden wie eines mit Taissa an. Sie macht mich ruhiger. Im Gegensatz werde ich wütend, wenn ich nur über meine Eltern nachdenke.

Ich habe nur gefragt, ob ich jemanden zu meinem Geburtstag einladen dürfte. Es wäre nächste Woche, also müssten meine Eltern nicht einmal wirklich Sorge haben, sich freinehmen zu müssen oder Ähnliches. Dafür wäre keine Zeit mehr, so wie ich ihre Terminkalender kenne. Ich müsste mir als ihr eigener Sohn schon mindestens ein halbes Jahr vorher überlegen, ob ich einen Tag mit ihnen verbringen würde wollen. Gut, dass so etwas noch nie vorgekommen ist. Mein Geburtstag kommt schließlich auch so überraschend, da kann man gar nicht erwarten, dass die eigenen Eltern mal etwas Zeit für einen haben.

Sie haben mir verboten, Gäste einzuladen. Meine Familie darf kommen, so wie jedes Jahr, sonst niemand. Ich darf also wieder nicht ich selbst sein. Stattdessen muss ich selbst an dem Tag, der mir gilt, eine Rolle spielen, die mich einfach nur noch ankotzt. Ich will das nicht. Meine Familie ist mir egal. Ich habe endlich einen Freund und will mit dem meinen Geburtstag feiern. Weil es sich dann wirklich wie eine Feier anfühlen kann. Bei Taissa kann ich sein, wer ich will. Da würde doch jeder den Freund über die Familie stellen, oder?

Es ist meinen Eltern bei dem Verbot nicht einmal darum gegangen, dass Fremde nicht ins Haus kommen sollen. Die Schande wollen sich die beiden nicht antun. Sie sind vermutlich schon paranoid, dass ich irgendetwas verraten könnte, was den Ruf meiner Eltern ein für alle Mal kaputtmachen könnte. Doch es geht nicht darum, ob Fremde irgendwelche Geheimnisse sehen. Nein, meine Mutter ist dagegen, dass ich ein Mädchen mit nach Hause bringe. Zuerst ist sie nicht einmal abgeneigt gewesen, mir einen Gast zu erlauben. Doch als ich Taissas Namen genannt habe, hat sie ihre Meinung sofort geändert.

Ob meine Mutter wohl glaubt, ich hätte Geheimnisse vor ihr? Vermutlich denkt sie jetzt, ich hätte eine feste Freundin. Doch so einfach ist das mit Taissa nicht. Ich mag sie. Mehr weiß ich nicht. Mehr will ich auch gar nicht wissen, wenn ich ehrlich bin. Es ist manchmal besser, Dinge nicht genau zu definieren, bevor man sie damit kaputt macht.

Ich bin wütend geworden. Weil meine Eltern mich schon wieder so eingeschränkt haben. Immer soll ich tun, was ich will, aber wenn es wirklich auf meinen eigenen Willen ankommt, wird mir alles verboten. Das habe ich meinen Eltern auch so gesagt. Zusammen damit, dass sie mich dadurch von der Außenwelt abkapseln und mich damit im Prinzip umbringen. Weil ich so sicher nicht lernen werde, da draußen zu überleben.

Dann bin ich einfach rausgestürmt. Ich habe es im Haus nicht mehr ausgehalten. Vorher ist alles so still gewesen. Ich habe meinen Schulkram gemacht und dann auf einen ruhigen Moment gewartet, um meine Eltern auf meine Geburtstagsfeier anzusprechen. Jetzt ist alles wieder so grau und stürmisch. Ein Gewitter zieht auf. Schlimmer als der Sturm von neulich. Ich habe ein wenig Angst vor mir selbst. Es ist gerade so dunkel in mir, dass ich eigentlich nicht allein sein sollte. Doch wen habe ich schon? Ich muss mich beruhigen, bevor ich Zeit mit der einzigen Person, die ich jetzt noch in meiner Nähe ertragen kann, verbringe. Weil ich Taissa nicht wehtun will.

Jetzt bin ich hier am U-Bahnhof und warte auf meine Bahn, die mich einfach weg von hier bringt. Zum Stadtrand. Theoretisch könnte ich dorthin laufen, um wieder einen freien Kopf zu bekommen. Ich weiß, dass das Gewitter weiterziehen würde, wenn ich einfach nur laufen würde. Am besten mit Musik. Doch die U-Bahn kommt mir heute besser vor. Ich muss an den Ort, der für solche grauen Tage besser ist als jedes Café auf dieser Welt. Weit ab von jeglicher Zivilisation, so weit das in dieser viel zu vollen Welt möglich ist. Ich habe solche Angst davor, heute allein in meinem Versteck zu sein. Doch ich muss es sein. Zumindest für eine Weile. Weil ich an diesem Tag nichts zerstören will. Der Sturm soll Ruhe geben. Der Streit soll heute nichts ruinieren. Warum kann es nicht einen Tag in meinem Leben geben, der einfach nur gut ist?

