14

14 (Bella Baker)

Ob ich mich schuldig fühlte? Diese Frage ließe sich sehr leicht beantworten, wenn es denn eine Antwort darauf gäbe. Ich wusste nicht, ob ich mich darüber freuen sollte, dass dieser Mistkerl nun im Gefängnis schmorte. Zwar hatte ich Tage und Wochen kein Auge zugetan, weil ich nicht schlafen konnte aber trotzdem. Ich rang öfter mit mir. Vielleicht sollte ich ihn ja besuchen gehen. Vielleicht sollte ich es lieber lassen. Das wäre doch wohl das Beste für uns beide. Er konnte mich sowieso nicht ausstehen.
«Bella? Wo bist du mit deinen Gedanken?»
Ich schrak hoch. «Tut mir leid. Ich war irgendwie...»
«Schon gut. Wie kommst du mit dem Buch voran?»
«Es geht schleppend voran», gab ich von mir und blickte beschämt zu Boden. Renate seufzte leise auf. Ich wusste, dass ihr die Antwort nicht gefiel.
«Was ist los mit dir?», fragte sie vorsichtig. Ob ich es ihr sagen sollte? «Du wirkst seit Tagen so abwesend. Woran liegt es?»
«Ich weiß es nicht», sagte ich leise und hätte mir die Haare ausgerissen, wenn ich wollte. Mein Kopf dröhnte und ich wollte eigentlich nur noch ins Bett und schlafen, obwohl es mir eh nicht gelingen würde, da ich ja eh kein Auge zubekam.
«Bella!»
Renates rufen nach mir holte mich in die Wirklichkeit zurück.
«Wenn das so weiter geht, muss ich dich aus unserem Verlag streichen.»
Das riss mir den Boden unter den Füßen weg und schließlich brachen alle Dämme, obwohl ich es eigentlich nicht wollte. Die Tränen kamen einfach so aus mir herausgeschossen. Ich bemerkte sie erst, als mir eine auf die Hand getropft war. Renate nahm ich in die Arme und drückte mich an sich. Ich schluchzte und schluchzte. Es war mir egal, ob ich ihr Shirt vollheulte. In dem Moment war mir alles egal. Ich brauchte jemanden der sich um mich kümmerte. Ich brauche jemanden mit dem ich reden konnte.
«Was ist denn los liebes?», fragte sie vorsichtig, als ich meinen Kopf von ihrer Schulter nahm und meine Nase hochzog. Renate reichte mir ein Taschentuch, welches ich dankend annahm.
«Ich kann nicht mehr», sagte ich stockend.
«Was ist los? Du weißt doch, dass du mir alles sagen kannst, Liebes.»
Ich nickte und die Tränen übermannten mich wieder. Sie überfielen mich und tropften auf den Tisch. Die Tränen waren ein elend langer Fluss und ich konnte es einfach nicht aufhalten. Leise klopfte es an der Tür. Renate stand auf und klopfte mir auf die Schulter.
«Ich bin gleich wieder da. Ruh dich aus und beruhige dich erst einmal. Dann kannst du mir alles in Ruhe erzählen ok?»
«Ok», meinte ich leise und schluckte heftig. Sie öffnete die Tür und verließ das Zimmer. Kurze Zeit später kam sie wieder, setzte sich neben mich und stellte mir ein Glas Wasser vor die Nase, welches ich dankend annahm und gierig ich austrank.
«Dann leg mal los», meinte sie leicht lächelnd und legte mir tröstlich einen Arm um die Schultern.
Ich holte tief Luft bevor ich sprach: «Sollte ich mich schuldig fühlen, weil wegen mir jemand ins Gefängnis gekommen ist?»
Die Frage platzte einfach so aus mir heraus.
«Wie meinst du das?»
«Ich liebe ihn und wegen mir sitzt er jetzt im Gefängnis», sagte ich leise und hätte mir selbst in den Magen schlagen können.
«Was hat er denn getan das du ihn angezeigt hast und er nun im Gefängnis sitzt?», wollte Renate vorsichtig wissen.
«Er hat seine Schwestern misshandelt und ich habe mit einigen Freunden und seiner gleichaltrigen Schwester einen Plan ausgetüftelt, weswegen er jetzt im Gefängnis sitzt.»
«Du brauchst dich nicht schuldig fühlen, weil der Schauspieler Cem Gül wegen dir im Gefängnis sitzt. Das hat er doch verdient. Warum misshandelt er denn auch seine Schwestern und verletzt beinahe das Kind einer jungen Mutter.»
Ich hatte ihr nicht gesagt, dass er es war, den ich liebte und das er im Knast säße. Wie hatte sie es herausgefunden? Oder wusste sie es schon lange und hat es mir nie erzählt?
«Woher weißt du?»
Ich konnte den Satz nicht zu Ende sprechen. Renate grinste geheimnisvoll und sagte leise: «Ich habe da so meine Quellen. Ich kann dir eine Idee für den zweiten Teil geben. Lasse die Frau doch in jemanden verlieben. Benutze einige reale Sachen und baue sie mit in den Teil ein. Dann schickst du es mir zu und wir schauen, wie es wird. Natürlich wird es dann eine Mischung aus Fantasy, Romantik und Krimi. Das passt doch perfekt oder nicht?»
Renate hatte recht. Ich musste ihr zustimmen. Das passte wie die Faust aufs Auge.
«Gut», beeilte ich mich zu sagen, bevor sie mir sagen würde, dass alles nur ein blöder Witz sei. «Ich fange sogleich damit an, wenn ich zu Hause bin.»
«Nein», sagte sie forsch. «Zuerst legst du dich hin und gönnst dir eine Mütze Schlaf. Man sieht dir an das du nicht schlafen kannst. Ohne Schlaf kann man nicht arbeiten.»
Sie stand auf, grinste mir zu und stellte das Glas in die Spüle. Ich stand ebenfalls auf. Renate hatte mich noch bis zur Tür begleitet. Danach hatten wir uns mit einer Umarmung verabschiedet und ich war nach Hause gefahren, um mich in das weiche Bett zu legen und um ein Schläfchen zu halten. Schnell war ich im Reich der Träume angelangt, als ich im Bett lag und die Augen geschlossen hatte. Anscheinend war ich so müde, dass ich es erst jetzt wahrnahm. Ich ließ sie einfach über mich kommen und driftete ab.

