Bonuskapitel
Bonuskapitel
Als sie den hellerleuchteten Raum betrat, wurde sie sofort von einem der Werter begrüßt. Dieser deutete mit einer Handbewegung in Richtung eines Stuhles, auf dem sie sich niederließ und mit sichtlich angespannter Stimmung wartete. Der Werter sah ihre Anspannung und versuchte sie durch ein kleines aber leider klägliches Lächeln aufzumuntern. Bella nickte jedoch nur und wandte sich wieder den Gedanken zu, die stetig in ihrem Kopf herum kreisten. Schließlich wurde er hereingeführt. Bella blickte zu Boden und ihre verkrampften sich. Doch er sah sie nicht einmal an, obwohl er wusste, dass sie hier war, um mit ihm zu reden.
«Sie haben jetzt exakt eine Stunde zeit miteinander zu reden», begann der Werter, der Bella vorhin versuchte aufzumuntern und fügte hinzu: «falls etwas sein sollte, betätigen Sie diesen Knopf, Frau Baker.»
Bella nickte, denn sie brachte es nicht fertig etwas zu sagen. Es fiel ihr sichtlich schwer in seiner Gegenwart zu sprechen und das wusste er. Doch Cem wusste dies und nutzte es deswegen geschickt aus. Das schließen der Türen riss Bella aus ihren Gedankengängen und katapultierte sie in die Wirklichkeit zurück.
«Dass du dich traust hierher zukommen», zischte er abfällig und etwas begann in Bella zu zerreißen. Sie blickte ihn nicht an, weil sie es nicht konnte.
«Und jetzt kriegst du nicht mal ein Wort aus deinem schäbigen Mund heraus», fuhr er fort und ließ ihr Herz für einige Sekunden qualvoll bluten. Dabei lachte er kurz auf und sah Bella hasserfüllt in ihre braunen Augen, in denen Tränen standen, die sie versuchte ihm nicht zu zeigen. Dafür war es sichtlich zu spät.
«Und jetzt heulst du wie ein kleines Baby», meinte Cem und kam Schritt für Schritt auf sie zu. Kurz vor ihr blieb er stehen und musterte sie mit seinen kühlen blauen Augen. Bella bemerkte die heißen Tränen erst, als ihr Gesicht durchnässt war und Cem es zum Äxten Male gesagt hatte.
«Warum bist du überhaupt hier?», fragte er und trat näher an Bella heran. Er sah den kleinen Bauch nicht, der sich unter ihrem Kleid versteckt hatte. «Wenn du eh deine Klappe nicht aufkriegst, wieso verpisst du dich denn nicht einfach, hmm?»
Stille. Nur das leise ticken einer Wanduhr war zu vernehmen. Bella starrte an die karge Wand und versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Wie sollte sie es ihm sagen? Wie sollte sie ihm sagen, dass sie ein Kind von ihm erwarten würde? Wie sollte sie es in nicht mal mehr einer guten halben Stunde die Situation erklären? Bella fand keine Antwort auf ihre Fragen. Schließlich raffte sie sich auf und setzte zu sprechen an, doch wurde von ihm barsch unterbrochen.
«Also das nenne ich mal Timing», er grinste gehässig und trat ein Stück von ihr weg, «was willst du jetzt sagen, nachdem du deine Fresse eine geschlagene halbe Stunde nicht...»
«Ich bin schwanger», brach es schließlich aus ihr heraus. Cem glotzte sie mit offenem Mund an. Er starrte einfach auf sie herab und brachte nichts heraus. Einige Minuten vergingen, bis er seinen Mund öffnete und harte Worte aus ihm kamen, die sie lieber nicht hätte von ihm hören wollen.
«Du bist schwanger? Wie kann das sein? Wie? Wir hatten doch noch nie. Willst du es mir unterjubeln?»
«Es ist dein Kind, Cem», flüsterte sie leise, kaum hörbar für seine Ohren.
«Das glaub ich dir nicht!», schrie er und schlug so heftig gegen die Wand, sodass Bella zusammenzuckte. «Das glaub ich dir nicht du kleine billige H...»
