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2 (Melek Gül)

Bella hatte darauf bestanden das ich bei ihnen blieb. Mein Bruder wurde von den Polizisten mitgenommen. Nun lag ich da. Reglos. Konnte mich nicht bewegen. Vergebens versuchte ich meine Atmung unter Kontrolle zu bringen. Das Herz schlug mir bis zur Brust und die Angst stand mir wahrscheinlich im Gesicht geschrieben. Den beiden konnte ich nicht erzählen was zwischen mir und meinem Bruder vorgefallen war. Nicht einmal den Polizisten konnte ich es sagen. Die Angst, er könnte mich verletzen war zu groß. Das Klingeln meines Handys riss mich aus meinen Gedanken. Zögernd nahm ich es und blickte auf die eingegangene Nachricht. Das Blut gefror mir in den Adern, als ich seine Worte las.
Nein! Das konnte doch nicht wahr sein! Was mache ich denn jetzt?
Das klopfen an der Zimmertür riss mich aus meinen Gedankengängen und ich schreckte hoch. Langsam öffnete sich die Tür. Bella trat ein und setzte sich auf die Bettkannte. Dann sah sie mich lange an, als würde sie so herausfinden können was in meinem Kopf vor sich geht.
«Was ist los mit dir?»
Sie klang besorgt, als sie die Frage stellte und mich weiterhin scharf musterte.
Ich seufzte leise auf. «Es ist alles in Ordnung.»
«Das kann ich dir nicht glauben, Melek. Dich bedrückt doch etwas. Ich werde schon herausfinden was es ist.»
Mit den Worten verschwand sie aus meinem Zimmer und ließ mich mit meinen Gedanken allein. Vielleicht war dies auch besser so. Niemand sollte wissen, dass mein Bruder - wann auch immer er Lust hatte - mir das Leben zur Hölle machte. Ich war froh, dass ich die meisten blauen Flecken verstecken konnte. Und ich hoffte, dass er hier nie mehr auftauchen würde.

......