......

Als ich meine Augen öffnete, war ich für einen klitzekleinen Moment verwirrt. Dies legte sich schnell wieder. Langsam stand ich auf und ging ins Bad, um mich zu duschen und um mir die Zähne zu putzen. Nachdem ich damit fertig war, begab ich mich in die Küche um aufzuräumen. Ich hatte lange nicht mehr aufgeräumt und dies musste dringend getan werden. Also tat ich dies. Gefühlte zwei Stunden später war ich damit fertig und ließ mich erschöpft ins Sofa im Wohnzimmer fallen. Ich zappte durch die Kanäle.
«Ob der Schauspieler zu zwei Jahren Bewehrung freigelassen wird, ist noch unklar. Was klar ist, dass er die ersten zwei Jahre im Gefängnis sein wird.»
Die Stimme der Reporterin brachte mich auf eine Blitzidee, die ich mir aufschreiben musste, bevor es zu spät sein würde. Ich sprang auf und holte mir meinen Laptop zur Hand. Schließlich sollte es ja super werden. Wie froh war ich, als er oben war und ich das Dokument öffnen konnte. Mein Blick glitt zum Fernseher, doch meine Finger schwebten über die Tasten und verfassten Wörter für Wörter, Zeilen um Zeilen, Seiten um Seiten.
Mein Handy riss mich aus meinem Schreibwahn heraus, indem es eindringlich klingelte und gar nicht mehr aufhören wollte. Ich schaltete den Fernseher auf stumm und ging ans Handy.
«Hast du es mitbekommen?», rief Maria mir ins Ohr und klang ziemlich aufgeregt.
«Ja, das habe ich», meinte ich genervt und klemmte mir das Handy zwischen Schulter und Ohr, um trotzdem ein wenig weiterschreiben zu können.
«Was tippst du denn da rum?», wollte Maria wissen. Neugierde lag in ihrer Stimme. «Und warum klingst du so genervt? Ist was passiert?»
Ich seufzte und ließ meine Finger still auf der Tastatur liegen.
«Bella? Bist du noch da oder lebst du wieder in deiner eignen Gedankenwelt?»
«Ich habe gerade einige Ideen für den zweiten Teil aufgeschrieben», antwortete ich und blickte ins Leere. «Außerdem ist nichts passiert.»
«Du wirkst nicht gerade erfreut, dass er angeblich nach zwei Jahren herauskommen soll und eine Bewehrung absolvieren muss.»
«Den Scheiß willst du glauben? Dann mach das. Ich rufe dich später an ja? Muss noch weitermachen, bevor sie mich verlassen und ich einen weiteren Heulkrampf bei Renate bekomme.»
Bevor sie etwas sagen konnte, hatte ich schon aufgelegt und das Handy auf den Couchtisch gepfeffert. Ich wusste nicht, was mit mir los war. Ich schaute auf den Bildschirm meines Macs. Die Worte, die ich auf das jetzt nun nicht mehr leere Dokument geschrieben hatte, brannten sich in meinen Kopf. So oft ich mir die Worte durchlas, klang es schon gar nicht mehr schlecht. Ich seufzte leise auf, speicherte er erneut und schickte es als Anhang an Renate, die sich garantiert darüber freuen würde. Ich hatte meine Arbeit gut gemacht und war irgendwie froh darüber. Eigentlich sollte ich das immer sein, doch dem war meistens nicht so. Vielleicht würde sich das doch irgendwann mal ändern.

