Kapitel 10: Der Sturm

Noch bevor ich vor der Haustür stehe, weiß ich schon, was mich daheim erwarten wird. Der Regen hat mittlerweile aufgehört. Ebenso wie das Gefühl, das mir den gesamten Heimweg über hinterhergeschlichen ist. Ich kann es nicht recht beschreiben, weil es jetzt nur noch eine ferne Erinnerung ist. Doch ich glaube, dass es am ehesten Enttäuschung gewesen sein könnte. Zum ersten Mal in meinem Leben hat mich wirklich interessiert, was in einem anderen Menschen vorgeht. Und genau in diesem Moment weist mich die Person ab, über die ich mehr erfahren möchte. Einfach so. Als hätte sie noch nicht bemerkt, wie egal mir sonst die Menschen um mich herum sind. Zumindest nach außen hin.

Ich habe gedacht, die Sache mit den Hausaufgaben wäre eine gute Gelegenheit, Taissa besser kennenlernen zu können. Auch wenn sie mich schließlich, nach ewigem Betteln, ins Haus gelassen hat, fühlt es sich dennoch an, als hätte sie mich auf eine bestimmte Weise ausgesperrt. Taissas Zimmer ist so leer, dass es mir nicht das Geringste über sie verraten hat. Sonst bin ich gut darin, Leuten ihre Geheimnisse anzusehen, wenn ich in ihre Privatsphäre eindringe. So ist es immer bei den Leuten gewesen, die meine Eltern früher mit mir zusammen besucht haben, um sich bessere Berufschancen zu verschaffen. Oder in den Praxen von all den Therapeuten und Ärzten, mit denen ich in meinem Leben schon gesprochen habe.

Taissa hingegen bleibt ein Rätsel. Sie verrät nicht das Geringste und weiß auch, wie sie ihr Zimmer zum Schweigen bringen kann. Ich will dieses Rätsel lösen. Warum nur fasziniert mich dieses Mädchen so sehr? Ich weiß es selbst nicht. Vielleicht ist es, weil dieses Mädchen ebenso leer wie ihr Zimmer wirkt. Sie versteckt etwas. Oder Taissa vermisst etwas. Eine Sache, die sonst jeder hat, der auf Erden wandelt und die ihr vor langer Zeit verloren hat. Vielleicht ist das Mädchen deshalb so verschlossen. Weil es so beschäftigt mit seiner Suche nach dieser Sache ist, dass die restliche Welt an ihm vorbeizieht.

Als mir allmählich die Kälte in die Glieder kriecht, wische ich meine wirren Gedanken an dieses so undefinierbare Gefühl und das seltsame Mädchen, das dieses ausgelöst hat, beiseite. Am Ende, wenn ich weiter mit diesem Gedankenzug fahre, glaube ich noch, dass ich derjenige sein sollte, der Taissa das zurückbringt, was sie verloren hat. Oder dass ich weiterhin versuchen solle, an sie heranzukommen. Um das Rätsel zu lösen und endlich Ruhe zu haben. Vorerst sollte ich mich aber eher auf das konzentrieren, was direkt vor mir liegt. Obwohl ich viel lieber ewig hier stehenbleiben würde. Einfach, um diesen friedlichen Moment so lange wie nur möglich haben zu können. Weil ich genau weiß, dass Augenblicke nicht für die Ewigkeit sind und ich irgendwann nach vorn gehen muss. Aber was ist falsch daran, es hinauszögern zu wollen?

Es ist so dunkel, obwohl das Haus vor mir hell erleuchtet ist. Vermutlich gerade deswegen. Auch nur ein wenig Licht scheint die Dunkelheit noch dunkler zu machen. Meine Eltern sind bereits zu Hause. Wie erwartet. Nur ich bin zu spät. Zum ersten Mal seit Ewigkeiten. Vermutlich hätte ich mir nicht noch extra Zeit auf dem Heimweg lassen sollen, indem ich Umwege und so langsam wie nur irgend möglich gehe. Ich habe auch nicht die U-Bahn genommen, wie sonst immer. Ich habe eigentlich nicht heimkommen wollen. Ganz im Gegenteil. Am liebsten wäre ich davongelaufen. Doch ich habe mich damit abgefunden, einfach nur den Kopf freibekommen zu wollen und mich dann in mein Schicksal zu fügen. Damit habe ich vermutlich alles nur noch schlimmer gemacht. Ist es jetzt zu spät, um noch wegzulaufen?

