5

5 (Livia Baker)

Ich saß an meinem Schreibtisch. Es ist totenstill in meinem Zimmer. Das Mikro stand vor mir. Meine Atmung ging flach. Es war soweit. Heute würde ich das erste Kapitel des ersten Bandes meiner Mutter auflesen und es auf YouTube hochladen. Immer wieder habe ich darüber nachgedacht und alles durch meinen Kopf gehenlassen. Doch bis jetzt war ich noch nicht zu einem endgültigen Entschluss gekommen. In wenigen Sekunden würde ich es angehen. Noch einmal holte ich tief Luft und schlug das Buch genau auf der ersten Seite auf, damit ich gleich starten konnte. Nur ein kleiner Knopfdruck und die Aufnahme würde starten. Ich musste mich zusammenreißen, denn so hätte das meine Mutter garantiert nicht gewollt. Ich nahm einen großen Schluck des kühlen Wassers und drückte den Startknopf.
«Flames. Von: Bella Baker. Es liest: Livia Baker. Prolog: Ein kleiner karger Raum. Ein schmales Bett. Darauf lag eine Frau. Gefesselt. Dunkelheit umgibt sie. Panisch schaut sie sich um und weiß in jenem Moment, dass sie nicht entkommen wird. Denn die leisen Schritte sind schon zu hören. Der Herzschlag der Frau beschleunigt sich. Ihre Augen waren weit aufgerissen. Scharf schneiden ihr die Seile ins Fleisch. Ein sich drehender Schlüssel im Schloss. Der Mann mit der feuerroten Maske steht vor dem Bett und schaut auf sie herab. Leise Worte verlassen seinen Mund, doch die Maske dämpft diese. Er holt etwas hervor. Dumpfe Schreie werden von dem Knebel in dem Mund der Frau geschluckt. Und dann bricht das Chaos aus. Flammes züngeln an dem Bettlaken empor und erreichen die Frau, welche sich panisch aus den Fesseln zu befreien versucht. Von dem Mann ist keine Spur mehr. Der Ausweg für die Frau kommt zu spät. Die Flammen erreichen sie und verschmoren ihr Fleisch. Die verkohlten Knochen liegen auf dem Bettlaken. Der Mann schaltet die Kameras ab und grinst zufrieden. Dann verlässt er das Haus. Seine Arbeit ist hiermit getan. Schon bald würde sein nächstes Opfer auf ihn warten. Doch dass dies ungeahnte Folgen haben konnte, wusste niemand. Es konnte ja keiner ahnen, dass er in wenigen Tagen zum Gejagten wurde. Nicht mal er selbst wusste davon. Sein ganzes Leben stand auf dem Spiel.»
Meine Arbeit war hiermit getan. Ich pausierte die Aufnahme, um sie am nächsten Tag zu Recht zu schneiden. Dann konnte ich sie auch hochladen. Das hätte ihr bestimmt gefallen.
«Livia! Kommst du zum Essen?»
Ich stand auf und ging in die Küche. Dort warteten meine Tante und Pierre schon auf mich. Als sie mich sahen, lächelten sie leicht. Obwohl mir die ganze Besorgtheit von ihnen auf die Nerven ging, ließ ich mir nichts anmerken. Ich musste einfach damit leben und ändert würde sich so oder so nichts. Außerdem würde mein beschissener Vater seine gerechte Strafe erhalten. Ich hatte mir da schon etwas ausgedacht, was ich bald in die Tat umsetzen würde. Doch da wusste ich nicht einmal, dass dies ungeahnte Folgen für mich bereit halten würde. Da wusste ich nicht einmal, dass ich mich und den Rest meiner Familie in Gefahr brachte.
«Woran denkst du gerade, meine Liebe?», fragte meine Tante und sah besorgt zu mir herüber. Die dachten wohl noch immer, dass ich das alles nicht verkraftet hätte. Dies stimmte ja in einigen Punkten. Doch ergeben wollte ich mich nicht. Ich wollte mich von einer ganz anderen Seite zeigen. Doch dies war schwieriger als gedacht.