«Es ist aber so!», brachte sie zitternd heraus. «Es ist dein Kind und damit musst du dich abfinden!»
«Du wagst es mich anzubrüllen?»
Cem kam bedrohlich näher.
«Du wagst es wirklich mich anzubrüllen?»
«Cem, bitte.»
Er unterbrach sie barsch. «Hör auf! Das zieht bei mir nicht! Du wirst es wegmachen! Du wirst es von mir aus in eine Babyklappe legen oder ganz abtreiben! Damit will ich nichts zu tun haben! Hast du das verstanden?»
«Aber es ist dein Kind, Cem. Es ist dein Kind. Hörst du? Deins. Willst du das nicht wahr haben? Du verstößt dein eignes Kind, Cem. Was soll es später von dir halten?»
«Das ist mir scheiß egal», zischte er so bedrohlich, dass Bella an die Wand zurückwich und ihre Arme schützend um ihren Bauch legte. «Du wirst es abtreiben oder ich werde dir dein Leben zur Hölle machen, wenn ich aus dem Knast komme!»
Bevor Bella etwas sagen konnte, öffnete sich die schwere Stahltür. Zwei Werter traten ein und legten ihm die Handschellen an. Einer kam auf Bella zu und stellte ihr einige Fragen, die sie nicht wahrnahm. Bella blickte auf Cem und etwas änderte sich in ihr. Sie stürmte auf ihn zu. Schrie nach ihm, doch er reagierte nicht darauf. Die Werter führten ihn ab und Bella stand da. Weinend. Wurde von heftigen Schluchzern geschüttelt und sackte zu Boden, bis jemand sie hochhob und aus dem Gefängnisgebäude trug.
Bella kam erst zu sich, als sie in einem weißen Raum war und es nach Desinfektionsmittel roch. Ihr Bruder stand neben ihr und musterte sie besorgt. Melek und auch Maria sowie andere standen da und musterten Bella eindringlich. Diese wandte sich ab und kniff die Augen fest zusammen. Das Geschehen kreiste in ihren Gedanken. Es machte sie schier wahnsinnig. Bella musste etwas tun. Aber was? Wie konnte sie dem Leiden ein Ende setzen, ohne dass es sofort jemand mitbekam? Wie konnte sie das geschickt einfädeln? Wie?
«Wir kommen morgen wieder», durchbrach Ayden die Stille und sie verschwanden. Bella atmete erleichtert auf. Jetzt konnte sie ihren Gedanken freien Lauf lassen. Jetzt würde sie wissen, was zu tun war. Bella holte tief Luft, um sich so vorzubereiten. Leise stand sie auf und schlich aus dem Zimmer.
Endlich hatte sie die Tür erreicht, wo sie das fand, was sie in diesem Moment brauchte. Es war still in diesem Raum. Nichts regte sich. Blitzschnell huschte Bella herein und nahm die Dinge, die sie jetzt brauchte. Schnell öffnete sie eine der kleinen Flaschen und kippte den Inhalt in einem Zuge hinunter. Die anderen Nahm sie mit in ihr Zimmer und sperrte sich im Bad ein, um ihr Werk zu Ende zu bringen.
«Er hat es so gewollt», flüsterte Bella und trank eine weitere Flasche. Die leere schmiss sie ins Klo. So ging es geschlagene zehn Minutenlang. Letztendlich drückte Bella entkräftet und müde die Klospülung, um die leeren Flaschen in den Abfluss zu befördern. Nur mit großer Mühe und Not hievte sie sich in ihr Bett und zog die Decke über ihren Kopf. Bella legte ihre Hand auf ihren Bauch und schloss für immer ihre Augen. Erinnerungen zogen langsam und in Zeitlupe an ihr vorbei. Schlechte wie auch gute. Dann atmete sie ruhig ein und es schien, als würde sie schlafen. Selig, doch dies für immer und ewig.