Statt weiter darüber nachdenken, greife ich nach der Türklinke, um mich in mein Verderben zu stürzen. Heimliche Wärme schlägt mir entgegen, trotzdem friere ich, als würde ich immer noch im Regen stehen. Ich frage mich wirklich, ob alle Kinder so viel Angst vor ihren Eltern haben wie ich in diesem Moment. Wenn ich sie nicht gerade so sehr hasse, dass ich sie am liebsten tot sehen würde.

Ich habe keine Zeit, das mit mir selbst auszudiskutieren, denn schon höre ich die Stimme meiner Mutter vom Wohnzimmer aus. Sie ruft nach mir. Augenblicklich bricht alles ab. Mein Herz pocht und meine Gedanken rasen, obwohl ich keinen einzigen davon greifen kann. Wieder habe ich keine andere Wahl, als mich zu fügen, so sehr ich meine Hilflosigkeit auch gerade hasse. Ich habe nichts falsch gemacht. Trotzdem weiß ich jetzt schon, dass ich bestraft werde. Für diese Gewissheit muss ich nicht einmal die Gesichter meiner Eltern sehen. Für falsche Hoffnungen kenne ich meine Erzfeinde zu gut.

Nach der üblichen steifen Unterwürfigkeit gegenüber meinen Eltern, beginnt auch schon eine neue Schlacht in diesem endlosen Krieg.

»Wo warst du?«, fällt mein Vater sofort mit der Tür ins Haus.

Vermutlich hat meine Mutter ihm gesagt, dass er das zum Einstieg fragen soll. Weil er sonst weich werden würde. Damit ist die Sprechrolle dieses Nebendarstellers auch schon vorbei. Zumindest wirkt es so, wie dieser feige Speichellecker seine Frau anschaut, als sollte sie ihm versichern, wie toll er doch dieses Familiendrama gestartet hat.

»Ich habe einem Mitschüler bei den Hausaufgaben geholfen«, antworte ich wahrheitsgemäß.

Doch wieder einmal spielt es keine Rolle, was ich sage. Die Fronten sind bereits verhärtet. Daran würde auch eine hübsche Lüge nichts mehr ändern können.

»Du kennst die Regeln, Evan«, übernimmt nun meine Mutter das Reden. Ihr Tonfall versetzt mir einen Stich. Sie ist enttäuscht von mir. Gerade weil ich die Regeln kenne.

Den Tag über schert es meine Eltern nicht, was ich tue. Ich bin auf mich allein gestellt und kann machen, was ich will. Solange ich meiner Familie keine Schande mache und mich am besten noch an alle geltenden Gesetze halte. Den Tag über ist es, als hätte ich keine Eltern. Hauptsache, ich bin um spätestens sechs Uhr abends zu Hause, um das Abendessen vorzubereiten. Seit der Schule hat sich der erste Teil der Abmachung ein wenig geändert, doch an sich sind die Regeln gleichgeblieben.

Sobald meine Eltern dann ebenfalls daheim sind, sollen wir bei der gemeinsamen Mahlzeit so tun, als wären wir eine Bilderbuchfamilie. An manchen Abenden hören mir meine Eltern sogar zu. Wenn sie nicht so tun, als wären sie zur erschöpft von der Arbeit und zu sehr von sich selbst eingenommen sind. Das Abendessen ist schon eine besondere Zeit in diesem Haushalt. Ich hasse sie aus ganzem Herzen. Weil alles daran so scheinheilig und künstlich ist. Zwanghaft wird in diesem Haus eine Lüge gelebt, die mich Tag für Tag in eine viel zu eng gefasste Rolle einsperrt. Alles nur, damit meine Eltern sich nicht so schlecht fühlen müssen, dass sie den Großteil des Tages erfolgreich so tun, als gäbe es mich nicht.

Jetzt habe ich dieses heilige Gesetz gebrochen. Mir egal, wenn ich ehrlich bin. Ich fühle mich nicht im Geringsten schuldig für das, was ich getan habe. Zu spät nach Hause zu kommen ist kein Verbrechen. Trotzdem komme ich mir wieder so klein und hilflos vor, dass ich mich selbst für dieses Gefühl verabscheue. Die Blicke meiner Eltern lässt jedes bisschen Selbstvertrauen, das ich mir mühsam zum Schutz vor der Welt aufbaue, einfach verschwinden, als wäre es nie da gewesen. Ich muss mich verteidigen. Es fühlt sich an, als würde mein Leben davon abhängen. Trotzdem würde ich mich gerade viel lieber mit dem klaffenden und schmerzenden Loch in meinem Schutzwall beschäftigen. Es kommt mir wichtiger vor als alles andere.

»Natürlich kenne ich die Regeln«, will ich mit meinem Unschuldsplädoyer beginnen.

