14

14 (Livia Baker)

Ich hörte sie leise über mich reden. Doch ich selbst war gefangen. Gefangen in einem vergitterten Raum. Man hatte mich zu jemand anderem gebracht, der ein riesengroßes Arschloch mir gegenüber war, doch dies war ich ja schon gewöhnt. Mich hatte niemand angefasst oder berührt. Oder verletzt. Die Stimmen kamen näher und ich erstarrte. Was suchte er hier? Wie hatte er mich gefunden? Noch bevor ich einen weiteren Gedanken fassen konnte, wurde die Tür aufgeschlossen und ich aus dem Raum gezerrt. Der Mann, der neben dem anderen Stand, der die Tür aufgeschlossen hatte, schaute mich lange an. Ich wusste, wer er war, doch wollte es nicht wahr haben. Wie konnte sich dieser Mistkerl hier blicken lassen? Er hatte mir mein Leben zur Hölle gemacht. Wollte er es mir jetzt einfach unter die Nase reiben?
«Kann ich alleine mit ihr reden?», fragte er und blickte den Mann an, der ziemlich scheiße drein glotzte.
«Zehn Minuten. Dann musst du dich entscheiden, mein Lieber.»
Der Mistkerl nickte. Ich wurde wieder in den Raum gestoßen und das Arschloch kam mir hinterher. Die Tür schloss sich. Jetzt waren wir allein.
«Du Arschloch!», zischte ich und wollte auf ihn losgehen, doch er packte mich an den Armen.
«Liv, hör zu», sagte er leise.
«Nenn mich nicht Liv!», knurrte ich ihn bissig an. Und er nannte sich mein Vater? Nein! Das war er ganz und gar nicht! Wenn ich könnte, würde ich ihn hier und jetzt erdolchen wollen.
«Ich werde dich hier herausholen», sagte er leise und ließ von mir ab. Ich lachte auf.
«Und dann willst du wieder so ein Arschloch sein», warf ich ihm an den Kopf. Daraufhin sagte er nichts. Sah mich nur an. Etwas lag in seinem Blick, was ich nicht deuten konnte. «Hast du Mama überhaupt geliebt?»
Diese Frage schoss einfach so aus mir heraus. Seine Miene verfinsterte sich. Vielleicht würde er auf mich zukommen und mich zu Tode vermöbeln, wenn ich noch etwas sagte. Deshalb schwieg ich und sah zu Boden.
«Hör zu», begann er und blickte auf seine Uhr hinab. Dann verzog er das Gesicht. «Ich will dich nur hier rausholen und zurückbringen. Dann wirst du mich nicht mehr sehen.»
Die Tür flog auf, noch bevor ich etwas sagen konnte oder bevor er noch etwas sagen würde. Denn die zehn Minuten waren vorbei. Er lief aus dem Raum. Ich wurde hier zurückgelassen. Nur die Stimmen drangen an mein Ohr.
«Also nimmst du sie?», fragte jemand und ich verstand nun gar nichts mehr.
«Ja.»
Dann trat Stille ein. Es wurde noch einiges besprochen, doch ich hörte gar nicht mehr hin, denn nur ein Gedanke geisterte in meinem Kopf herum. Sie wollen mich verkaufen. Sie wollen mich verkaufen und er hat mich gekauft. Dann war da nur noch die Dunkelheit, die mich herzlich in Empfang nahm. Ich merkte nicht einmal, wie ich hochgehoben und aus diesem schäbigen Gebäude getragen wurde.

......

«Du bist wach», hörte ich ihn. Doch regen wollte ich mich nicht. Ich wusste nicht einmal wo ich mich befand. Es ging so viel in mir vor, dass ich keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Und dann spürte ich sie. Die heftigen Schmerzen, die mich überrollten, mir die Luft zum Atmen nahmen, mich einengten. Ich keuchte auf. Besorgt sah er mich an.
«Es... tut... so... weh...», wimmerte ich leise und krallte meine Hand in die Decke.
«Das lässt nach. Wir mussten dir den Chip entfernen lassen, den sie dir eingepflanzt hatten», erklärte er und sah mir dabei in die Augen.
«Aber wie? Sie wissen doch, wo...»
«Da mach dir mal keine Sorgen. Sie haben keine Ahnung, wo du dich jetzt befindest. Wir haben ihn gleich entsorgt, als du bewusstlos warst. Dann haben wir ihn zerstört.»
Stille. Niemand sagte etwas. Ich schloss die Augen und glitt erneut in einen tiefen Schlaf.

