#60

Die ersten zaghaften Sonnenstrahlen erleuchteten den Hafen von Veracruz, als ich meine Kippe langsam ausdrückte und den Rauch in Richtung Sonnenaufgang blies. "Du kannst also durch Schatten reisen?", fragte Emilia. "Sieht ganz danach aus." Jack hatte uns zurück gebracht und sich recht schnell verabschiedet. Sein Horn steckte in meiner Manteltasche, er hatte es mir als Abschiedsgeschenk überreicht. Als ich den Motor des Camaro angelassen hatte war uns aber ein Fehler in unserem Plan aufgefallen. Um mit einem solchen Wagen auf einem Schiff nach Kuba zu fahren hätten wir vermutlich ein Dutzend Beamte mit Magie und Geld überzeugen müssen, was mir einfach zu riskant war. Also hatte ich im Hafenviertel kurzerhand eine Garage aufgebrochen und den Wagen dort geparkt. Einen großen Teil der Ausrüstung hatten wir mitgenommen und es hatte sich herausgestellt, dass Emilia noch ein paar nützliche kleine Zauber beherrschte. Innerhalb weniger Minuten hatte sie dafür gesorgt, dass jeder der in die unmittelbare Nähe der Garage kam verwirrt kehrt machte. Während der Fahrt zum Hafen hatte ich Emilia auch von meiner neuen Fähigkeit erzählt. "Und bist du sicher, dass du auch andere Personen mitnehmen kannst?" Langsam stand ich auf und richtete meine Kleidung. Marcus hatte mir freundlicherweise ein schlichtes schwarzes T-Shirt überlassen, dass mir aber etwas zu groß war. Dann sagte ich: "Letzten Endes ist Magie eine Frage der Willenskraft. Also lass es uns ausprobieren." Ich hängte mir ihre Tasche um, die zum Bersten gefüllt war mit Munition, Granaten und ein paar Silberdolchen, während sie ihren Gitarrenkasten schulterte. Ich griff nach Emilias angenehm kühler Hand und zog sie in eine dunkle Ecke. Dann schloss ich die Augen. Letztes Mal hatte ich an Emilia und den Hafen gedacht, diesmal konzentrierte ich mich auf Kuba und rief mir die Gesichter meiner Freunde ins Gedächtnis. Mit aller Macht rief ich die Schatten zu mir. Im nächsten Moment schlangen sie sich um uns, sie fühlten sich genauso an wie beim ersten Mal, ein fast schon vertrautes Gefühl. Vielleicht war das ja die Antwort. Was wenn alle Schatten nur Teil eines großen Ganzen waren? Bevor ich den Gedanken vertiefen konnte wurde es wieder hell. Lächelnd trat ich aus dem Schatten der riesigen Eiche. Ich hatte es geschafft. Durch die Schatten zu reisen war ziemlich praktisch, aber ich spürte, dass ich mich einiges an Kraft gekostet hatte. Rasch sah ich mich um. Wir standen am Fuße eines kleinen Hügels, auf dessen Spitze eine hübsche, wenn auch etwas heruntergekommene Villa im Barockstil stand, vielleicht hundert Meter entfernt. "Eric, Lyra und Damon sind da drin. Und eine vierte, mir unbekannte Person. Ein Mädchen." Emilia warf mir einen fragenden Blick zu. "Engelsinne.", sagte ich achselzuckend. Gemeinsam gingen wir den Schotterweg hoch. Wir hatten vielleicht die Hälfte der Strecke zurück gelegt, als die Tür aufgestoßen wurde und unsere Freunde auf uns zu stürmten. Mit einem breiten Grinsen klatschte ich Eric und Damon ab, dann umarmte ich Lyra. Es tat unglaublich gut sie alle wiederzusehen, ich hatte kaum realisiert wie sehr mir meine Freunde gefehlt hatten. "Wo habt ihr die ganze Zeit gesteckt?", fragte Eric. "Und wo ist