......

Von: Renate Grieber
An: Bella Baker
Betreff: Fortsetzung
Hallo Bella,
ich habe deinen Anhang erhalten. Ich finde es gut, aber wir sollten echt einmal über einige Sachen reden. Wie wäre es, wenn wir uns Donnerstag um 14:00 Uhr im Verlag treffen? Könntest du an dem Tag?
Liebe Grüße
Renate Grieber

......

Ich wusste, dass sie sofort schreiben würde. Sofort verfasste ich eine Antwort. Es war mir recht, dass wir uns am Donnerstag treffen würden.

......

«Hallo Bella.»
Sie reichte mir ihre Hand, welche ich annahm und mich ihr gegenüber auf einen Stuhl fallen ließ. Lange schaute sie mich intensiv an. Ich fühlte mich etwas komisch so von ihr angeschaut zu werden, aber naja.
«Das ist eine super Idee, die du da im Sinne hast, Bella», sagte sie, nachdem sie die Flüssigkeit, die sich in einem Glas befand. Ich zuckte nur mit den Schultern und schaute sie fragend an. So recht wusste ich nicht, was sie von mir wollte. Doch das würde ich ja bald erfahren, falls sie vor hatte es mir wirklich zu sagen.
«Wirst du mir denn eigentlich mal sagen, was in deinem Kopf herumschwirrt oder wirst du mich auf die Folter spannen?», platzte es einfach so aus mir heraus, ohne dass ich es zurückhalten konnte. Schon dafür hätte ich mich ohrfeigen können, doch Renate lachte leise auf und beugte sich zu mir herüber, um mich am Arm zu tätscheln.
«Das wirst du schon noch früh genug erfahren, meine Liebe», gab sie als Antwort von sich und nahm noch einen Schluck der klaren Flüssigkeit. «Willst du auch etwas trinken?»
Ich schüttelte den Kopf. «Soll ich etwas ändern?»
Renate stand auf und holte einige Blätter aus einer Mappe heraus, welche sie dann sorgfältig auf den Tisch legte. Ich blickte fragend.
«Der erste Teil deines wunderbaren Buches wird verfilmt.»
Schweigen breitete sich nach den gesprochenen Worten aus. Entgeistert schaute ich zu ihr hoch.
«Und wieso weiß ich nichts davon? Es ist doch so, dass die Autoren doch zuerst gefragt werden oder nicht?»
Sie schwieg. Sie wollte mir keine Antwort auf die Frage geben, die ich vorkurzem gestellt hatte. Schön und gut. Wenn sie das konnte, dann würde ich dieses Spiel mitspielen. Und im Schweigen war ich ja die beste von allen.
Du und schweigen? Pah. Das ich nicht lache.
Liebes inneres Stimmchen, bitte hör auf mich zu nerven und verzieh dich gefälligst aus meinem Kopf! Das wäre echt lieb.
Wieso sollte ich dir die Genugtuung geben mich aus deinem schönen Köpfchen zu verziehen? Es macht mir immer Freude dich zu nerven und dich zur Weißglut zu bringen. Ist immer lustig mit anzusehen.
Für mich ist das ganz und gar nicht witzig. Wenn du nicht damit aufhörst, dann werde ich dich eigenhändig umbringen.
Wie willst du das anstellen liebe Bella? Dann müsstest du dich ja auch umbringen, damit ich aus deinem Kopf verschwinde.
Da hatte sie vollkommen recht. Verdammt. Wie würde ich meine innere Stimme los ohne ... Ich beendete diesen verflixten Gedanken nicht, weil er ziemlich absurd war.
Deine Gedankengänge sind immer absurd.
Darauf ging ich nicht ein. Es hatte keinen Sinn sich mit seiner besserwisserischen, inneren Stimme anzulegen. Auf den nächsten Spruch, den sie bringen würde, würe ich nicht eingehen. War ja eh zwecklos.
«Und was meinst du dazu?», fragte Renate und riss mich somit aus meinen Gedanken heraus. Kaum merklich zuckte ich zusammen und war für einen winzigen Augenblick verwirrt. Was wollte sie denn jetzt eigentlich von mir?
Sie meint die Verfilmung deines Buches du Dummerchen.
«Ich weiß nicht so recht», kam es über meine Lippen und ich hatte die Arme vor der Brust verschränkt. «Ich werde es mir überlegen und dir dann Bescheid geben.»
Sie schüttelte den Kopf und reichte mir einen Zettel.
«Hier steht die Nummer des Regisseurs drauf», begann sie. «Wenn du einverstanden damit bist, kannst du dich an ihn wenden. Ich habe ihm nämlich gesagt, dass ich ohne dein Einverständnis das Buch nicht herausgeben kann.»
Ich nahm den Zettel entgegen und studierte ihn eindringlich. Danach steckte ich ihn in meine Tasche und meinte: «Ich werde es mir überlegen und ihn dann anrufen.»
Renate nickte. Somit war das Gespräch beendet. Ich stand auf, nahm meine Sachen und verließ das wunderbare Glasgebäude in dem sich die Räume des Verlages befanden.