......

Als ich das nächste Mal erwachte, nahm ich mehr war. Die Schmerzen hatten sich verflüchtigt. Ich lag auf meinem Bett. Stimmen drangen an mein Ohr. Leise stand ich auf und schlich zur Tür, um besser zu hören was sie dort sprachen.
«Wie kannst du nur!», sagte meine Tante etwas zu laut. «Du hast dich jahrelang nicht für sie interessiert und bringst sie wieder zurück. Cem du... Ich...»
«Melek!», wandte sich mein Vater zu Wort. Er klang wütend, sauer, aggressives schwang in seiner Stimme mit. «Sie wurde von Drake gefangen gehalten! Er wollte sie verkaufen! Ich habe sie lediglich nur aus den Fängen des Irren befreit! Oder willst du, dass sie dort elendig versauert? Nein! Das glaube ich kaum! Also sei mir nur dieses eine Mal wenigstens dankbar!»
Und das alles hier war meine Schuld. Ich hatte es zu verantworten gehabt. Er hätte auf mich sauer sein sollen, als auf meine Tante. Er hätte mich zusammenscheißen müssen und nicht sie. Er hätte...
«Was willst du hier?»
Eine weitere Person trat in den Fokus. Ich wusste, dass es Ayden war. Mein Onkel klang nicht gerade fröhlich darüber ihn hier zu sehen. Dies konnte man deutlich heraushören.
«Er hat Livia hergebracht», sagte meine Tante. «Sie ist in ihrem Zimmer und...»
Die Tür flog auf. Ich stolperte nach hinten. Mein Herz raste in meiner Brust. Mein Onkel stand vor mir. Sah mich ungläubig an. Dann zog er mich in seine Arme. Ich ließ es einfach geschehen. Dann klammerte ich mich an ihn. Ich wusste selbst nicht, was in mir vorging, aber es platzte einfach so aus mir heraus.
«Er sollte nicht auf euch sauer sein, sondern auf mich. Außerdem solltet ihr nicht wütend auf ihn sein, sondern auf mich.»
«Livia. Was redest du denn da?», fragte er und sah mich besorgt an. Dann schilderte ich ihm alles. Er hörte aufmerksam zu. Danach folgte wieder diese erdrückende Stille. Die lautstarken Stimmen, die sich anschrien, nahm ich selbstverständlich noch wahr.
«Kann ich dich allein lassen?», wollte er wissen und gab mir einen Kuss auf den Kopf. Ich sehnte mich nach der Nähe meiner Eltern. Ich wollte sie bei mir haben. Wollte mit ihnen über Dinge reden, die ich nur mit ihnen besprechen sollte, anstatt mit meiner Tante und Pierre. Ich wollte sie bei mir haben, doch das war nicht möglich. Meine Mutter war tot und mein Vater? Der interessierte sich nicht für mich. Doch vielleicht würde ich ja... Nein. Oder doch? Sollte ich? Ja? Nein? Vielleicht doch?
«Papa», flüsterte ich leise. Dann brach ich weinend zusammen. Mein Onkel verschwand aus dem Zimmer. Jemand anderes betrat es. Die Tür wurde leise geschlossen. Jemand ließ sich neben mir nieder. Eine Hand legte sich auf meinen Rücken. Streichelte mich sanft. Und was tat ich? Ich saß da und flennte. Ich hatte ja nichts anderes zu tun, als zu heulen. Vorsichtig streckte ich meinen Arm aus und klammerte mich an die Person. Ich schrie, weinte und warf mit Worten um mich. Mein Leben hatte sich von einem Male in ein Schlachtfeld verwandelt. Die, die ich liebte, waren nicht bei mir. Die, die ich in meiner Nähe hatte, stieß ich ab. Ließ keinen mehr an mich heran.
