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TEIL ZWEI
1 (Livia Baker)
So war das also. Meine Mutter hatte sich wegen ihm umgebracht und mich im Stich gelassen. Und dies musste ich aus einem verdammten Brief erfahren. Super nicht? Das finde ich auch. Ich wusste zwar, dass Melek meine Tante war, aber sonst eigentlich nicht viel. Über meinen Vater hatten sie mir eigentlich nicht viel erzählt. Fast gar nichts. Nur das er Cem Gül heißt und Schauspieler ist. Den Rest musste ich aus dem Brieflein meiner verstorbenen Mutter erfahren. Ich war echt sauer, als ich dies erfuhr. Sie hatten es nicht für nötig gehalten mir von der gescheiterten Liebesbeziehung zu erzählen. Ich wollte ihn kennenlernen und mir ein Bild von ihm machen, wollte mich für seine Taten an ihm rächen, obwohl er mein Vater war. Doch niemand wusste, wo er sich aufhielt. Meine Tante wollte mir nicht helfen. Mein Onkel hatte mit seinem Kind echt viel zu tun. Ja, Maria und Onkel Ayden hatten noch ein weiteres Kind bekommen. Er schrie ziemlich oft und hielt die beiden sehr auf Trapp. Kein Wunder warum Emily andauernd zu uns kam. Das hätte ich auch gemacht. Wir waren im gleichen Alter und gingen in dieselbe Klasse. Als ich das mit meiner Mutter erfuhr, war ich zehn. Und als mein Onkel mir den Brief gab, war ich sechzehn. Dies war vor einer Woche. Es war eigentlich nichts neues, doch trotzdem war ich geschockt, als ich ihn las und mir sich neue Offenbarungen zeigten. Die Geschichte meiner Mutter hatte ich auch gelesen gehabt. Alles hatte sie aufgeschrieben. Die Fotos. Sie lagen auf meinem Schreibtisch und verstaubten dort. Ich stand vom Bett auf und ging auf den Schreibtisch zu, um mir die Fotos erneut anzuschauen. Sie sah so wunderschön aus. Lange, glatte, braune Haare. Die Augen so braun wie Schokolade. Das schmale Gesicht. Die wunderschöne Figur. Ich bewunderte einfach alles an meiner Mutter. Schade, dass sie nicht mehr lebte. Der Kloß in meinem Hals machte sich bemerkbar. Schließlich brach bei mir der Damm. Eigentlich hatte ich nie geweint, doch jetzt geschah es. Tränen tropften auf das Papier und durchnässten es. Die Fotos fielen mir aus der Hand und landeten auf dem Boden.
«Mama!», schrie ich weinend in das leere Zimmer. «Warum hast du mich alleine gelassen? Ich brauche dich doch. Wieso tust du mir so etwas an? Wieso? Und warum hat Papa dich nicht davon abgehalten? Sag mir warum!»
Ich merkte nicht einmal, wie sich die Tür öffnete und jemand hereinkam. Noch immer weinte ich. Es war schrecklich. So schrecklich. Eigentlich sollte ich meine Mutter doch verstehen oder nicht? Doch ich tat es nicht. Ich hasste sie dafür! Ich hasste es, dass sie sich das Leben mit sechsundzwanzig genommen und mich allein gelassen hatte! Ich hasste meinen Vater! Hasste ihn, weil er ein riesengroßes Arschloch gewesen war und sie nicht ehrlich liebte! Ich hasste sie beide! Und niemand verstand mich. Sie wussten nicht wie es mir dabei ging. Wie gern hätte ich meine Mutter kennengelernt, wie gern hätte ich ihre Stimme gehört, wie gern hätte ich gewollt, dass sie mich hält und mich tröstet, wenn ich mal Liebeskummer haben sollte. Es war so vieles was ich wollte und doch nicht bekam, weil das Schicksal nicht auf meiner Seite war. Es hasste mich abgrundtief und wollte sich an meinem Leid erlaben. Und dafür nahm es mir meine Mutter und meinen Vater, der zwar noch lebte aber mich nicht anerkannte. Es kursierte sogar das Gerücht, dass er meine Mutter gezwungen hatte mich abzutreiben. Außerdem kursierte das Gerücht, dass er sie fast zu Tode geprügelt hatte. Woher ich das alles wusste? Natürlich aus den Erinnerungen meiner Mutter, die sie mir dagelassen hatte. So war es. Mein beschissenes Leben. Und so würde es auch immer bleiben. Nichts würde sich ändern. Überhaupt nichts. Manchmal dachte ich mir, dass sie nicht hätte mit mir schwanger sein dürfen. Vielleicht wäre sie dann noch am Leben und hätte ihr Glück bei jemand anderem, anstatt meinen Vater gefunden. Oder hätte sie sich wohl doch umgebracht? Es waren zu viele Fragen in meinem Kopf, die ich niemals beantworten würde. Vielleicht hätte sie mein Vater beantworten können, doch an ihn kam ich nicht ran. Mein Onkel wollte mir seine Nummer nicht geben. Er wusste ja nicht einmal, ob sie gleich war. Vielleicht wusste es meine Tante, die nun auch ihr Glück gefunden hatte. Trotzdem sie einen Mann hatte, lebte ich bei ihnen und es machte ihm nichts aus. Er war nett und kümmerte sich gut um uns. Sollte ich darüber nicht glücklich sein? Eigentlich schon. Vielleicht sollte ich mich auch von einer Brücke stürzen, damit mein Leben endlich vorbei war. Vielleicht sollte ich...