......

«Wo warst du solange?», fragte Ayden, als ich die Haustür aufschloss und ins Haus eintrat. Für einen winzigen Moment frage ich mich wieso er nicht bei seiner zukünftigen Verlobten Maria war. Ob es doch mit ihnen in die Brüche gegangen war? Sollte ich ihn fragen? Oder war er hier um etwas zu holen?
«Bella? Alles gut bei dir? Hörst du mir überhaupt zu?», fragte er und ich sah verwirrt zu ihm auf.
«Seid ihr nicht mehr zusammen oder wie soll ich dein Aufkreuzen jetzt verstehen?»
Schon wieder konnte ich meine Klappe nicht halten. Die Worte waren einfach so aus mir herausgesprudelt, doch mein Bruder lachte nur und zeigte mir den Vogel.
«Natürlich sind wir noch zusammen. bin hier, um dir etwas zu Essen zu bringen, damit du nicht kochen musst.»
«Oh. Ach so.»
«Wieso fragst du überhaupt danach?»
«Ich wollte ja nur wissen», meinte ich und nahm ihm die Tüte aus der Hand, welche ich sofort auf den Küchentresen stellte. «Danke fürs vorbeibringen.»
«Bitte. Aber du hast mir die Frage noch immer nicht beantwortet.»
«War nochmal im Verlag, weil Renate mich sehen wollte. Wieso?»
Ayden nickte. Dann verließ er das Haus und ließ mich allein. Ich setzte mich mit dem gebrachten Zeug ins Wohnzimmer und aß. Mir war stinklangweilig.
Schreib doch an irgendwas weiter oder gib ihm die Einverständniserklärung, dass du damit einverstanden bist, dass dein Büchlein verfilmt wird.
Musste meine innere Stimme sich mir gegenüber behaupten? Das konnte ich nicht leiden, doch sie tat es trotzdem. Ich schüttelte den Kopf über sie und brachte, nach dem ich endlich fertig war, den Teller in die Küche und stellte ihn in die Spüle. Nachdem ich dies getan hatte, machte ich mich zugleich auf den Weg ins Wohnzimmer und ließ mich auf die Couch fallen, wo ich den Fernseher einschaltete und durch das Programm zappte. Es lief nichts besonderes was ich schauen wollte, deswegen machte ich ihn wieder aus und sah an die Decke. Es war so langweilig. Mir war langweilig. Was sollte ich tun? Ich stand auf und lief im Haus herum. In solchen Momenten wünschte ich mir auch einen Freund mit dem ich herumalbern konnte und mit dem ich jetzt liebend gern gekuschelt hätte, doch leider hatte Cem es mir unmöglich gemacht, dass ich ihn für mich gewinnen hätte können. Er ließ ja keinen an sich heran und schaltete ab, wenn jemand seine Gefühle herausgefunden hatte oder dabei war sie an die Oberfläche zu holen. Das war mir fast gelungen, doch er hatte sich wieder hinter seiner Mauer verkrochen und benahm sich wie ein Arschloch auf zwei Beinen. Ihm war nicht zu helfen. Vielleicht würde er, wenn er aus dem Knast kommt, anders sein. Dies bezweifelte ich zwar, doch hoffen konnte man ja trotzdem. Ich erinnerte mich noch gut daran, wie ich es beinahe in der Pause geschafft hatte seine wahren Gefühle zu Gesicht zu bekommen, die in ihm schlummerten.
Ich hatte mich auf die Couch gesetzt und versank in den Erinnerungen, die mich langsam in sich aufnahmen und mich in eine andere Zeit katapultierten.