Doch bevor ich fortfahren kann, unterbricht meine Mutter mich bereits. »Warum brichst du sie dann, Evan? Du weißt genau, warum wir wollen, dass du da bist, wenn wir heimkommen.«

Sie scheint noch mehr sagen zu wollen. Doch jetzt ist es an mir, mein Gegenüber zu unterbrechen. »Natürlich weiß ich das. Damit das Abendessen fertig ist, wenn ihr wiederkommt. Und damit ihr für ein paar Minuten so tun könnt, als wäre ich euch nicht egal.«

Plötzlich fühle ich mich nicht mehr ganz so klein wie zuvor. Die Wut, die auf einmal in mir rumort, lässt die Kälte verschwinden. Ebenso wie die Angst. Meine Eltern sind im Unrecht. Diese Erkenntnis ist nichts Neues und doch freue ich mich, dass sie nicht sofort wieder verschwindet. Sonst machen mich meine Eltern so unsicher, dass ich keinen klaren Gedanken mehr fassen kann. Wie ein Kleinkind, das immer im Unrecht ist. Doch das bin ich nicht mehr. Ich habe recht. Und es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich zumindest eine Chance habe, das meinen Eltern klar zu machen.

»Du verstehst das falsch.«

Meine Mutter spricht ungewöhnlich sanft. Ob sie wohl versucht, mich zu beruhigen? Vermutlich sieht sie mir an, dass ich aufgewühlt bin. Wie immer, wenn ich mit meinen Eltern reden soll. Doch es ist zu spät. Der Sturm ist schon in vollem Gange. Nichts kann ihn mehr aufhalten. Ich weiß, dass dieses Chaos in meinem Inneren nach Zerstörung dürstet. Was soll ich schon dagegen tun? Nur wenn ich diesem animalischen Drang nachgebe und mein Gewissen für einen Moment ausschalte, kann ich endlich diesen brennenden Hass auf die Menschen, die ich eigentlich am meisten auf der Welt lieben sollte, loswerden. Er zerfrisst mich. Es tut so weh, dass ich irgendetwas brauche, um endlich von diesem Schmerz befreit zu werden. Wenn es schon reicht, einmal kurz wütend zu werden, nehme ich das gern in Kauf.

»Nein, du liegst falsch. Es geht weder um das Essen noch darum, Zeit miteinander zu verbringen«, fährt meine Mutter schließlich fort.

Jedes einzelne Wort dieser Frau ist wie ein Stich direkt ins Herz. Weil sie mir schon wieder einreden will, dass sie besser weiß, was Recht und Unrecht ist als ich. Es tut weh. Doch ich muss es wohl oder übel über mich ergeben lassen.

»Wenn du nicht zuhause bist, machen wir uns Sorgen um dich. Die Welt ist gefährlich. Du weißt doch selbst, wie schlecht es dir geht und dass du da draußen nicht sicher bist. Dir kann sonst etwas passieren. Und wir können dir nicht helfen, weil wir nicht wissen, wo du bist.«

»Warum habt ihr mich nicht angerufen?«, ist die erste Frage, die mir daraufhin einfällt. Dieses Gespräch kommt mir wie ein Verhör vor. Auch wenn wir uns gegenseitig Fragen stellen und niemand mehr hier wirklich überlegen wirkt.

Meine Eltern blinzeln nur perplex auf meine Frage hin. Sie schweigen. Vermutlich fehlen ihnen die Worte. Ist wohl so etwas wie ein kleiner Sieg für mich.

»Mein Handy war die ganze Zeit an«, koste ich meinen Triumph aus. »Ihr hättet mich die ganze Zeit anrufen können, wenn ihr wirklich so krank vor Sorge um mich wart, wie ihr es behauptet. Aber nein, stattdessen wartet ihr lieber auf mich, nur um mir meine Fehler vorhalten zu können. Wie ihr es immer tut, wenn euch etwas an mir nicht passt. Doch ich habe dieses Mal nichts falsch gemacht.«

An diesem Punkt könnte ich aufhören zu reden. Doch die Wut stachelt mich an weiterzumachen. Da ist noch so viel, was ich noch sagen möchte. Jetzt ist meine Gelegenheit. Ich habe das Gefühl, dass mir jemand zuhört. Selbst wenn meine Eltern mich am Ende wieder missverstehen, ist es das wert.