Wenn die Ärzte ein wenig früher da gewesen wären, hätten sie Bella von ihrem Tun abhalten können. Doch nun war es eindeutig zu spät. Doch damit das Kind in ihrem Bauch nicht starb, hatten sie ihren leblosen Körper notgedrungen mit Maschinerien am Leben erhalten. Denn solange ihr Hirn nicht aussetzte, war alles möglich. Der Körper würde solange am Leben erhalten werden, bis das Kind herausgeholt werden konnte. Doch trotzdem blieben einige Fragen offen. Wie sollten sie es ihren Familienmitgliedern erklären? Wer würde auf das Kind achtgeben? Dies war eine kleine Auswahl an Fragen, die sich den Ärzten auftaten. Doch eine Frage würde sie wohl für eine Weile beschäftigen müssen. Warum hatte sie versucht sich das Leben zu nehmen?
......
Jahre waren vergangen. Jahre in denen er über sein Leben im Klaren werden konnte. In denen er darüber nachdenken konnte, was er falsch gemacht hatte. Doch für eine Änderung war es wohl oder übel zu spät. Er hatte mitbekommen was mit Bella geschehen war. Er hatte mitbekommen, dass das Kind eine nun sechzehnjährige Frau war, die eine zehnte Klasse an einem berliner Gymnasium besuchte. Doch wollte er seine Tochter wirklich sehen? Das Kind von ihm und Bella, die ihn über alles geliebt hatte und was er einfach nicht wahr haben wollte? Nein, das wollte er nicht. Er konnte ihnen nicht unter die Augen treten. Er konnte nicht einfach bei Ayden auftauchen und nach ihr verlangen. Sie würden ihn wegschicken und ihn anschreien. Sie würden ihm vorhalten wieso er sich nicht früher gemeldet hatte und wieso er es zugelassen hatte, dass Bella sich das Leben nahm. Es war seine Schuld und das wusste er ebenso, wie die anderen es wussten. Doch konnte er damit leben? Konnte er mit dem schlechten Gewissen überhaupt weitermachen? Cem wusste es nicht. Wie denn auch. Er konnte nicht ahnen, dass sich sein Leben verändern würde und dass einige Dinge anders als früher sein würden.
Ein spitzer Schrei riss ihn aus seinen Gedankengängen. Cem blickte auf, sein Körper spannte sich langsam an. Wurde jemand bedroht? Vergewaltigt? Belästigt? Urplötzlich sprang er auf und rannte in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war. Ein Mädchen mit langen Haaren stand da und sah ängstlich aus. Vor ihr ein Mann, der sie mit einem Gesichtsausdruck musterte, der ihm allzu bekannt vorkam. Wenn er jetzt nicht eingriff, war es das. Cem holte tief Luft und schlich sich an den Mann heran. Dann schlug er zu. Fäuste flogen. Das Mädchen stand da und schaute zu, wie sie sich die Köpfe einschlugen.
Letztendlich lag der Mann blutend am Boden. Cem schaute zum Mädchen herüber, blickte besorgt und ging dann davon. Sie folgte ihm heimlich, hielt ihn am Arm zurück. Er drehte sich in ihre Richtung, schaute genervt. Seine alltägliche Maske war wieder auf seinem Gesicht erschienen, doch sie wusste, dass diese nur dem Schutz diente.
«Du bist Cem oder?», fragte sie und blickte ihm intensiv in seine blauen Augen, die nichts als leere wiederspiegelten.
«Woher weißt du das? Warum treibst du dich allein hier herum!», herrschte er sie mit fahriger Stimme an. Doch sie gab ein leises Lachen von sich.
«Du bist also mein Onkel, der im Knast saß und ein Arschloch gewesen sein soll. Laut den Briefen meiner Tante Bella», erklärte sie und lachte leise auf. Dann sprach sie weiter auf ihn ein. «Ich sehe doch in deinem Blick das dich etwas bedrückt. Livia geht es gut. Aber sie will sich an dir rächen, weil du – so hat sie es gesagt und nicht ich – ein richtiges Arschloch bist und total Herzlos gewesen sein musst, weil du Tante Bella ziemlich verletzt hast. Manchmal höre ich Mama und Papa darüber reden. Sie denken, dass ich schlafe aber ich tue es nicht. Ich kann ihren Wortlaut hören und es nimmt mich mit. Ich kann sehen, dass dich das ebenfalls mitnimmt. Warum vertragt ihr euch nicht einfach?»