«Livia?», fragte da eine Stimme, die ich sehr wohl kannte und riss mich aus meinen Gedankengängen. Langsam hob ich den Kopf und sah in die Augen meiner Tante, welche mich besorgt musterte. «Geht es wieder?»
Ich hatte nicht bemerkt, dass ich nicht mehr weinte. Ich lag nur in ihren Armen und schaute wie gebannt auf die am Boden liegenden Fotos. Dann nickte ich.
«Ich werde dich dann mal allein lassen. Kommst du in einer halben Stunde zum Essen? Ayden, Maria, Emily und ihr kleiner Bruder Ben kommen auch herüber.»
Ben war der kleine Fratz, den sie nach Emily bekommen hatten. Ich nickte. Sie stand auf und verließ das Zimmer. Leise schloss sich die Tür hinter ihr. Außerdem hatte ich ganz vergessen zu erwähnen, dass meine Tante und mein Onkel beide Schauspieler waren. Der Mann meiner Tante, Pierre, war Polizist. Maria, die Frau von meinem Onkel, war Autorin. Meine verstorbene Mutter war ebenfalls Autorin. Ich hatte alle ihre Bücher gelesen und fand sie ziemlich gut, obwohl sie gerade neu in diese Branche eingestiegen war. Und mein Vater, der mich nicht haben wollte, war ebenfalls Schauspieler. War das nicht perfekt? Eine ziemlich lustige Mischung einiger Berufe. Die Eltern von meinem Onkel waren Anwälte. Genaugenommen waren sie Oma und Opa für mich, doch gesehen hatte ich sie nur auf Fotos. Denn das Verhältnis zwischen ihnen und meinem Onkel stand nicht gerade gut. Sie hatten kein gutes Verhältnis gehabt, als meine Mutter noch am Leben war. Vielleicht bekam ich es ja hin, dass sie sich wieder verstanden. Oder vielleicht auch nicht.
Ich musste etwas tun, aber was? Schließlich klingelte es an der Tür. Hastig sprang ich auf, verstaute die Fotos und flog zur Tür, um diese zu öffnen. Doch Pierre war schneller. Er grinste mich an, als er mich sah und umarmte mich kurz. Gemeinsam blieben wir an der Tür stehen und schauten nach draußen.
«Du?», fragte ich leise. Er drehte sich zu mir um.
«Was denn, meine Liebe?», wollte er besorgt wissen.
«Kanntest du meine Mutter?»
Er schüttelte den Kopf. «Nur aus Erzählungen von deiner Tante.»
Ich nickte ebenfalls. «Ich geh ihr mal helfen. Ja?»
«Mach das, Kleines. Mach das.»
Ich lächelte leicht und verschwand in der Küche. Als sie mich sah, blickte sie auf und lächelte herzlich.
«Bedrückt dich etwas?», fragte sie und trocknete ihre Hände an einem Geschirrtuch ab.
«Ich wollte dir helfen», meinte ich und stellte mich neben sie.
«Du kannst die Teller ins Wohnzimmer bringen, wenn du magst, Liebes.»
Ich nahm die Teller und brachte sie ins Wohnzimmer. Danach ging ich wieder in die Küche.
«Soll ich noch etwas tun?»
Sie lächelte. «Schneide das Gemüse. Es werden doch mehr Gäste kommen, als ich erwartet habe.»
