Ein Anruf, der alles verändert

Spanien / Madrid

Schnaubend wischte sich Carlos den Schweiß von der Stirn. Ausgepowert schlurfte er zum Kühlschrank, um sich ein kühles Wasser herauszuholen.

Das Auspowern beim Laufen hatte ihn richtig gefordert. Auch wenn er fertig war, so fühlte er sich richtig gut. Ganze zehn Kilometer war er jetzt joggen gewesen. Und nicht nur er war glücklich. Piñón war zügig an seiner Seite gewesen und sie hatten einen schönen Weg zum Joggen gefunden, wo sein treuer Begleiter nicht nur laufen, sondern auch toben konnte.

Kühl und den Durst löschend lief das Wasser seinen Hals herunter und er war schon auf dem Weg zum Badezimmer, als sich sein Handy brummend vom Küchentisch meldete.

„Si?"

„Hallo. Mein Name ist Adam Norris. Sind Sie Carlos?"

„Ja." Rasch blickte Carlos auf das Display. Jetzt erst erkannte er, dass es eine fremde Handynummer war, die anrief.

„Entschuldigen Sie, dass ich Sie so überfalle. Sie kennen mich nicht, aber Sie kennen unseren Sohn."

„Tue ich das?"

„Ich weiß nicht, wie gut Sie sich kennen. Aber wir wissen, dass Sie Lando im Freizeitpark geholfen haben. Leider war es mir nicht möglich, früher bei Ihnen anzurufen, da wir erst heute das Handy unseres Sohnes entsperren konnten."

Verwirrt hoben sich seine Augenbrauen.

Lando.

Er hatte den Namen nie vergessen.

Er hatte nie die traurigen, ängstlichen Augen vergessen.

Er hatte diesen zierlichen 16-jährigen Jungen nie vergessen.

Umso überraschter war er über den Anruf von dessen Dad. Da sich Lando nie gemeldet hatte, war Carlos davon ausgegangen, dass dieser keinen Kontakt wollte - oder eben keine Hilfe. Und irgendwann hatte sich Carlos damit abgefunden, da er den Jungen ja schon sehr überfallen hatte, als er ihm seine Handynummer gegeben hatte. Immerhin hatten sie sich damals nur wenige Stunden gekannt und waren quasi noch Fremde.

„Ich habe Lando seit dem Freizeitpark nicht mehr gehört."

„Ja, das haben wir uns gedacht."

Mittlerweile spürte Carlos eine gewisse Unruhe in sich aufsteigen. Der Dad dieses Jungen rief doch nicht einfach so an. Hatte er nicht was von Handy entsperren gesagt?

„Meine Frau und ich sind uns nicht sicher, ob es richtig ist, dass wir uns bei Ihnen melden. Offensichtlich wollte es Lando nicht. Aber in seinem Tagebuch steht viel von Ihnen und irgendwie dachte ich, dass Sie ein Recht haben zu erfahren, was passiert ist."

Über Wochen hatte er sich den Kopf über Lando zerbrochen, hatte sich selbst öfter hinterfragt. War es richtig gewesen, sich bei den Teenagern einzumischen? Hatte er Lando wirklich gut genug vermittelt, dass er sich dieses Verhalten nicht gefallen lassen musste? Hatte er Lando vielleicht in noch größere Gefahr gebracht? Es gab oft Tage, da fühlte er sich richtig schlecht, weil er sich in das Leben eines fremden Jungen eingemischt hatte. Aber dann gab es Tage, an denen er gut damit zurechtkam, sich eingemischt zu haben.

„Lando geht es nicht gut, oder?"

„Nein. Nein, es geht ihm überhaupt nicht gut. Wir sind im Krankenhaus."

+

„Carlos?"

„Hola."

Unsicher was er machen sollte, stand Carlos vor dem fremden Mann. Adam Norris erweckte einen seriösen und aufrichtigen Anschein. Die Haare schon leicht graumeliert, konnte er trotzdem kleine Grübchen im Gesicht des Mannes erkennen.

„Danke, dass Sie hergekommen sind."

Und als Adam ihm die Hand entgegenstreckte, war es, als würde das Eis brechen. Kräftig schüttelte er diese und versuchte sich an einem halbherzigen Lächeln. Nicht, dass England ihm nicht gefallen hätte, aber er wäre gerne unter anderen Umständen zurückgekommen.

„Wie geht es Lando? Was hat er?"

Kaum, dass sie im Auto saßen, konnte sich Carlos nicht mehr zurückhalten. Seit er vor zwei Tagen mit Adam Norris telefoniert hatte, zerbrach er sich den Kopf darüber, warum Lando im Krankenhaus war. Dass es offensichtlich etwas mit Lewis und seinen halbstarken Arschlöchern zu tun hatte, war Carlos sofort klar gewesen. Und er konnte nicht abstreiten, dass er Angst vor der Antwort hatte.