«Ich denke an nichts», gab ich von mir und stocherte im Essen herum.
«Hast du etwa keinen Hunger?», wollte Pierre wissen und schaute zu mir herüber.
«Eigentlich nicht», sagte ich seufzend und legte die Gabel auf den Teller. «Kann ich nicht später etwas essen? Ich bin echt satt.»
«Dann stellen wir dir das Essen in den Kühlschrank. Und du kannst es dann essen, wenn du hungrig bist. Ist das ok?»
Ich nickte, bedankte mich und stand auf, um mich in mein liebliches Zimmer zu verziehen. Dort setzte ich mich an den Computer und machte mich an die Arbeit. Ich schnitt die Aufnahme zurecht und benannte das Video. Schon bald würde das die ganze Welt sehen. Ein kleines Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus.
Ich war fertig mit dem zurechtschneiden der Aufnahme. Nun lag ich auf dem Bett und surfte im Internet. Noch immer hatte ich keine brauchbaren Informationen gefunden, die ich brauchte, um ihn endgültig zur Strecke zu bringen. Es war zum verzweifeln. Warum wollte nicht immer alles funktionieren, so wie ich es wollte?
Es klingelte an der Tür. Rasch sprang ich auf und öffnete sie. Emily stand vor mir. Sie ging an mir vorbei. Geradewegs in mein Zimmer. Sie setzte sich aufs Bett, überschlug ihre Beine, sah mich an. Ob etwas vorgefallen war? Hatte ich etwas falsch gemacht?
«Ich finde es nicht richtig», schoss es aus ihrem Mund.
«Was meinst du?», fragte ich und setzte mich neben sie aufs Bett.
«Du kannst doch ganz normal mit ihm darüber reden. Oder du klagst ihn an. Aber Rache ist nicht richtig.»
Darum ging es also. Ich hätte es wissen müssen.
«Wieso willst du dich überhaupt an ihm rächen? Getan hat er dir doch eh nichts.»
«Doch, das hat er! Nämlich mir meine Mutter genommen die ich nicht sehen konnte!»
«Dafür kann er bestimmt nichts», versuchte sie mich zu beruhigen, doch das brachte mich nur noch mehr auf die Palme.
«Es ist auch deine Tante gewesen!», zischte ich mit bebender Stimme. «Sie war auch deine Tante. Ist dir das etwa egal?»
«Ich weiß, dass sie meine Tante ist! Aber er war ebenfalls mein Onkel! Außerdem hat jeder doch eine zweite Chance verdient. Oder nicht?»
«Dieser Mistkerl hat keine verdient!»
«Was ist denn hier los?», fragte Melek und sah uns beide nacheinander an. Anscheinend waren wir so laut, dass uns jeder gehört hat.
«Nichts», sagte ich und unterdrückte die Wut und den angestaute Hass auf jeden in diesem Raum.
«Das glaube ich nicht. Außerdem hat sich das vorhin ganz anders angehört», meinte meine Tante und setzte sich vor uns auf den Boden. «Jetzt werdet ihr mir alles nacheinander und ganz in Ruhe erklären. Ihr habt euch sonst nie so heftig gestritten. Warum jetzt auf einmal? Ist etwas vorgefallen?»
Warnend sah ich Emily an. Auf gar keinen Fall durfte sie etwas über diese Sache verlieren. Und wenn doch, dann würde sie schon ihr blaues Wunder erleben.
«Wir hatten nur eine kleine Meinungsverschiedenheit», sagte Emily und blickte zu Boden. Meine Tante schien nicht ganz zufrieden mit dem gesagten zu sein, denn sie drängte uns aufs Neue ihr alles zu erzählen. Leider erkannte sie, wenn jemand log.