Ich war allein. Bella war weg und ihr Bruder war wo anders. Mir war langweilig und ich hatte keine Ahnung was ich tun sollte. Plötzlich klingelte es an der Tür.
Ob ich auf machen sollte?
Ich schüttelte den Kopf und blieb auf dem Bett im Gästezimmer der beiden liegen. Das erneute Klingeln riss mich aus meinem Dämmerschlaf. Außerdem klingelte auch zum Überfluss mein Handy. Nachrichten und verpasste Anrufe waren eingegangen. Das laute hämmern an der Tür versetzte mich in Panik.
Sollte ich die Polizei rufen? Wer war das? Was wollte die Person? Ob es mein Bruder war, der so laut gegen die Tür klopfte?
Ich konnte sie nicht öffnen. Nein. Das ging nicht. Ich atmete tief ein und dann wieder aus, um die Angst herunter zu schlucken. Gelingen tat es mir nicht viel. Das vibrieren meines Handys riss mich aus meinen herum irrenden Gedanken. Ich nahm es, klickte die Nachricht an und erstarrte für einen Moment. Jetzt konnte ich nicht mehr ruhig bleiben. Ich war in heller Aufruhe und musste mich zusammenreißen, um nicht gleich loszubrüllen. Ich konnte ihm die Tür nicht öffnen. Das würde ich nicht schaffen.
Und wenn er sie eintreten würde? Was dann? Dann würde er sich so oder so finden.
Die innere Stimme in meinem Kopf brachte mich zum verzweifeln. Die Angst kroch mir über den Rücken und veranlasste mir eine Gänsehaut. Was sollte ich nur tun?
Vielleicht solltest du die Polizei rufen und eine Einstweilige Verfügung gegen ihn anrichten.
Dann würde er mich töten.
Warum denkst du das? Wieso sollte er dich töten wollen?
Den Grund weißt du ganz genau. Jetzt mutierte ich noch dazu mit mir selbst zu sprechen. Ich war verrückt und gehörte in die Psychiatrie. Dann, erneutes Klopfen.
Ruf die Polizei.
Nein. Ich kann nicht.
Es wurde immer lauter.
Du musst sie rufen.
Er killt mich und schaufelt mir mein eignes Grab.
Ist doch egal.
Nein, das war nicht egal. Ich konnte meinen Bruder doch nicht einfach der Polizei ausliefern lassen.
Außerdem ist er sowieso straffällig.
Trotzdem.
Nicht trotzdem. Er wird weitermachen, wenn du nicht die Bremse ziehst.
Vielleicht hatte sie recht. Vielleicht sollte ich die Polizei rufen. Bevor ich das tun konnte, hörte ich ein lautes Krachen. Er konnte doch nicht im Ernst die Tür aufgebrochen haben. Dann hörte ich ihn.
«Wo bist du Schwesterchen? Du kannst dich nicht vor mir verstecken. Finden werde ich dich so oder so.»
Er lallte. Cem war betrunken. Panik und Angst erfassten mich gleichzeitig.
Schließe die Tür ab und rufe die Polizei.
Langsam und darauf bedacht keinen Lärm zu machen schloss ich leise die Zimmertür ab.
Stelle etwas vor die Tür, damit er nicht hereinkommen kann.
Auch dies tat ich, immer darauf bedacht nicht zu laut zu sein. Das Handy in meiner Hand tippte ich die Nummer der Polizei an. Es klingelte.
Du musst Ruhe bewahren und darfst auf keinen Fall laut werden, damit er dich nicht hören kann.
«Guten Tag. Hier ist die Polizei. Was kann ich für Sie tun?»
Die Stimme des Mannes riss mich aus meinen Gedanken. Was sollte ich nur sagen? Mein Atem ging schwer und ich hatte furchtbare Angst vor meinem Bruder, der bei Bella und ihrem Bruder eingebrochen war, um mich zu finden und mitzunehmen.
«Melek!»
Mein Bruder spuckte meinen Namen voller Hass und Verachtung aus. Ich konnte ihr hören und es lief mir kalt den Rücken runter.
«Sind Sie noch da?», wollte die Stimme am anderen Ende der Leitung wissen und klang besorgt.
«Ja», kam es leise über meine Lippen.
«Was ist passiert?», fragte er.
Ich holte Luft und sammelte mich erst, bevor ich sprach: «Mein Bruder ist eingebrochen und will mich mitnehmen. Er hat...»
«Hab ich dich», kam es von ihm und ich schrie aus Leibeskräften. Das Telefon wurde mir aus der Hand geschleudert. Cem hielt mich mit festem Griff. Ich konnte seine Fahne deutlich riechen. «Du denkst doch nicht etwa, dass du vor mir entkommen kannst?»
Der Spott in seiner Stimme ließ mich wütend werden. Trotzdem wehrte ich mich nicht gegen seinen starken Griff. Die Worte, die mir im Hals stecken blieben, kamen nicht heraus.
Du musst dich wehren. Wenn du das nicht tust, wird er immer weitermachen, weil er denkt, dass du dich nicht traust ein Machtwort gegen ihn einzulenken.
Die Worte meiner inneren Stimme halfen mir herzlich wenig, denn die erste Ohrfeige hatte ich von ihm kassiert, als sie zu mir gesprochen hatte. Vielleicht hörte der Polizist das ja. Vielleicht würden gleich einige Kollegen vorbeikommen und mit aus der misslichen Lage befreien.
«Du bist ein Unding!», schrie er und sogleich kam der zweite Schlag angesaust. Seine Alkoholfahne war nicht zu übersehen. Vielleicht würde es so mit mir zu Ende gehen. Bestimmt würde dann in der Zeitung stehen: „Frau von ihrem eignen Bruder ermordet". Oder: „Die dreiundzwanzigjährige Schauspielerin Melek Gül wurde brutal von ihrem ebenfalls dreiundzwanzig Jahre alten Bruder Cem Gül, der selbst auch Schauspieler war, zusammengeschlagen. Dabei kam sie ums Leben. Eltern und Freunde trauern um sie. Ihr Bruder sitzt mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünfzehn Jahren im Gefängnis". So katte ich mir das Leben nicht vorgestellt. So wollte ich nicht sterben. Noch bevor ich schreien konnte, hielt er mir den Mund zu und schlug erneut auf mich nieder. Schmerzen übermannten mich und ich drohte in die Bewusstlosigkeit zu sinken, wenn nicht jemand gewesen wäre und ihn von mir gezogen hätte. Das zittern, welches mich erreichte, konnte ich nicht mehr unterdrücken.
«Sie haben das Recht zu schweigen.»
Ich atmete erleichtert aus, als ich den Polizist erblickte, der meinen Bruder festhielt. Dieser versuchte sich aus dem Griff zu winden.
«Hören Sie auf sich zu wehren, bevor ich Ihnen die Acht anlege.»
Die Erleichterung war mir deutlich anzusehen.
«Wollen Sie eine Anzeige gegen ihren Bruder erstatten?», fragte mich seine Kollegin, die ich gar nicht bemerkt hatte. Deswegen zuckte ich leicht zusammen, als sie mich ansprach.
«Eine Anzeige?», kam es aus meinem Mund und etwas Panik schwang mit.
«Wegen Körperverletzung», erklärte sie mir mit ruhiger Stimme. Meinen Blick hatte ich zu Boden gerichtet. Ihr Kollege war mit meinem Bruder in einen anderen Raum gegangen. «Dann bitte ich Sie mir ihren Personalausweis zugeben.»
Ich nickte und reichte ihr meinen Ausweis, welchen sie mir dann nach einigen Sekunden wiedergab.
«Sie sind sich sicher, dass Sie ihren Bruder nicht anzeigen wollen?», beharrte sie und blickte mich von oben bis unten an. Anscheinend war ihr das blaue Auge aufgefallen, welches er mir verpasst hatte, bevor sie ankamen und ihn von mir zogen.
«Er wird so oder so alles Erdenkliche ausnutzen», kam es von meinen Lippen und ich unterdrückte die aufkommenden Tränen. Den Kloß, den ich im Hals hatte, versuchte ich herunter zu schlucken. Mitleidig legte sie mir einen Arm um die Schultern. Dann brach es einfach über mich hinweg. Heiße Tränen flossen über meine Wange und tropften auf den Boden. Schweigend stand die Polizistin neben mir und streichelte mir beruhigend über den Arm.
«Wir werden ihren Bruder mit aufs Revier nehmen», sagte der Polizist, als er hereinkam und mich musterte. Natürlich entging ihm nicht mein verweintes Gesicht.
«Schaffst du das allein?», wollte seine Kollegin wissen. «Ich würde gerne mit ihr sprechen.»
Ihr Kollege nickte und verschwand. Die Rufe meines Bruders konnte ich deutlich hören. Er beschimpfte mich aufs übelste. Er hätte nicht so viel trinken dürfen.
«Macht ihr Bruder das immer mit ihnen?», fragte die Polizistin und riss mich somit aus meinen Gedanken. Ich nickte leicht und wandte das Gesicht ab, damit sie die aufkommenden Tränen nicht sah. «Haben Sie denn nicht daran gedacht sich zu wehren oder in ein Frauenhaus zu gehen?»
«Was nützt mir das? Er hätte mich so oder so gefunden. Verstecken kann ich mich vor ihm nicht.»
«Wie wäre es mit einer Einstweiligen Verfügung?»
Ich schüttelte den Kopf. «Das würde ihn nicht abhalten mich zu demütigen.»