......

(ZEHN JAHRE ZUVOR)

Ich hatte mich auf einen freien Platz hinten gesetzt. Einige Schüler und Schülerinnen waren auch da. Diese scherten sich einen feuchten Dreck um mich, was mir eigentlich egal sein konnte. Nach einiger Erkundung durch den Raum hatte ich meine beste Freundin Mia entdeckt, welche auf mich zukam und sich neben mich setzte. Sie hatte was im Schulde. Das konnte ich an ihrem Grinsen erkennen.
«Schieß los. Was hast du vor?», fragte ich gerade heraus.
«Wir bekommen einen neuen Schüler. Der soll ziemlich heiß aussehen», flüsterte sie leise und sah verträumt durch die Gegend. Ich kniff ihr in die Seite, woraufhin sie auf quiekte und die Aufmerksamkeit der Anderen auf sich zog. Ich hatte meinen Blick zu Boden gesenkt. Und urplötzlich war es still, als unsere Lehrerin Frau Meier mit einem jungen Typen in den Raum hereinkam. Alle Mädchen außer mir blickten mit offenen Mündern zu ihm herüber. Dieser machte sich nichts draus und blickte genervt drein.
«Stell dich doch der Klasse vor», sagte Frau Meier in seine Richtung gewandt und blickte alle nacheinander an, dass sie sich setzen sollten und sich nicht auf ihn stürzen sollten, um ihn mit Fragen zu bombardieren.
Er zuckte mit den Schultern und schaute alle nacheinander an. Sein Blick glitt an mir vorbei. Etwas Abstoßendes lag in ihm. So genau konnte ich es aber nicht deuten. Schließlich sagte er: «Cem. Sechzehn. Wenn ihr kein Ärger haben wollt, dann verpisst euch aus meinem Leben und lasst mich zufrieden, bevor ich euch die Fresse einschlage.»
Geschockte Blicke von allen Seiten.
«Möchtest du nicht sagen wo du herkommst?»
«Das geht euch nichts an», zischte er und ging mit schnellen Schritten auf den letzten Platz in der letzten Reihe zu.
«Hat der seine Tage oder warum ist der so drauf?», fragte mich Mia, als wir in der Cafeteria saßen und durch die Mengen nach meinem Bruder Ausschau hielten. Dieser kam schließlich mit einem Mädchen zu uns an den Tisch. Einige Mädchen, die hinter uns saßen und auf meinen Bruder standen, schauten die Fremde mit bösen Blicken an. Mein Bruder war der beliebteste Junge an der Schule, falls der mysteriöse ihm den Platz nicht streitig machte.
«Der sieht aber nicht schlecht aus», meinte Mia grinsend und sah zu dem Mädchen, die schüchtern neben Ayden saß und zu Boden blickte. Wenn ich sie genauer anschaute, dann fiel mir eine Ähnlichkeit mit diesem Jungen in unserer Klasse auf. Vielleicht waren sie ja Geschwister oder so.
«Willst du uns die reizende Dame nicht vorstellen?», fragte Jake, als er sich neben mich fallen ließ und den Mädchen hinter mir verschwörerische Blicke zuwarf.
«Oh. Stimmt. Das hatte ich ganz vergessen», begann er und blickte zu mir herüber. «Das ist Melek. Sie ist neu hier und ich werde ihr die Schule ein wenig zeigen.»
Ich blickte fragend. «Nicht das du die Aufgabe jemand anderem zuschiebst, Brüderchen.»
Ein kleines Grinsen legte sich auf meine Lippen, welches zugleich erstarrte als ich den Jungen aus unserer Klasse auf uns zukommen sah. Mit finsteren Blicken sah er zu meinem Bruder herüber. Dieser blickte gleichgültig drein.
Jetzt wird es Prügel geben.
Das konnte ich nicht einfach ignorieren. Meine innere Stimme konnte anscheinend Hellsehen. Der Typ blieb vor meinem Bruder stehen. Sein Blick glitt zu dem Mädchen.
«Der Hurensohn hat dir doch nichts getan oder?»
Melek zuckte zusammen und schüttelte ihren Kopf. Seine Muskeln spannten sich an. Blitzschnell sprach ich auf und zerrte ihn von meinem Bruder, damit sie sich nicht die Köpfe einschlugen. Er riss sich von mir los und blickte mit funkelnden Augen zu mir herunter. Dieser Junge war ziemlich groß für sein Alter. Aus den Augenwinkeln konnte ich sehen wie mein Bruder aufstand und auf uns zukam.
Mach dich auf etwas gefasst.
Das sollte schlichthin eine Warnung meiner inneren Stimme sein, die ich befolgen sollte und es nicht machte, weil ich einfach zu vorlaut und voreilig war.