Schweigen erfüllte die Nacht. Beide schauten einander an. Keiner sagte ein Ton. Cem blickte zu Boden. Die kleinen Kieselsteine glitzerten im Nachthimmel, wie kleine Diamanten. Cem wusste, dass er einen großen Fehler begangen hatte und es machte ihm schwer zu schaffen.
«Komm!», forderte sie und zog an seinem Arm. «Ich führe dich zu ihrem Grab.»
Er schwieg und folgte ihr still. Nach einigen Minuten kamen sie an einem Friedhof an. Das Mädchen, Emily Baker, öffnete die Tore und ließ ihm den Vortritt. Schließlich trat sie selbst ein und zeigte ihm das Grab von Bella, die ihn geliebt hatte. Frische Blumen lagen auf dem Grabstein, der nun verstorbenen Bella. Sie war nicht einmal fünfundzwanzig geworden. Im Alter von vierundzwanzig hatte sie ihr Leben gelassen, weil sie mit dem Schmerz nicht mehr klarkam und es nicht mehr ausgehalten hatte so hart von ihm abgewiesen zu werden. Was tat Cem jetzt? Stand vor ihrem Grab und starrte auf die Innenschrift des Grabsteins. „Ruhe in Frieden, Bella und vergiss die schöne Zeit nicht." stand in großen Lettern auf ihm.
«Sie hat sehr gute Bücher geschrieben», flüsterte Emily und schaute ihren Onkel lange an. Dieser hatte mit seinen Gefühlen zu kämpfen und wandte sich von ihr ab um zu gehen, doch etwas hielt ihn zurück. Emily wusste was jetzt geschehen würde. Sie hatte sich diese Szene lange und deutlich vorgestellt. Also zückte sie ihr Handy und zeigte ihm ein Foto von seiner Tochter Livia, die fröhlich in die Kamera lächelte. Doch ihr Gesichtsausdrück drückte keine ehrliche Freude aus. Emily wusste es nur zu gut. Sie wusste im Geheimen, dass sie ihrem Vater verziehen konnte und dass sie ihn sehen wollte. Vielleicht würde Livia ihn einfach erst einmal anschreien und ihm verheerende Worte an den Kopf knallen, um sich dann bei ihm zu entschuldigen.
«Ist sie das?», fragte er leise und riss Emily somit aus ihren Gedankengängen.
«Ja, das ist sie. Livia. Deine Tochter, die echt gut Bücher lesen kann. Vielleicht wird sie mal Hörbuchsprecherin oder Synchronsprecherin», plapperte Emily drauf los und wurde bei jedem Wort schneller.
«Ich würde sie gerne», Cem schluckte und senkte den Blick zu Boden. Die Erde war aufgewühlt. Vielleicht waren hier einige Tiere entlang gelaufen und hatten die Erde aufgerissen. Oder es waren die Friedhofswächter, die umgegraben hatten.
«Sehen?», brachte Emily seinen Satz zu Ende und Cem nickte leicht. «Dann komm mit. Ich bringe dich zu ihr.»
Schweigend folgte Cem ihr aus dem Friedhof. Sie liefen an verfallenen Ruinen entlang, bis sie in eine noble Gegend kamen. Hier wohnten sie also.
«Warte hier. Ich komme gleich wieder.»
Sie verschwand in einem Haus und kam nach fünf Minuten wieder. Jemand folgte ihr. Cem hörte ihre Stimmen leise miteinander reden. Dann verschwand Emily wie aus dem Nichts und vor ihm stand sie. Ebenso überrascht wie er selbst es war. Kein Wort drang über seine Lippen. Zu geschockt war er darüber, dass sie Bella so ähnlich aussah. Er schluckte heftig und senkte den Blick. Und dann?