„Ich glaube, es ist besser, wenn ich genauer darüber erzähle, wenn wir im Krankenhaus sind. Aber ich kann schon sagen, dass Lando aktuell nur noch unter Beobachtung im Krankenhaus ist."

Fast wie er erwartet hatte, schnürte ihm schon diese Antwort den Hals zu. Was hieß unter Beobachtung? Es gab so viele Möglichkeiten, weswegen man Lando im Krankenhaus behalten wollte und die einzige, die er halbwegs akzeptieren hätte können, war das Wissen, dass man Lando zur Sicherheit lieber noch etwas im Krankenhaus behielt, um dessen Zustand einschätzen zu können.

Die Fahrt verlief nicht unbedingt seltsam, aber auch nicht lustig vergnügt. Sie kannten sich nicht und es war nicht einfach, ein Gespräch mit einem quasi fremden Menschen zu starten.

„Wir haben Sie über das Tagebuch von Lando gefunden. Bis zu diesem Moment wussten wir nichts von Ihnen. Lando hat nichts von Ihnen erzählt, als Sie ihm damals im Freizeitpark geholfen haben. Ich danke Ihnen von Herzen, Mr. Sainz, dass Sie unserem Sohn beigestanden haben und sich für ihn eingesetzt haben."

An der kompletten Körperhaltung konnte Carlos erahnen, wie sehr Adam Norris an sich selbst zweifelte und sich wohl auch als Versager betrachtete, da er selbst nicht gesehen und gemerkt hatte, was mit Lando los war.

„Sie wissen, dass Sie sich keine Schuld geben müssen, oder?"

Schnaubend schüttelte Adam den Kopf. „Wie könnten wir nicht? Cisca und ich fühlen uns schlecht. Sehr schlecht. Unser Sohn wurde in der Schule schikaniert, gemobbt, körperlich angegriffen und beschimpft. Und wir haben nichts bemerkt."

„Weil Lando es nicht wollte. Er wirkte im Park schon so, als ob er oft vieles verbergen konnte. Und er wollte sie nicht belästigen. Ich kenne das von mir selbst. Meinen Eltern wollte ich damals auch nichts von dem Mist erzählen, habe gelogen und gelächelt."

„Deswegen konnten Sie so gut helfen, oder? Sie haben das selbst alles durchgemacht?"

„Ja. Ich hatte auch eine unschöne Schulzeit. Aber ich habe heute mit Fernando einen sehr engen und guten Freund. Er war damals der Rädelsführer, wenn es darum ging, mir das Leben zur Hölle zu machen. Ich bezweifle sehr, dass Lando mit diesem Lewis und ich glaube Nico, Pierre und Kevin befreundet sein will?"

Für einen kleinen Moment musste Adam Luft holen, musste sich daran erinnern, dass er ein Auto fuhr und nicht toben durfte. Diese Schweine waren am Zustand seines zweitältesten Kindes schuld. Wenn sich Adam dies oft genug einredete, war sein eigenes schlechtes Gewissen nicht so schlimm. Er hatte als Dad versagt, hatte seinen Jungen nicht schützen können.

„Ich werde diese Subjekte nicht in die Nähe meines Sohnes lassen."

Und damit war für den Rest der Fahrt Schweigen zwischen ihnen.

Carlos wollte nicht weiter nachbohren, hatte er doch auch kein Recht dazu. Natürlich wollte er wissen, was die Jungs gemacht hatten und ob diese schuld daran waren, dass Lando im Krankenhaus lag. Aber irgendwie dachte sich ein großer Teil das schon.

+

„Hallo. Schön Sie kennenzulernen, Mr. Sainz. Ich bin Cisca, Landos Mom."

Warme, aber traurige Augen blickten ihm entgegen, als er der Frau vor sich die Hand reichte. Adam hatte sie vorerst in eine Art Vorzimmer gebracht. Hier standen ein Tisch und Stühle. Vielleicht ein Wartebereich? So sicher war sich Carlos nicht. Aber es war auf jeden Fall kein Krankenzimmer.

„Hola. Ich hätte Sie gerne unter anderen Umständen kennengelernt, aber ich kann verstehen, wieso sich Lando nicht gemeldet hat. Ich war und bin ein fremder Mann, der sich in sein Leben eingemischt hat und dann auch noch überflüssige Ratschläge verteilt hat."

„Überflüssig waren Ihre Ratschläge nicht. Lando hat später in seinem Tagebuch viel über Sie geschrieben, was Sie für ihn getan haben."

„Ich möchte Ihnen nicht zu nahetreten, aber liest man die Tagebücher der Kinder eigentlich nicht?"