«Was hast du mit ihr gemacht?», fragte Cem oder wie auch immer er hieß.
«Was soll ich denn gemacht haben?», wollte Ayden wissen und erntete sich somit einen giftigen Blick von ihm ein.
«Wenn du ihr nur ein Haar gekrümmt hast, dann werde ich dich windelweich prügeln! Hast du kapiert du kleiner Scheißer?»
Ayden baute sich ohne etwas zu sagen vor ihm auf. Noch immer befanden wir uns in der Cafeteria und eine Menge von Augenpaaren hatte sich auf uns gerichtet. Ich konnte fühlen, wie sie alle den Atem anhielten und auf den einen Moment warteten.
«Wenn du es auf eine Prügelei anlegst, dann lass uns das jetzt durchziehen», gab Ayden trocken von sich. Neben mir zog jemand scharf die Luft ein. Ich wandte meinen Kopf in die Richtung und erkannte Melek.
«Das wird nicht gut ausgehen», flüsterte sie leise. Mia kam zu meiner Rechten und klammerte sich an meinen Arm. Ich wusste, dass sie auf Ayden stand und ganz auf seiner Seite war.
«Das ist keine gute Idee», sagte ich und versuchte sie davon abzuhalten. Urplötzlich spürte ich zahlreiche Blicke auf mir ruhen.
«Bella», rief Ayden. «Misch dich da nicht ein. Das ist eine Angelegenheit zwischen mir und ihm. Hast du verstanden?»
«Ich lasse nicht zu, dass er dich krankenhausreif prügelt», schrie ich und riss mich von Mia los, um Ayden und Cem voneinander zu trennen.
«Wann wollen wir es machen?», fragte Cem und sah zu ihm.
«In der nächsten Pause.»
Damit war das Gespräch beendet. Ayden ging, zog mich und Mia mit sich mit. Somit war Melek mit ihrem Bruder oder was auch immer allein.
Die nächste Pause kam schnell. Viele hatten sich auf Bänke oder Mauern gesetzt um die Prügelei, von der ich Bange hatte, zu beobachten. Die meisten standen auf der Seite meines Bruders und feuerten ihn an. Ich erblickte meinen Bruder als erstes. Mit schnellen Schritten kam er auf die Menge zu und grinste siegessicher.
«Dann kann es ja losgehen.»
Ich konnte nur hoffen, dass sie sich nicht allzu schlimm verletzten. Mia stand neben mir und klammerte sich an meinen Arm.
«Denkst du ...»
Sie stoppte mitten in ihrem Satz und riss die Augen weit auf.
«Ayden!»
Mias Stimme hallte in meinen Ohren schmerzhaft wieder. Ich war wie erstarrt. Blut lief aus seiner Nase. Seine Lippe war aufgeplatzt. Ob ich einschreiten sollte? Er würde ihn sonst totprügeln. Was sollte ich nur tun? Verdammte scheiße!
Hilf ihm. Du musst ihm helfen. Willst du, dass er hier stirbt?
Meine innere Stimme schrie mich an. Ich riss mich von Mia los und ging dazwischen. Leider hatte ich den Schlag nicht kommen sehen und bekam ihn gegen die Schläfe. Kurz flackerte alles um mich herum. Reflexartig packte ich jemanden. Ob es mein Bruder war oder Cem, wusste ich nicht. Das Schwächegefühl ließ nach. Endlich konnte ich wieder klar sehen.
«Was ist hier los?», fragte jemand. Sofort ließ ich die Person los. Ich sah direkt in die Augen von Herrn Bach. Jetzt würde Ärger nahen. Das wusste ich. Ich hatte versucht ihn davon abzuhalten, doch gelungen war es mir nicht.
«Nichts ist los», zischte Cem und blickte Herr Bach böse an, welcher ihn festhielt, damit er nicht auf meinen Bruder losgehen konnte. Als ich mir beide so ansah, sahen sie beide nicht gerade blendend aus. Sie hatten sich beide jeweils ein blaues Auge geholt und sich eine blutige Nase verpasst. Besorgt sah ich zu meinem Bruder, der mir einen Arm um die Schultern legte und Cem wütend anfunkelte.
«Das wirst du noch sehen», knurrte Ayden und ging auf ihn los. «Wenn du sie noch einmal schlägst, dann prügel ich dich krankenhausreif! Das schwör ich dir!»
«Ayden!», brüllte Herr Bach und zerrte ihn von Cem weg, den er gezwungenermaßen loslassen musste. «Ihr geht beide zum Direktor und danach zum Arzt. Ich werde deine Eltern anrufen Cem.»
Bach packte sich beide und schob sie vor sich her. Die Menge hatte sich aufgelöst. Nur noch einige standen herum und blickten auf das Geschehene. Mia kam auf mich zu und nahm mich in ihre Arme. Sie löcherte mich mit fragen, welche ich geduldig beantwortete.