«Es war echt nur eine Meinungsverschiedenheit», beteuerte ich und sah sie flehend an. Melek stand auf und ging sich durch die Haare.
«Aufs Erste werde ich euch dies glauben.»
Letztendlich verschwand sie aus dem Zimmer und ließ uns zurück. Es herrschte eisernes Schweigen im Raum. Keiner von uns wagte es die Stille zu unterbrechen. Denn niemand wusste, wann es so weit sein würde, dass der eine oder andere seinen Ausraster bekommen würde. Deswegen schwiegen wir und sagten nichts. Doch auf dauer war dies auch keine Lösung. Hatte ich vielleicht doch übertrieben? Sollte ich doch noch einmal alles überdenken? Ich war unsicher und man konnte mir dies absehen. Emily stand auf und verließ mein Zimmer. Kein Tschüss, kein bis morgen, kein wir sehen uns wieder... Gar nichts kam von ihrer Seite. Doch ich sagte ebenfalls nichts zu ihr. Vielleicht hatte ich doch übertrieben und Emily hatte Recht.
Du willst jetzt echt aufgeben und das alles vergessen?
Was anderes bleibt mir doch nicht übrig. Vielleicht hatten die beiden ja doch Recht gehabt.
Du hast so lange auf diesen Moment gewartet und willst es jetzt einfach verstreichen lassen?
Auch wenn ich meine Rache bekomme habe, was dann?
Dann bist du zufrieden und kannst in Ruhe dein Leben weiterleben.
Darüber schüttelte ich den Kopf. Meine innere Stimme war ein wenig verrückt geworden. Doch ich war es selbst auch. In mir herrschte ein Gefühlschaos vom feinsten. Ich konnte kein einziges Gefühl zuordnen. Dies brachte mich schier in den Wahnsinn. Was verdammt nochmal sollte ich bloß tun? Auf der einen Seite wollte ich mich an ihm rächen und auf der anderen nicht. Welcher Seite sollte ich mich nun mehr hingeben? Der mit der Rache oder der anderen? Ich hatte verdammt nochmal keinen Plan. Und das brachte mich um.

......

Nun saß ich hier. Mal wieder beim Psychologen. Warum schleppten sie mich eigentlich hierher? Vielleicht weil sie dachten, dass ich mit meiner Vergangenheit nicht klar kam oder so. Doch eigentlich konnte mir dies doch egal sein oder nicht? Aber das war es nicht.
«Wie geht es dir heute?», fragte die Psychologin und schaute mich Erwartungsvoll an.
«Gut», antwortete ich knapp.
«Wie war es heute in der Schule?», wollte sie wissen und zückte einen Stift. Jetzt würde sie wieder etwas in ihr kleines Heft schreiben. Bestimmt war es nichts Gutes.
«Wieso wollen Sie das überhaupt wissen?», fragte ich als kleine Gegenfrage und wartete auf ihre Reaktion ab.
«Nur aus reinem Interesse.»
«Ganz gut. Nehme ich an.»
Sie nickte und schrieb etwas nieder.
«Kann ich jetzt gehen?», wollte ich genervt wissen.
«Wir sehen uns nächste Woche wieder. Genau um dieselbe Uhrzeit.»
Zum Abschied reichte sie mir ihre Hand. Schnell ging ich aus dem Raum und verließ die Praxis der Psychologin. Noch einen Moment länger und ich wäre wahnsinnig geworden. Ich hatte die Praxis verlassen und steuerte geradewegs auf unser Haus zu, als ich Emily auf einem Vorsprung sitzen sah. Mit leerem Blick schaute sie geradeaus. Ich ging zu ihr und setzte mich neben sie.
«Ist alles ok bei dir?», wollte ich wissen und blickte kurz zu ihr, um ihre Regung zu studieren.
«Du willst jetzt also so tun, als wäre nichts passiert?», fragte sie und gab keine Antwort auf meine Frage.