„Da haben Sie recht. Wir wussten uns nicht anders zu helfen, wollten wissen, warum unser Sohn Tabletten genommen hat. Wir haben gehofft, Antworten zu finden. Und die haben wir gefunden. Mehr als wir erwartet hätten."

Also hatte er recht mit seinen schlimmsten Befürchtungen? Lando hatte tatsächlich versucht, Suizid zu begehen? War sein Leben nach dem Freizeitpark noch schlimmer geworden? Hatte der schüchterne Junge es nicht mehr aushalten können? Wieso nur hatte sich Lando nicht gemeldet? Er hätte doch zugehört, hätte versucht, ihm Mut zu machen.

Aber hätte das was ändern können?

Spanien – England war kein Katzensprung und sie waren noch immer Fremde. Lando war ein Schüler, lebte ein ganz anderes Leben als er mit seinen 21 Jahren. Sie lebten in unterschiedlichen Welten, hatten außer dem Mobbing nichts gemeinsam.

„Lando hat nicht versucht, sich ... Er ... wollte ... nicht ..."

Cisca schluckte hart, als Tränen in ihre Augen traten. Sie war es gewesen, die ihren Sohn gefunden hatte. Sie war es, die geglaubt hatte, ihren Sohn verloren zu haben.

„Ssssh." Schützend nahm Adam seine Frau in die Arme, strich dieser beruhigend über den Rücken. Diesen Anruf seiner Frau würde er im Leben nicht mehr vergessen. Dieser Anruf hatte ihr komplettes Leben auf den Kopf gestellt und sie so viele Dinge hinterfragen lassen.

„Die Ärzte meinen, es sei ein Versehen gewesen. Lando musste starke Schmerzmittel wegen seiner Verletzungen nehmen. Wir wussten nicht, dass er auch Schlaftabletten hatte. Wir wussten vieles nicht, was unser Sohn vor uns verborgen hatte. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass Lando die Tabletten zu stark dosiert hat. Sie mussten ihm den Magen auspumpen. Er ist jetzt noch zur Kontrolle hier und weil mit seinem körperlichen Zustand in gewisser Weise auch nicht alles in Ordnung ist."

Ohne Weiteres bekam er ungefilterte Informationen, die ihn fast schon überfuhren. Er hatte nicht damit gerechnet, dass die Eltern Landos ihm ohne Bedenken alles anvertrauten, was geschehen war.

„Es tut uns leid, dass wir Sie einfach damit konfrontieren. Aber aus dem Tagebuch von Lando geht hervor, dass es Lando viel bedeutet hat, dass Sie ihm beigestanden haben. Wir wollen unseren Jungen nicht schlecht dastehen lassen, das ist er keineswegs. Aber neben Alex und George hat Lando noch nie wirklich jemand anderes erwähnt. Wir können aber auch verstehen, wenn Sie hiermit nichts tun haben wollen. Wenn Sie wieder abreisen wollen, dann ist das vollkommen in Ordnung. Wir zahlen die Unkosten, die wir mit unserem panischen, unüberlegten Anruf bei Ihnen verursacht haben."

Das war die Chance – vielleicht die einzige –, um umzudrehen und nicht mehr zurückzugucken. Er hatte weder was mit Lando noch dessen Eltern zu tun. Und es konnte ihm auch egal sein, wie es Lando ging, was wirklich geschehen war. Immerhin hatte der Teenager es auch nicht für nötig gehalten, sich zu melden, obwohl dieser das Angebot hatte. Also was hielt ihn hier? Ein fremder Junge, der ihn vom ersten Moment an angezogen hatte? Der nicht nur seinen Beschützerinstinkt geweckt hatte? Oder waren es verzweifelte Eltern, die das Tagebuch ihres Kindes gelesen hatten und nun glaubten, dass Lando und er irgendwie Freunde waren?

„Ich würde Lando gerne sehen, wenn das in Ordnung wäre? Wenn er mich überhaupt sehen möchte. Er ist doch außer Gefahr, oder?"

„Ja. Er ist außer Gefahr. Ich war bis vor zehn Minuten bei ihm. Jetzt sind Ärzte bei ihm drin. Wir könnten so lange in die Cafeteria gehen? Vielleicht kann man sich noch mehr austauschen. Wir wissen von Ihnen nur den Namen und dass Sie aus Spanien sind. Und wenn wir Sie dann nicht zu sehr bedrängt haben sollten, würde sich Lando bestimmt über Ihren Besuch freuen."

Und so geschah es.

Gemeinsam mit den Eltern des Jungen, den er vor Wochen gerettet hatte, machte sich Carlos auf den Weg in die Cafeteria. Nicht ahnend, was ihn noch alles erwarten würde.

TBC ...

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