«Wer wird denn noch kommen?», wollte ich wissen und schaute sie mit einem flehenden Blick an. Daraufhin grinste sie und knuffte mich in die Seite.
«Das wirst du ja dann sehen, wenn sie da sind.»
Ich seufzte genervt auf. Doch ohne etwas zu sagen, schnitt ich das Gemüse und schwieg. Wieder war ich dabei in meinen Gedanken versunken und achtete nicht auf meine Umgebung. Eigentlich war mein Leben perfekt. Aber nur eigentlich.
Ich weiß, dass ich diesen Satz mehrere Male erwähnt habe, aber anders konnte ich einfach nicht. Es musste einfach sein. Vielleicht wird sich dies bessern. Vielleicht werde ich irgendwann mal wirklich richtig glücklich und kann mich damit abfinden. Aber das wird sich zeigen lassen.
«Livia! Wo bist du denn mit deinen Gedanken?», herrschte mich Emily an. Ich sah zu ihr auf und umarmte sie fest.
«Da wo du nicht bist», meinte ich lachend und rannte davon. Ich liebte es meine Cousine hochzunehmen. Das war einfach nur der Knaller. Vor allem ihre Blicke, die sie mir dann immer zuwarf. Einfach nur göttlich.
«Etwa bei deiner Mutter?»
«Ach halt' doch die Klappe!»
«Sorry», sagte sie kleinlaut und umarmte mich fest.
«Schon gut», gab ich leise von mir und warf die Gedanken ab. Wir begaben uns ins Wohnzimmer, wo ich meinen Onkel sah und ihm in die Arme fiel. Dieser drückte mich fest an sich und küsste mich auf den Kopf. Ich grinste leicht und setzte mich neben ihn aufs Sofa. Als Maria mich sah, kam diese auf mich zu und umarmte mich herzlich. Sie hatte ihren Sohn Ben auf dem Arm. Dieser schlief selig. Ich lächelte und gab dem Kleinen einen Kuss auf die Wange.
«Kannst du ihn mal halten?», fragte Maria mich und ich nickte. Sie reichte ihn mir und verschwand. Bestimmt ging sie in die Küche, um mit meiner Tante zu reden. Dann klingelte es erneut. Wen wir wohl noch erwarteten? Mein Onkel stand auf und verließ das Wohnzimmer. Kurz darauf kam er mit zwei Leuten zurück, die mich musterten. Mein Onkel sah nicht gerade froh darüber aus, doch es war mir egal.
«Du musst unser Enkelkind sein?», fragte die Frau und sah mich lange an. Daraufhin nickte ich, stand auf, reichte meinem Onkel seinen Sohn und ging auf die Frau zu.
«Dann bist du meine Oma und du mein Opa?», fragte ich leise.
«Du siehst ihr ähnlich», sagte mein Opa und wischte sich eine Träne aus dem Auge. Ich konnte nichts sagen. Alle meinten, dass ich ihr ähnlich sehe. Doch ich hatte dies nie geglaubt, da ich meine Mutter nur von Fotos her kannte und sie nie aus der Nähe betrachten hätte können, da sie sich ja umbringen musste. Und das alles nur wegen ihm. Nur wegen meinem Vater, der sich einen Scheiß um mich scherte und der mich nicht leiden konnte. Doch ich würde ihm schon Vernunft beibringen. Dies schwor ich mir an diesem Tag an. Er würde schon seine gerechte Strafe bekommen. Bestimmt hätte sich meine Mutter gefreut, wenn ich dies täte. Vielleicht hätte sie dies auch getan. Oder sie hätte es nicht getan, weil sie ihn ja so sehr liebt. Und meine innere Stimme ging mir so was von auf die Nerven. Konnte sie mich nicht einmal in Frieden lassen und mir meine Gedanken alleine vor mich hindenken lassen? Nein, das konnte sie nicht, da sie sich immer einmischen musste.
«Ihr habt sie jetzt gesehen», fuhr mein Onkel dazwischen. «Dann könnt ihr ja jetzt gehen.»
Sie drehten sich langsam um und gingen auf die Tür zu. Ich folgte ihnen und hielt sie vor der Wohnungstür auf. Fragend sahen sie zu mir herüber.
«Er meint es nicht so», sagte ich leise und war kurz vor dem Weinen, doch ich hielt mich wacker. Ich schluckte den nerv tötenden Kloß hinunter und sah sie an.
«Wir werden uns ein anderes Mal sehen, meine Liebe. Das versprechen wir dir.»