......

(ACHT JAHRE ZUVOR)

Ich saß auf einem Stuhl und blickte ins Leere. Niemand war hier. Ich war ganz allein in diesem Raum und blickte gelangweilt an die Decke. Es war erdrückend. Die Tür wurde aufgestoßen. Mein Blick flog zur Tür. Ich hätte mir doch denken können, dass er es war und kein anderer. Eigentlich wollte ich nicht reden. Ich verstand nicht wieso er sie nicht erwiderte.
Du musst aber irgendwann mit ihm darüber reden. Ihr müsst euch aussprechen. Ihr könnt nicht immer schweigen und darauf waren, bis der eine etwas sagt. Einer von euch beiden muss den nächsten Schritt wagen und das solltest du tun.
Manchmal könnte ich meine innere Stimme echt gegen die Wand pfeffern. Warum sollte ich ihn denn ansprechen? Er kann es doch genauso gut wie ich tun.
Tu mir einfach den Gefallen und sprich ihn einfach an.
Nenn mir einen Grund wieso ich ihn ansprechen sollte. Wenn er plausibel klingt, werde ich es tun.
Du wirst ihn verlieren, wenn du es nicht wagst. Willst du das? Willst du ihn an eine andere verlieren? Willst du mit dem schlechten Gewissen leben, dass du es nicht mit ihm versucht hast? Ich kann dir ansehen, dass du ihn liebst und dass du ihn für dich haben möchtest. Also fass dir ein Herz und sprich ihn an.
Darauf wusste ich nichts zu erwidern. Sie hatte recht und das wollte ich mir nicht eingestehen.
«Bella?»
Ich blickte auf. Direkt in seine wunderschönen eisblauen Augen, die mich fragend anschauten. Ich ließ mir keinerlei Emotionen anmerken. Er sollte ja nicht sehen, dass er mich mit seinen Worten verletzt hatte.
«Was», zischte ich ihn an.
«Ich wollte dir eigentlich sagen, dass»
«Dass ich Abschaum für dich bin? Dass ich nicht gut genug für dich bin? Dass ich dich in Frieden lassen soll?», fauchte ich und pfefferte den Stuhl gegen die Wand.
Cem schüttelte leicht den Kopf. «Nein, das war es nicht, aber wenn du so denkst, dann ist das nicht mein Problem du kleine Mistkröte! Ich wollte dir eigentlich etwas anderes sagen, aber wenn du es nicht wissen willst, dann verpiss ich mich lieber! Von mir aus kannst du in der Hölle schmoren und da bleiben, wo der Pfeffer wächst! Du gehst mir nämlich am Arsch vorbei. Weißt du das? Ich kann jede flachlegen, wenn ich möchte. Ich bekomme jede. Außerdem ist deine Freundin super im Bett.»
Die Tür knallte heftig zu. Er war verschwunden und ich war erneut allein.