Leonie?", fügte Damon hinzu. Bei der Erwähnung ihres Namens ballte ich kurz die Fäuste. "Sie hat uns verraten.", sagte ich kurz angebunden. "Ich erkläre es euch später. Lasst uns erst reingehen, dann könnt ihr uns auch das Mädchen vorstellen." "Woher weißt du von Nuala?" "Engelsinne. Ich habe eure Anwesenheit gespürt und die einer vierten Person." "Dann kommt mal mit, es wird euch gefallen.", meinte Eric. Ich spürte seine Unzufriedenheit, dennoch hakte er nicht nach. Hatte ich mich so sehr verändert? Trotz des Äußeren war das Innere der Villa gemütlich und modern eingerichtet und in sehr gutem Zustand. Wir betraten die geräumige Küche, wo ein blondes Mädchen von vielleicht 15 Jahren an einem großen Tisch saß und Pfeile mit weißen Federn befiederte. Sie trug eine einfache Jeans und einen gelben Kapuzenpulli. Als sie uns bemerkte zuckte ihre Hand kurz in Richtung des kurzen Messers, mit dem sie die Federn in die richtige Form brachte. "Nuala, das sind Emilia und Nath." Nuala stand auf und strich sich das lange Haar aus den Augen. Ihre giftgrünen Augen musterten uns, blieben kurz an Emilias Gitarrenkoffer und meinem Mantel hängen. Sofort entdeckte sie die Pistole darunter. Sie war gut ausgebildet worden, aber von wem? Vielleicht eine weitere Überlebende, die auf einem Einsatz gewesen war? Unwahrscheinlich, aber möglich. "Du bist also Nathaniel, der Halbengel.", stellte Nuala fest. "Deine Freunde haben mir viel von dir erzählt. Ich habe mir dich größer vorgestellt." Neben mir brach Emilia in schallendes Gelächter aus und kurz darauf lachten auch die anderen. "Und Du hast ziemlich helles Haar für eine Irin.", erwiderte ich, ebenfalls lachend. "Woher....", stammelte das junge Mädchen. "Engelsinne.", sagte ich so geheimnisvoll wie möglich, wobei ich die Schatten benutze um das Licht der Lampen minimal zu dämpfen. Dass ich ihren leichten Akzent bemerkt hatte verschwieg ich, dazu genoss ich ihren Gesichtsausdruck zu sehr, irgendwo zwischen Faszination und Verblüffung. Ich ging zum Fenster, öffnete es und setze mich auf die Fensterbank. Langsam kramte ich mein Feuerzeug und eine Zigarette aus meinem Mantel. Ich inhalierte den Rauch und atmete durch die Nase wieder aus. "Also Nuala, wieso bist Du hier? Bist du eine Magierin?" Das Gesicht des Mädchens wurde hart. "Zum Glück nicht.", antwortete sie. "Sonst hätten sie mir das gleiche angetan wie..." "Deiner Schwester.", beendete ich ihren Satz. Meine Stimme hatte einen düsteren Ton bekommen. "Man hat Experimente an ihr durchgeführt, was dazu geführt hat, dass sie die Kontrolle verloren hat. Was für eine Magierin ist sie?" Meine Kräfte waren praktisch, aber ich musste lernen sie zu kontrollieren. Nuala betrachte den Rauch den ich aus dem Fenster pustete. Dann zog sie den Ärmel ihres Pullis hoch. Eine Brandnarbe kam zum Vorschein. Gefrierbrand. "Na toll, eine Kyrokinetikerin, die die Kontrolle verloren hat, sodass sie sogar ihre eigene Schwester verletzt hat.", sagte ich. "Ich glaube, sowas hab ich mal in 'nem Film gesehen. Egal. Und wo ist deine Schwester jetzt?" Vorsichtig strich Nuala über die Narbe. "Sie ist etwa 10 Kilometer von hier entfernt, irgendwo in der Umgebung von Havanna."

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