Plötzlich schlug meine Stimmung um. Die Tränen versiegten. Ich blickte ihm in die Augen, konnte keine Regung, keine Mimik erkennen, nichts. Nur eiskaltes Blau. Ich war nicht mehr zu halten. Es schoss aus mir heraus. Einfach so. Ich konnte es nicht aufhalten. Die Wut, die ich seid fast siebzehn Jahren in mir aufgestaut hatte, wollte entweichen. Und jetzt war anscheinend der gute Zeitpunkt dafür. Hastig sprang ich auf, nahm die Briefe, schleuderte sie von ihm auf den Boden. Ich wollte, dass er sie las. Wollte, dass er sich schlecht fühlte. Wollte, dass er sich seiner Sache im Klaren wurde. Aber er tat einfach nichts. Er schwieg und sah mir nur in die Augen. Ich hatte die Augenfarbe meines Vaters geerbt, der vor mir auf dem Boden hockte und mich einfach nur anstarrte. Das machte mich wütend.
«Sie hat dich geliebt!!!», schrie ich und hielt ihm ein Foto von ihr hin. Er sollte es sich anschauen, sollte ihr Gesicht sehen, sollte leiden, wie ich gelitten habe. «Sie hat dich geliebt und du hast sie mit Füßen getreten! Ihre Liebe zu dir! Anstatt diese zu erwidern hast du mit weiteren Frauen gevögelt und sie dann fallen gelassen, wie eine heiße Kartoffel! Du kannst gar nicht lieben! Du hast keine Gefühle! Du bist herzlos! Gefühllos! Kalt! Ein riesengroßes Arschloch! Ich hasse dich! Ich hasse dich! Ich hasse dich!»
Zum Ende hin wurde ich immer leise. Wieder einmal schlug meine Stimmung um. Die Tränen liefen mir erneut übers Gesicht, doch diesmal stieß ich ihn forsch von mir. Die Trauer und die Wut vermischten sich. Ich schlug ihm auf die Brust. Wollte, dass er mich losließ. Wollte nur weg von ihm. Ich kratzte, biss, schlug, trat, weinte, schrie, windete mich aus seinem Griff. Ich hörte, wie die Tür aufflog und jemand ins Zimmer stürmte.
«Sie wird wahnsinnig», sagte er und hielt mich in seinem eisernen Griff fest, sodass ich mich nicht mehr wehren konnte.
«Was hast du gemacht?», fragte jemand. Das musste mein Onkel sein.
«Ich habe nichts gemacht.»
Stille. Ich hatte es geschafft, dass er seinen Griff ein wenig lockerte. Dann trat ich ihm zwischen die Beine, sodass er zu Boden ging. Etwas war in mir aufgebrochen und die Wut hatte die Oberhand gewonnen. Erneut schrie ich, schlug auf ihn ein, kratzte und tat was nicht alles. Keine Gegenwehr, keine Worte, die mich hätten beruhigen können. Gar nichts.
Etwas Kaltes traf mich. Für einen Moment war ich so abgelenkt, dass er sich befreien und einen gewissen Abstand zu mir bringen konnte. Diesmal packte mich mein Onkel und schob mich ins Bad. Ich wehrte mich, schlug, kratzte. Doch es half nichts. Das kühle Nass traf mich wie eine Wucht. Ich schrie mir die Seele aus dem Leib, doch es brachte nichts. Das kühle Wasser, welches unaufhörlich auf mich niederprasselte, wollte nicht aufhören. So langsam beruhigte ich mich.
«Was hast du nur gemacht, Livia? Was hast du nur gemacht?»
Das waren die letzten Worte, die ich von meinem Onkel hörte, bis ich dann in einen tiefen Schlaf glitt.