Ich seufzte. «Das was Gestern passiert ist, war nicht ok von mir und das tut mir auch leid. Ich hätte nicht so ausrasten dürfen. Sorry.»
Leises aufatmen ihrerseits. «Hast du dir das noch einmal durch den Kopf gehen lassen?»
«Ich weiß nicht», sagte ich und wollte vom Thema abschweifen, doch Emily ließ nicht locker.
«Was willst du tun, wenn du eine Anzeige seinerseits erhältst? Wie willst du das erklären?»
«Dazu wird es doch gar nicht kommen», meinte ich und versuchte es erneut und wurde davon abgelenkt, dass Emily auf jemanden zeigte. Ich blickte in die Richtung und konnte es nicht fassen. Lara gab sich mit dem schüchternen Adam ab. Ich stand auf und riss Emily mit mir. Mit schnellen Schritten gingen wir auf die beiden zu. Als diese und entdeckten, lächelten sie freundlich.
«Seit wann hängst du mit ihm rum?», fragte ich Lara und zeigte auf den schüchternen und ruhigen Adam, der den Blick senkte und zu Boden schaute.
«Seit wann interessiert dich das denn?», fragte sie schnippisch zurück. Es machte mir zu schaffen. Eigentlich wollte ich mich nicht streiten und doch taten wir es gerade.
«Ich lass euch dann mal allein», sagte er und ging auf Abstand, sodass wir ungestört reden konnten.
«Wirst du dir das noch einmal überlegen, Livia?», drängte Emily mich. Lara schaute in der Zwischenzeit von einem zum anderen. Fragend sah sie uns an.
«Was soll sie sich überlegen?», fragte sie schließlich und hockte sich hin.
«Ob sie Rache an ihm ausübt oder nicht», sagte Emily und hockte ebenfalls auf dem Boden. «Denn falls sie eine Anzeige von ihm erhalten würde und dies Melek und Pierre herausfänden, wäre sie am Arsch.»
Ich seufzte genervt. «Falls ich eine bekommen sollte, werde ich diese natürlich vor meiner Tante aus dem Kasten nehmen.»
«Wir sind minderjährig», begann Lara. «Da werden die Polizisten schon bei euch zu Hause auftauchen.»
«So weit werde ich es erst gar nicht kommen lassen», versuchte ich die beiden zu beschwichtigen.
Beide seufzten und sagten: «Dann tu was du nicht lassen kannst.»
Damit war das Gespräch beendet. Adam kam wieder zu uns und legte Lara einen Arm um die Schultern. Bei seiner Berührung errötete sie leicht. Ich wandte den dreien den Rücken zu und ging zielstrebig auf unser Haus zu. Die Tür ließ ich leise ins Schloss fallen. Danach legte ich mich auf mein Bett und grübelte über alles nach. Vielleicht hatten sie ja doch recht. Vielleicht sollte ich es doch einfach lassen und mich damit abfinden. Doch ich war nicht so. Ich konnte und wollte es nicht darauf beruhen lassen. Ich musste einfach etwas dagegen tun. Es sollte seine Strafe erhalten. Aber wie zum Teufel sollte ich dies anstellen, ohne dass es jemand bemerkte und ohne dass ich eine Anzeige seinerseits bekam? Dies war doch eigentlich unmöglich. Oder was konnte man machen, dass man keine Anzeige erhielt? Vielleicht sollte ich mich anonym halten, sodass ich keine Anzeige erhalten konnte. Dann würde er eine Anzeige gegen Unbekannt stellen und nicht gegen mich. Er wusste ja nicht einmal meinen Namen. Doch da sollte ich mich getäuscht haben. Er sollte schon bald alles wissen, was mit mir zu tun hatte. Ich selbst sollte dies schon in wenigen Monaten am eignen Leib erfahren. Denn er sollte dreister werden. Aber bis dahin war es noch eine lange Weile hin. Schleunigst musste ich mir was ausdenken.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top