Meine Oma reichte mir einen Zettel und zog meinen Opa aus der Tür. Ich stand da, schaute auf den Zettel. Nur eine Nummer. Eine mit einer fremden Vorwahl. Aus welchem Land die wohl stammte? Auf jeden Fall nicht aus Deutschland. Es musste ein fremdes Land sein. Aber welches? Ob ich meinen Onkel fragen sollte? Nein, lieber nicht. Der war ja eh schon so sauer, als er sie angesprochen hat und sie somit aus der Wohnung jagte. Vielleicht sollte ich meine Tante fragen. Oder Maria. Oder Pierre. Vielleicht solltest du das mal nachschauen. Warum kam ich nicht darauf? Ich war ja so blöd. Ich kann doch einfach bei Google nachgucken was dies für eine Vorwahl ist. Dann brauche ich niemanden zu fragen.
Ich warf die Gedanken von mir und begab mich u den anderen, die mich anblickten. Schweigend setzte ich mich einfach hin und blickte gegen die Decke, die äußerst interessant zu sein schien. Irgendwann verschwanden alle Läute aus dem Häuschen. Fast alle. Emily blieb hier und würde bei uns übernachten. Ich stand auf und ging mit ihr in mein Zimmer noch bevor Pierre oder meine Tante etwas sagen konnten. Stillschweigend folgte Emily mir.
«Was guckst du so, als hätten wir drei Tage Regenwetter?», fragte Emily schließlich und ich musste unwillkürlich zu ihr aufsehen.
«Nichts, nichts», gab ich von mir und versuchte das Thema zu wechseln, doch sie war einfach zu stur.
«Spuck' schon aus, bevor ich es aus dir heraus kitzeln muss!», forderte sie mich auf und sah mit einer grimmigen Mine zu mir. Ich hatte vor ihrer Mine keine Angst. Stattdessen lachte ich nur auf und versicherte ihr, dass alles in Ordnung sei. Dies nahm sie mit einem mürrischen Blick und einem knappen Nicken zur Kenntnis.
«Ich werd es dir schon noch heimzahlen», sagte Emily und stand auf.
«Wohin willst du? Schon nach Hause?»
«Nein. Ich muss nur mal aufs Klo. Da gehe ich aber allein hin, denn den Weg finde ich ja.»
Ich nickte, doch da war sie schon verschwunden. Also ließ ich mich aufs Bett fallen und dachte über alles nach. Mein inneres wollte meinen Vater schon gerne kennenlernen, doch das Äußere von mir stritt dies vehement ab. Über meine verdammten Gedanken schüttelte ich den Kopf und versuchte mich mit irgendetwas abzulenken, aber es klappte nicht so recht. Ich hatte eine DVD in meiner Hand und betrachtete das Cover. Mein Vater war darauf zu sehen. Neben ihm stand eine Frau. Beide sahen glücklich aus, doch das täuschte. Mein Onkel hatte mir einiges über ihn erzählt. Ich bemerkte nicht einmal wie Emily das Zimmer betrat und sich neben mich auf das Bett setzte. Ich bemerkte sie erst, als ich ihren Arm um meine Schultern legte. Natürlich zuckte ich heftig zusammen, sodass die DVD auf den Boden fiel. Betroffen und entschuldigend zugleich sah sie mich an und hob die DVD auf.
«Wenn du möchtest, können wir sie schauen», meinte sie und ging mit langen Schritten auf den Fernseher zu, um ihn einzuschalten und dann die DVD in den DVD-Player zu legen. Ohne Widerrede ließ ich dies über mich ergehen und setzte mich neben sie auf die Couch. Der Film begann. Starr blickte ich auf den Bildschirm. Ich beachtete die anderen Schauspieler gar nicht. Schaute nur auf meinen Vater, der seine Rolle echt gut spielte. Ich fragte mich, wieso er einen liebenden Ehemann spielte, obwohl er anscheinend niemanden liebte. Wie sollte dies gehen? War das bei ihm überhaupt möglich? Konnte er etwa doch lieben? Oder war das alles nur Fassade von ihm? Wie gut konnte er die Läute um sich herum täuschen? Es schwirrten einfach zu viele Fragen in meinem Kopf herum, auf die ich nie eine Antwort finden würde, wenn ich einfach so herum saß und nichts dagegen tat. Das musste sich ändern. Aber was sollte ich schon tun? Ich wusste es nicht. Vieleicht würde mir schon etwas einfallen. Ich brauchte nur die nötige Zeit dafür. Diese würde ich auch bekommen.
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