......

Als ich am nächsten Morgen erwachte, konnte ich mich nur wage an das Geschehene von gestern erinnern. Ich kroch aus dem Bett und ging ins Bad. Die Klamotten, die noch nass gewesen waren, waren nun getrocknet aber lagen noch immer auf dem Fliesenboden. Ich hob sie auf und hing sie an die Heizung. Mit kaltem Wasser wusch ich mir das Gesicht und tapste dann so leise wie möglich in die Küche, doch da wurde ich schon von einigen Menschen erwartet. Unter den Menschen war auch mein Vater, der echt mitgenommen aussah. Alle blickten mich an, als wäre ich Schuld an der ganzen Sache. Meine Tante stand auf, kam auf mich zu und nahm mich in die Arme.
«Was ist hier passiert?», fragte ich und sah sie an.
«Du warst gestern nicht mehr du selbst», erklärte Pierre, der auch dabei war und ein Kind im Arm hielt. Das andere wurde von Ayden gehalten. Dann kamen so langsam die Erinnerungen wieder. Meine Tante war schwanger gewesen. Und die Erinnerungen an den gestrigen Tag schossen auf mich ein und entrissen mir die Luft, ließen mich erzittern.
«Oh Gott», brach ich keuchen heraus. «Oh Gott. Was habe ich... getan?»
Mein Blick blieb an dem Körper meines Vaters hängen. Ich war diejenige, die ihn so zugerichtet hatte. Ich war ein Monster. Ich war eine furchtbare Kreatur, die man nicht aus den Augen lassen durfte. Was hatte ich nur getan? Was war nur in mir vorgegangen? Wieso? Warum? Wieso war mein Leben einfach so verkorkst gewesen? Konnte es nicht einfach normal sein oder so? Nein, dies hatte das Leben nicht auf Lager für mich. Es wollte mich auf die Probe stellen. Genau wie bei meiner Mutter. Vielleicht sollte ich dem ganzen ein Ende bereiten. Das wäre doch wohl das Beste für alle Beteiligten.
Mein Blick glitt an allen Personen vorbei. Ich schaute mir alle nacheinander an. Doch keine Regung in ihren Gesichtern verriet mir, was in ihnen vor sich ging. Sie versperrten sich vor mir. Vielleicht war das ihr Schutzmechanismus mir gegenüber. Vielleicht hatte ich die deswegen nicht einschüchtern können.
Meine Gedanken kreisten umher. Ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Sobald ich einen erwischte, entglitt er mir sofort wieder und ich hatte große Mühe diesen wieder zu finden. Natürlich gestaltete sich dies als schwieriger heraus, als ich angenommen hatte. Und nun war ich richtig am Arsch. Ich bemerkte die Blicke, die mir zugeworfen wurden, doch sah nichts in ihnen. Nur die Leere, die sich auszubreiten schien in mich wahnsinnig machte. Vielleicht hätte ich mir wirklich den letzten Todesstoß geben müssen, als ich die Gelegenheit dazu hatte. Vielleicht wäre dann alles besser. Und dann hatten sie ihre Ruhe vor mir. Doch mein Kopf war wie leergefegt. Meine Tante hielt mich noch immer, aber ließ mich los, als eines der Kinder anfing zu schreien. Ich stand so da, versuchte mich zusammenzureißen, doch es brachte nichts. Ich verfiel in das gestrige Schema. Ich schrie, warf Gläser vom Tisch, zerschlug diese, und zerbrach einige Stühle. Das Geschrei der Kinder drang an mein Ohr, doch ich nahm nichts mehr wahr. Also brüllte ich mir die Seele erneut aus dem Körper. Ich merkte nicht einmal, wie ich von verschiedenen Armen gepackt und aus dem Zimmer getragen wurde. Sie brachten mich raus. Raus aus diesem Zimmer. Raus aus dieser Welt. Und sie brachten mich wieder ins kühle Nass, welches ich schon einmal auf mir gespürt hatte. Doch diesmal hielt mich das kühle Wasser gefangen. Es wollte mich nicht gehen lassen. Es wollte, dass ich zu mir kam und mich beruhigte.

......

Leise Stimmen drangen an mein Ohr. Ich lag auf etwas weichem. Wo war ich hier? Etwa in meinem Zimmer? Nein, das war ausgeschlossen. Denn etwas piepste. Und dieses Piepen wollte nicht aufhören. Mir kam die Erkenntnis erst, als das Piepen lauter wurde und ich den Geruch von Desinfektionsmittel wahrnahm. Krankenhaus, schoss es mir in den Kopf. Ich war im Krankenhaus. Aber wieso war ich im Krankenhaus? Was war überhaupt geschehen? Ich verstand gar nichts mehr. Die Stimmen waren verstummt. Das Piepen ebenfalls. Und plötzlich tauchte alles wieder auf. Erinnerungen zogen an mir vorbei. Gute wie auch Schlechte. Und dann das monotone Piepen. Ich hörte es laut und deutlich. Piep. Piep. Piep. Piep. Es kam stetig, gleichmäßig, beruhigte mich. Ließ mich in den Schlaf gleiten, aus dem ich nur wenig später entrissen wurde. Und wieder hörte ich die Stimmen meiner Familie und noch eine Fremde, die etwas sagte. Ich wollte etwas sagen, doch es gelang mir nicht. Vielleicht hörten sie mich ja. Oder hörten sie mich nicht? Ich wusste es nicht und konnte es auch gar nicht ausprobieren, denn die Stimme versagte.

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