......

«Was ist denn hier los?», fragte Ayden, als er hereinkam uns mich musterte. «Hier sieht es ja aus, als hätte die Bombe eingeschlagen.»
Besorgte Blicke seinerseits lagen auf mir.
«Und wieso hast du ein blaues Auge?»
Er kam näher, um mich zu betrachten.
«Er war hier», flüsterte ich kaum merklich.
«Wer war hier?», wollte er wissen und spannte sich merklich an. Ich hatte gedacht, dass er es nicht gehört hätte.
«Mein Bruder», sagte ich leise und eine Träne rollte mir die Wange herunter.
«Ich bring ihn um!», schrie Ayden und lief auf und ab. Ich hätte es ihm nicht sagen dürfen. «Was hat er mit dir gemacht?»
Seine Frage hallte durchs ganze Wohnzimmer und ich bekam Angst. Was, wenn er mich auch schlagen würde? Vielleicht ...
Er ist Bellas Bruder und wird dir keinen Finger krümmen. Er hat nur Sorgen um dich.
Meine innere Stimme unterbrach mich mitten im Gedankenfluss.
«Was. Hat. Er. Mit. Dir. Gemacht?», fragte Ayden und hatte seine Lippen zu einem dünnen Strich verzogen.
«Ayden! Du machst ihr Angst», rief Bella und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Dann zog sie ihn aus dem Raum. Ich sackte zusammen und kauerte mich in eine Ecke.
«Melek?», fragte Bella und tauchte vor mir auf. «Was ist passiert?»
«Nichts», sagte ich leise und mit zittriger Stimme. Ich durfte jetzt nicht weinen. Nein. Ich konnte nicht schwach sein. Ich durfte vor Bella meine Schwäche nicht zeigen. Sie kannte mich doch nur als starkes Mädchen.
Schwäche zu zeigen ist nicht schlimm.
Wie gerne ich meiner inneren Stimme den Geist ausgeblasen hätte. Aber dann müsste ich mich selbst auch umbringen. Warum konnte sie denn nicht einfach aus meinem Kopf verschwinden und mich in Frieden lassen? Immer wenn sie die Gelegenheit hatte, nutzte sie diese schamlos aus und brachte mich somit mehr in Schwierigkeiten.
«Du kannst es mir ruhig sagen», fing Bella an.
«Was sagen?»
«Was dein Bruder mit dir gemacht hat.»
Ich seufzte leise. «Das kann ich nicht.»
«Wieso kannst du es nicht sagen?»
«Weil es nicht geht.»
Bella seufzte auf. «Wir wollen dir doch nur helfen.»
Jetzt platzte mir endgültig der Kragen. Wütend stand ich auf und sprach mit lauter Stimme: «Wenn ihr mir helfen wollt, dann lasst mich einfach mit euren beschissenen Fragen in Ruhe! Das hilft mir nämlich nicht! Ach und euer Mitleid könnt ihr euch sonst wohin stecken!»
Dann verschwand ich aus ihrem Haus und rannte los. Ich wollte nur noch weg von hier. Ich hatte es einfach satt. Mir reichte es. Sie brauchten sich keine Sorgen um mich zu machen. Warum konnten sie mich nicht einfach in Ruhe lassen? Wieso wollten sie immer alles genau wissen? Warum... Ich hatte nicht bemerkt, wie ich auf die Straße gelaufen war. Bevor ich ausweichen konnte, fuhr jemand in mich hinein. Dann wurde alles schwarz. Sterne tanzten vor meinem Auge herum. Erinnerungen zogen an mir vorbei. Jetzt war mein Leben vorbei. Ich würde sterben. Vielleicht war dies auch besser so. Bevor ich einen weiteren Gedanken erfassen konnte, hatte mich die Bewusstlosigkeit vollends eingenommen.

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