»Ich will nicht immer allein sein, nur weil ihr es für sicherer haltet. Weil ich kein schmutziges Geheimnis bin, das ihr einfach wegsperren könnt, damit niemand da draußen mich sehen kann. Mir ist es egal, ob ihr euch für mich schämt oder einfach nur schlecht darin seid, euch um mich zu kümmern, wie es normale Eltern tun würden. Hört auf mir immer wieder zu sagen, dass etwas mit mir nicht stimmt. Mit geht es bestens. So gut sogar, dass ich jemand anderem helfen will, sich besser zu fühlen. Ich habe ein Leben gerettet. Jetzt will ich versuchen, es lebenswert zu machen. So gut ich eben kann. Selbst wenn ich dafür eure dummen Regeln brechen muss. Das erste Mal in meinem Leben habe ich so etwas wie einen Freund. Wenn ihr mich wirklich dafür bestrafen wollt, dass ich dabei bin, ein normaler Teenager zu sein, dann nur zu. Ich werde am Ende sowieso das tun, was ich selbst für richtig halte.«

Endlich ist der Hass weg. Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich beim Reden immer lauter geworden bin. Mein Hals tut ein wenig weh. Doch der Schmerz ist stumpf, wenn auch weiterhin unangenehm. Nun ist es still. Ich fühle mich besser als jemals zuvor. Leichter, irgendwie. Es ist vorbei. Niemand hat mir etwas zu sagen. Ich sehe meinen Eltern an, dass sie nicht wissen, wie sie reagieren sollen. Heute bin ich der Sieger dieses Gefechts. Sie müssen so enttäuscht sein, dass sie mich dieses Mal nicht in meine Schranken gewiesen haben. Muss komisch sein, wo meine Eltern sonst jede Rebellion einfach niederschlagen können.

Ich lasse meinen Eltern keine Zeit, sich nach diesem Schlag ins Gesicht wieder zu fangen. Ehe sie auch nur ein Wort sagen können, bin ich schon in meinem Zimmer verschwunden. Mein sicherer Hafen. Nur hier kann ich endlich zur Ruhe kommen.

Nachdem ich die Tür hinter mir zugeschlagen habe, lehne ich mich kraftlos gegen diese. Sie bietet mir Halt in diesem Moment, in dem alles so durcheinander wirkt, dass ich mich kaum auf den Beinen halten kann. Mein Herz pocht wie verrückt. Es fühlt sich an, als müsste ich auf der Stelle sterben. Alles schmerzt. Ich kann kaum atmen. Nur die Tür lässt mich noch aufrechtstehen. Sonst würde ich wohl vor Schwindel zusammenbrechen. Mein Kopf ist leer und gleichzeitig viel zu voll.

Heute muss wirklich ein besonderer Tag sein. Ich habe mich noch nie so schwach und gleichzeitig so gut gefühlt. Als wäre ich high. Zumindest glaube ich, dass sich das so anfühlen muss. Schade nur, dass es jetzt keinen Farbenflash gibt. Ich könnte ihn gut gebrauchen, auch wenn er die Schmerzen vermutlich noch schlimmer machen würde. Alles ist weiterhin schwarz und weiß. Auch in mir. Als wäre ich in zwei Teile gespalten worden. Die helle Seite freut sich weiterhin darüber, dass ich diese eine von tausenden Schlachten in diesem endlosen Stellungskrieg gewonnen habe. Die dunkle Seite denkt währenddessen schon über die Konsequenzen dieses Sieges nach. Sobald ich dieses Zimmer wieder verlasse, werde ich endgültig bestraft werden. Weil ich der ersten Strafe entgangen bin. Doch solange meine Zimmertür geschlossen ist, bin ich sicher.

Der Sturm tobt weiterhin in mir. Er wird sich nach einer Weile legen, wie er es immer tut. Trotzdem hindert ihn das nicht daran, jegliche Gedanken an meine Schwächen und Ängste wieder beiseite zu wischen und mit vollkommen anderen zu ersetzen. Die Gedanken sind dunkler und so viel hasserfüllter, weil die Wut mich einfach nicht loslassen will. Der Sturm in meinem Inneren lässt mich denken, dass meine Eltern schuld daran sind, dass ich immer so allein bin. Und er hat recht damit.

Diese beiden Tyrannen schotten mich von der Außenwelt ab, obwohl ich schon längst bereit bin, mich dieser wieder zu stellen. Das habe ich doch eigentlich schon damit bewiesen, dass ich wieder zur Schule gehen kann. Wie ein normaler Teenager. Meine Eltern machen mich zum Freak, indem sie mir einreden, kränker zu sein, als ich eigentlich bin. Sie wollen mich als das Häufchen Elend haben, das man einsperren kann, weil es keinen Platz mehr in dieser Welt hat. Doch ich will das nicht mehr. Diese Rolle lässt mich nur noch auf der Stelle treten. Warum wollen meine Eltern nicht, dass ich vorankomme? Warum nur hassen sie mich so sehr, dass sie mit aller Macht gegen mich arbeiten?