......

Das klingelnde Handy riss mich aus meinen Erinnerungen. Wie von der Tarantel gestochen stand ich auf und nahm ab.
«Wieso bist du nicht rangegangen?», wurde ich von der besorgten Stimme von Melek begrüßt.
«Ich habe es nicht gehört», gab ich leise von mir.
«Ist etwas passiert? Soll ich kommen?»
«Bist du nicht in der Türkei?», fragte ich schließlich, als es mir in den Sinn kam.
«Ich bin seit gestern wieder da», erklärte sie mir. «Ich habe es einfach nicht ausgehalten. Irgendwie ging es nicht mehr. Ich konnte nicht mehr bei ihnen bleiben.»
«Ach so.»
«Was ist los mit dir, Bella?»
Melek klang besorgt. Ich konnte ihr nicht die Wahrheit sagen. Nein, das ging nicht. Ich konnte es einfach nicht. Ich musste lügen.
«Schon gut. Ich hatte nur ...»
Ich ließ den Satz unvollendet im Raum stehen.
«Ich komme vorbei. Wo bist du?»
«Zu Hause. Ayden hat eine Verlobte und ist mit ihr in ein neues gezogen. Weißt ja wo ich wohne.»
Mit diesen Worten legte ich auf und setzte mich auf die Couch. Einige Minuten später klingelte es an der Tür. Ich öffnete. Melek kam herein. Neben ihr war eine weitere Person, die ich schon einmal irgendwo gesehen hatte. Ich führte beide ins Wohnzimmer und fragte, ob sie etwas trinken wollten. Beide bejahten dies.
Ich stand in der Küche, als Melek hereinkam und sich zu mir gesellte.
«Erinnerst du dich noch an sie?», wollte sie wissen, nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte und sich auf einen Stuhl fallen gelassen hatte. Wage Erinnerungsfetzen kamen ans Tageslicht.
«Ihr Gesicht kommt mir bekannt vor», meinte ich und holte die Tassen aus dem Schrank. «Aber ich kann es nicht zuordnen.»
«Es ist Mia. Die aus deiner Klasse.»
Ein Blitzlicht ging auf. Die Worte von Cem kamen mir ins Gedächtnis. Ich musste schlucken. Schnell nahm ich ein Tablett und stellte die Tassen darauf. Dann ging ich mit ihnen ins Wohnzimmer. Melek folgte mir und beobachtete mich von der Seite aus.
«Schön dich mal wieder zu sehen», sagte Mia. Sie hatte sich ziemlich verändert. Ich nickte nur. Sie stand auf, um mich zu umarmen. Ich erwiderte die Umarmung nur leicht. «Wir haben in einigen Wochen ein Klassentreffen. Bist du dabei?»
«Wann genau ist es?», wollte ich wissen und setzte mich auf die Couch. «Ich habe als angehende Autorin ziemlich viel um die Ohren und nicht immer Zeit.»
Mia nickte. «Ich kann dir das genaue Datum per Mail schicken, wenn du möchtest.»
Ich nickte ebenfalls. Melek stand auf und verließ den Raum. Stille breitete sich zwischen uns aus. Ich hatte sie seit jenem Tag nicht mehr angesprochen geschweige denn mit ihr Kontakt gehalten. Jetzt tauchte sie wie aus dem Nichts wieder in meinem Leben auf.
«Es tut mir leid», kam es leise von ihren Lippen.
«Was tut dir leid?», fragte ich. «Das du ihn gevögelt hast?»
Stille. Sie war erdrückend. Nahm mir die Luft zum atmen. Es kam alles hoch. Ich konnte es nicht aufhalten, konnte es nicht verdrängen, konnte es nicht von mir abhalten. Es zog mich in seinen Bann. Nahm mich mit sich. In eine tiefe Ebene meines Bewusstseins.

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