Gegen jede Vernunft hole ich mein Handy aus der Tasche. Ich weiß genau, dass ich nicht tun sollte, was ich jetzt vorhabe. Doch was spricht groß dagegen? Ich werde Zeit haben, mich zu beruhigen. Danach brauche ich jemanden an meiner Seite. Zum Reden. Zum Abtöten des Schweigens. Ich will ehrlich sein. Zum ersten Mal in meinem Leben will ich, dass ein anderer Mensch nur mich sieht. Weil ich endlich das Gefühl habe, dass ich die Möglichkeit habe, ich selbst zu sein.

Ich bin froh, dass ich endlich Taissas Handynummer habe. Warum habe ich nur so lange gebraucht, sie danach zu fragen? Vermutlich, weil ich vorher schon gewusst habe, dass ich wieder werde betteln müssen. Taissa ist so misstrauisch. Sie gibt nicht einfach etwas so Privates wie ihre Nummer preis. Deswegen fühle ich mich jetzt umso besser, da ich sie habe und damit immer einen Draht zu diesem Mädchen habe. Es fühlt sich wie ein Sieg an und so, als hätte ich geschafft, dass Taissa sich noch ein wenig mehr mir gegenüber geöffnet hat.

Als ich daran denke, dass sie mich von sich selbst aus gefragt hat, wann ich Geburtstag habe, fühle ich mich noch mehr von meinen Eltern verraten. Dieses Mädchen interessiert sich für mich. Sie hätte sicher auch keine Einladung abgelehnt, wenn ich ihr eine gegeben hätte. So hätte ich mich auch dafür revanchieren können, dass ich ungefragt bei Taissa zu Hause gewesen bin. Aber nein, meine Eltern müssen mich natürlich wieder hintergehen. Am Ende verliere ich meinen einzigen Freund auf der Welt, weil meine Erzfeinde mir wieder im Weg stehen. Was kann ich nur dagegen tun?

Plötzlich ist mein Kopf leer. Die Welt um mich herum verschwimmt zu einer einzigen grauen Masse. Mir ist so schwindelig. Ist das der Hass, der mich so auslaugt? Ich lehne mich auf der Bank zurück und schließe die Augen. Mir bleibt nichts anderes übrig als zu warten, dass dieser Schwindelanfall vorübergeht. Taissa hat vielleicht recht, ich sollte zum Arzt gehen. Irgendwann mal.

Diese Gedanken schiebe ich jedoch zur Seite, als es mir endlich wieder besser geht. Wieder starre ich auf mein Handy. Ich sollte es wirklich nicht tun. Doch das wäre dann wohl mein erster Regelbruch für heute.

Ich rufe Taissa an. Der Piepton am anderen Ende der Leitung schmerzt in meinen Ohren. Das Mädchen braucht lange, um ans Handy zu gehen. Vermutlich ist sie gerade beschäftigt. Wie es normale Menschen an einem sonnigen Samstag eben sind. Das Warten frustriert mich so sehr, dass ich auflege, bevor Taissa abnehmen kann. Ich schäme mich, dass ich es überhaupt versucht habe.

Doch ich will gleichzeitig auch nicht einfach so aufgeben. Deshalb schicke ich ihr einfach eine Wegbeschreibung per Textnachricht. So sollte sie mein Versteck finden können. Ich will keine Geheimnisse vor Taissa haben. Mache ich mich damit nicht eigentlich ziemlich abhängig von diesem Mädchen? Mir egal. Ich brauche jemanden, der mich wirklich kennt. Ich bin verzweifelt und will, dass jemand meine Scherben zusammenkehren kann, wenn es so weit kommt. Was soll falsch daran sein?

Ich hoffe einfach, dass Taissa mich nicht hängen lassen wird. Sie wird mich verstehen. Ich bin überzeugt davon. Deswegen kann ich jetzt auch wieder die Außenwelt mit Musik ausblenden und einfach auf die Bahn warten. Ich bin wieder vollkommen ruhig. Taissa hat wohl wirklich eine magische Wirkung auf mich. Oder ich bin wirklich so verzweifelt, dass ich mich an alles klammere, was ich auf meinem Weg in die Schwärze noch greifen kann.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top