Plötzlich tritt die Wut wieder in den Vordergrund. Wieder fühlt es sich an, als würde der Hass überhandnehmen. Wäre ich nicht so erschöpft, würde ich jetzt irgendetwas kaputt schlagen. Einfach, um diesem Drang nachgeben zu können, der mir gerade noch mehr Kraft entzieht als der Sturm, der die Wurzel allen Übels ist.

Ich lasse mich zu Boden sinken. Mein Herz und meine Atmung beruhigen sich allmählich wieder. Damit lässt auch mein Höhenflug nach. Endlich kann ich zur Ruhe kommen. Der Sturm legt sich. Ich bin wieder leer. Es wird so still um mich herum, dass meine eigenen Gedanken viel zu laut sind. Plötzlich kommt mir mein sicherer Hafen wie eine Gefängniszelle vor. Weil ich es einfach nicht schaffe, wirklich ich selbst zu sein, wenn ich in diesem Raum bin. Die Gedanken können nicht einfach ausgesperrt werden. So gern ich es auch tun würde. Stattdessen schleicht sich alles, was ich eigentlich ausblenden will, ins Zimmer, bevor ich die Tür schließen kann.

Am liebsten wäre ich gerade ganz woanders. An einem Ort weit weg von hier, wo mich niemand kennt und mich auch niemals jemand finden wird. Ein Ort, an dem ich neu anfangen und einfach normal sein kann. Wenn ich an diesen Ort denke, vermisse ich wieder die Farben. Hoffentlich warten diese da auf mich, wo ich sie niemals erreichen kann. Denn dann sind die Farben zumindest nicht aus der Welt. Immerhin existiert der Ort, an dem ich gerade so gern wäre, irgendwo. Auch wenn ich nicht genau weiß, wo dieses irgendwo ist.

Hier, wo ich jetzt feststecke, ist alles verloren. In diesem verkorksten Leben hält mich jeder für einen jämmerlichen Freak. Selbst als Held nimmt mich niemand ernst. Was soll ich denn sonst noch tun, um endlich über meine Krankheit hinauskommen zu können?

Es fühlt sich an, als wäre ich eigentlich kurz davor zu weinen. Doch im Moment bin ich zu leer, um auch nur eine Träne vergießen zu können. Ich sollte mich zusammenreißen und aufhören, mich selbst zu bemitleiden. Denn wenn ich es mir recht überlege, ist noch nicht alles verloren. Ich habe einen Hoffnungsschimmer, den ich nicht erst in der Ferne suchen muss. Es gibt eine Person in meiner kleinen schwarz-weißen Welt, die hinter Fassaden blicken kann. Zumindest habe ich das Gefühl, dass es so ist.

Ich kenne Taissa noch nicht gut genug, um mir wirklich sicher sein zu können. Doch der heutige Tag hat mir etwas bewiesen, was ich eigentlich schon längst gewusst habe. Dieses Mädchen ist etwas Besonderes. Seltsam und verschlossen vielleicht, aber immerhin scheint mich diese Person zu verstehen. Selbst dann, wenn wir nicht reden. Mit Taissa ist selbst Stille angenehm. Weil ich nicht mehr allein bin, wenn sie da ist. Das Mädchen ist der einzige Mensch auf dieser Welt, die mich sieht, wie ich bin. Weil Taissa nicht vor meinen Mauern halt macht, sondern diese einfach einreißt. Sie zerbricht Fassaden, als wären sie überhaupt nicht da. Vermutlich weiß das Mädchen nicht einmal, dass es das tut. Es ist einfach seine Art. Das macht Taissa zum Außenseiter. Weil die meisten Menschen von dieser Eigenschaft abgeschreckt werden. Sie wollen nicht entlarvt werden als das, was sie wirklich sind. Ganz im Gegensatz zu mir.

Vielleicht sollte ich das aufschreiben. Zusammen mit all den anderen Gedanken, die ich nicht auf andere Weise aus dem Kopf bekomme. Ehe ich es selbst realisiere, sitze ich schon an meinem Schreibtisch und beginne einen Brief zu schreiben. Ob ich ihm jemals jemandem zeigen werde, muss ich hinterher entscheiden. Doch weil er zumindest zu einem gewissen Teil von Taissa handelt, sollte ich den Brief wohl zumindest ihr zeigen, wenn er fertig ist. Auf diese Weise kann ich auch mein Versprechen einlösen, ihr etwas von mir zu zeigen, um endlich das Vertrauen dieses so verschlossenen Mädchens zu gewinnen.

Klingt doch nur fair, oder?

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