«Wie kannst du nur!», schrie sie und schlug mit Fäusten auf seine harte Brust ein. Er wehrte sich nicht, ließ es einfach geschehen. Dabei sah er sie einfach nur von der Seite aus an. «Wie konntest du nur! Ich hasse dich! Ich hasse dich! Du bist nicht mein Vater! Du bist nicht mein...»
Stille, welches durch einen lauten Aufschrei unterbrochen wurde. Cem wirbelte herum, packte Livia fest und drückte sie nah an sich.
«Lass mich los!», brüllte sie und schlug und kratzte. Sie war es, die geschrien hatte. Er merkte nicht, wie sich die Haustür geöffnet hatte und einige Menschen herauskamen, um dem Spektakel beizuwohnen.
«Du bist ein verdammtes Arschloch!», zischte sie mit bedrohlicher Stimme. Im Hintergrund wurden Fotos geschossen. Cem bemerkte dies und zog blitzschnell an ihrem Arm. Sie gingen auf die offene Haustür zu, wo sie sich losriss und erneut auf seine harte Brust schlug. Dabei liefen ihr ununterbrochen Tränen übers Gesicht. Unverständliche Worte kamen aus ihrem Mund. Und was tat er? Wehrte sich nicht. Schaute einfach nur zu. Zu viel geschah in diesem Moment in ihm. Zu viel, was er nicht einzuordnen vermochte.
«Livia? Cem?»
Stille. Totenstille breitete sich im Hausflur aus. Cem wagte es nicht aufzublicken. Er wusste, dass es seine Schwester war. Er wusste, dass Melek sich gut um sie kümmerte und drehte sich schließlich um. Doch er hatte die Rechnung nicht mit seiner Tochter gemacht, die ihn grob am Arm herumriss und ihm erneut heftig in die Brust zu schlagen. Melek trat hervor und legte Livia einen Arm um die Schultern. Ayden trat aus einer anderen Tür und musterte ihn mit hasserfülltem Blick. Emily stand hinter ihm. Sie war die erste, die etwas sagte. Sie war die erste, die versuchte die Situation umzuwenden.
«Er bereut es», begann sie und ging langsam auf ihn zu. «Seht ihr es nicht? Seht ihr den Schmerz in seinem Blick nicht? Er hat einen Fehler gemacht. Ja, aber das ist Jahre her. Was habt ihr immer gesagt? Vergebung ist das einzige Mittel, m die Wunden zu heilen. Papa. Du hast doch immer gesagt, dass du eines Tages vergeben würdest. Und jetzt ist er hier, aber du vergibst ihm nicht? Und was ist mit dir, Tante Melek? Und mit dir Mama? Und mit dir Livia? Er ist dein Vater verdammt nochmal. Dein Vater! Und er macht sich Sorgen um dich.»
Livia lachte rau auf. «Dann hätte er Mama nicht dazu gebracht sich umzubringen, Emily! Dank ihm ist sie doch tot und Tante Melek streitet sich andauernd mit Onkel Ayden! Ich halte es nicht aus! Wieso stirbt er nicht einfach auch! Ich will ihn bluten sehen! Ihn leiden sehen! Ihn winseln sehen! Er soll sterben! Und das qualvoll! Er soll für seine Herzlosigkeit büßen!»
Stille trat nach den heftigen Worten Livias ein. Keiner wagte es etwas zu sagen. Keiner wagt es sich zu regen. Doch Cem war der Einzige, der sich langsam fortbewegte. Emily griff nach seinem Arm und stieß ihn heftig in die Mitte des Flures. Alle Blicke lagen nun auf ihm. Auf seinem Körper, den Livia geschunden hatte und beobachteten Cem mit bösen, hasserfüllten, mitleidigen Blicken. Er selbst schaute zu Boden, schwieg, schluckte heftig.
«Seht ihr denn nicht, wie schlecht es ihm geht?», beharrte Emily auf ihrer Frage und stellte sich zu ihm. Tröstend legte sie eine Hand auf seine Schulter, doch Cem regte sich nicht. Starrte zu Boden. Er war abwesend. Etwas regte sich in seinem Blick, doch keiner nahm es wahr. Außer Emily. Diese legte ihm nun ihre Arme um den Körper und drückte ihn fest an sich. Dabei streichelte sie sanft über seinen Rücken und ließ ihn nicht aus den Augen, um zu schauen was als nächstes in seinem Blick passieren würde. Doch zu erst geschah nicht. Dann? Flossen sie über sein Gesicht. Er war stark gewesen und nun bröckelte seine Fassade endgültig. Sie hatte es geschafft. Seine Mauern waren durchdrungen und nun sah jeder, wie er sich fühlte. Wie oft hatte er versucht dies vor alles geheim zuhalten? Wie oft hatte er versucht dies niemandem zu offenbaren? Und doch war es geschehen. Und doch hatte er seine Maske fallen lassen. Und doch hatte er es zugelassen. Bella hatte ihn verändert und Cem wollte es nicht akzeptieren. Doch jetzt? Es war zu Spät ihr etwas mitzuteilen. Es war alles zu spät. Nichts konnte er nun ändern. Nichts. Oder doch?
«Es tut mir leid», kam es leise aus dem Mund seiner Tochter. Emily hatte ihn losgelassen und Livia hatte sich vor ihrem Vater gestellt. Diesmal hatte sie Tränen in den Augen. Sie sah ihn an und weinte bitterlich, als ihr die Worte über die Lippen kamen. Und was tat Cem? Er nahm sie schweigend in die Arme, tröstete sie, küsste sie sanft auf ihren Kopf, drückte sie fest an sich.
«Papa», schluchzte sie laut auf. «Es tut mir so leid. Ich wollte nicht, dass...»
«Schon gut», beschwichtigte er sie und lächelte leicht.
«Wirklich?», fragte sie und schniefte kurz auf.
«Wir werden das Beste draus machen, mein Liebes» sagte er und küsste ihren Kopf erneut. Livia drückte ihn fest an sich.
......
Jetzt standen sie alle auf einem Hochhaus. Sagen in die Ferne und schwiegen dabei. Jahre waren vergangen, doch ihre Tradition war erhalten geblieben. Livia stand neben ihrem Vater und blickte in den Wolken verhangenen Himmel, der sich zunehmend dunkler färbte. Emily stand neben ihrem Vater und schaute ebenso in die dunkle Nacht. In dieser Stille gedachten sie an die tote Bella und Erinnerungen durchflossen alle. Sie erinnerten sich an die Schulzeit. Sie erinnerten sich an die Streiche, die sie als Kinder gespielt hatten... Doch Cem erinnerte sich nicht an jene Streiche, die er als Kind ausgeheckt hatte. Er erinnerte sich an die Zeiten seiner schlimmen Kindheit. Er erinnerte sich daran, wie schlecht er Bella behandelt hatte und wünschte sich nichts Sehnlicheres als bei ihr zu sein, um sich zu entschuldigen. Wie gern er die Zeit zurückgedreht hätte, um alles anders zu machen. Wie gern er ihr von seiner Kindheit erzählt hätte. Wie gern er gesehen hätte, wie Livia aufgewachsen wäre. Doch das alles war ihm verwehrt gewesen, da er so ein verdammtes Arschloch gewesen war. Aber ob er sich nun ändern würde? Das würde sich zeigen. In der nahen Zukunft würde man es herausfinden können. Wenn er Emily in diesem Moment nicht geholfen hätte, wäre es bestimmt nicht zu dieser Begegnung gekommen. Wenn er Lebenslänglich im Knast gesessen hätte, wäre er im Gefängnis versauert und hätte den Rest seines Lebens mit Schuldgefühlen verbringen müssen, die sich bis heute nicht abschütteln ließen. Doch alles war ganz anders gekommen.
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