#170
Lächelnd setzten Raguel und ich uns an einen der Spieltische, wobei der Engel den Casinoangestellten mit einem Wink verscheuchte. Er setzte sich auf den Platz des Dealers, schnappte sich zwei Kartendecks und begann zu mischen. "Du bist mit den Regeln von Blackjack vertraut, oder? Es ist ein reines Glücksspiel, also haben wir die gleichen Chancen", meinte der Engel und mischte die Karten so schnell, dass kein menschliches Auge mithalten konnte. Als ich nickte, fuhr Raguel fort: "Also gut. Ich bin der Dealer. Wir spielen bis die Karten ausgehen, oder einer von uns seinen Einsatz verspielt. Jeder von uns startet mit 5000$, Mindesteinsatz sind 100$. Alles verstanden?" Wieder nickte ich und sagte: "Verstanden. Kleiner Zusatz: Keine Magie, keine Engelssinne. Und zur Sicherheit schwören wir es beide, bei unserem Blut." Raguel lächelte spöttisch. "Gut. Ich schwöre es bei meinem Blut." Als ich den Schwur wiederholte, begann der Erzengel Karten auszuteilen.
"Hit", sagte ich eine halbe Stunde später und trank einen Schluck Whiskey aus dem Glas, das ich mir eben bestellt hatte. Raguel schob mir eine Karte zu und lächelte triumphierend. "Bust", kommentierte er. "Knapp drüber", stimmte ich zu und schob meine restlichen Chips in die Mitte, etwa 3000$. Das war die letzte Runde, da konnte ich auch aufs Ganze gehen. "Wusstest du, dass Blackjack eines der wenigen Spiele ist, wo der Spieler dem Dealer gegenüber einen Vorteil hat?", fragte ich den Engel und ignorierte die verdeckten Karten vor mir. "Wenn der Dealer unter 17 liegt, muss er eine weitere Karte ziehen, wodurch er eine hohe Chance auf einen Bust hat, also über 21 zu kommen. Dir ist das kein einziges Mal passiert. Du bist ein ziemlicher Glückspilz. Stand." Nun runzelte Raguel das erste Mal die Stirn und schien verunsichert, da ich mir die Karten nicht mal angesehen hatte. Dennoch deckte er seine Karten auf und grinste. "20. Der Sieger dürfte feststehen." "Stimmt", antwortete ich und drehte meine Karten um. Ein Ass und ein König. "Bei einem natürlichen Blackjack gewinnt der Sieger das zweieinhalbfache seines Einsatzes. Ich gewinne." Ich sah, wie Raguels linkes Augenlid anfing zu zucken, als er ungläubig auf die Karten zwischen uns starrte. "Aber... Das ist unmöglich", stammelte er. "Wie konnte ich verlieren?" Nun stahl sich doch ein diebisches Grinsen auf meine Lippen, während ich mir eine Zigarette anzündete. "Ich dachte Blackjack sei ein reines Glücksspiel? Aber gut, ich verrate es dir, immerhin habe ich schon gewonnen. Card Counting." "Card... was?" Ernsthaft? Der Kerl hatte seit Jahrhunderten nichts besseres zu tun als in diesem Casino zu hocken, aber Karten zählen war ihm kein Begriff?! Wie hatten diese Idioten den Krieg gegen Luzifer gewinnen können? "Es ist eigentlich ganz einfach", erklärte ich. "Man verwandelt die Karten einfach in Zahlen. Karten zwischen zwei und sechs sind +1, zehn und höher -1, sieben bis neun entsprechen 0. Man zählt die Nummern der Karten die ausgespielt wurden um die Wahrscheinlichkeit für die Karten zu berechnen, die als nächstes gespielt werden." Der Erzengel ließ sich auf seinen Stuhl zurück sacken und das Zucken wurde noch eine Spur stärker. "Du... Du hast es berechnet? Das ist Betrug!" Ich lachte leise auf. "Betrug? Betrug war das Schummeln beim Mischen." "Du... hast es bemerkt?" Mein Grinsen wurde eine Spur breiter und ich blies eine kleine Rauchwolke in Richtung des Engels. "Natürlich habe ich es bemerkt, du bist zwar schnell, aber das bin ich auch. Dadurch fiel es mir noch leichter die Karten zu zählen. Im Grunde habe ich also deinen eigenen Trick gegen dich verwendet." Nun sah Raguel aus, als wolle er sein Schwert in irgendwas bohren und zwar am Liebsten in mich. Tatsächlich sah ich für einen Moment ein weißes Leuchten in seiner Handfläche, das aber sofort wieder verschwand. "Du hast gewonnen, Nathaniel Black", sagte Raguel resigniert. "Ich habe einen Schwur geleistet, also werde ich dir im Kampf gegen Leviathan zur Seite stehen. Wie sieht dein Plan aus?" Ich überlege rasch, denn um ehrlich zu sein hatte ich mir da noch keine Gedanken drüber gemacht. "Am besten wartest du erst mal hier", improvisierte ich. "Ein Erzengel könnte unter den Kreaturen und Magiern, die ich zusammengetrommelt habe, für leichte Unsicherheit sorgen. Ich werde nur wenige einweihen und du wirst dich dann unserem Stoßtrupp anschließen." Der Engel verzog das Gesicht und seine Augen verschmälerten sich zu Schlitzen. "Für wen hälst du mich? Denkst du, ich tanze an wie ein braves Hündchen, sobald du nach mir pfeifst?" Entnervt schüttelte ich den Kopf. "Natürlich nicht, dazu ist dein Ego viel zu groß. Aber hier geht es ums Timing. Tauchst du zu früh auf, ergreifen unsere Leute die Flucht. Wenn du aber im richtigen Moment eingreifst, können wir Leviathan schwer treffen. Du bist der Trumpf." Das schien Raguel fürs erste zu besänftigen. Er schnippte mit den Fingern und ein kleiner, gläserner Engel erschien auf dem Tisch zwischen uns. "Zerbrich diese Figur", erklärte Raguel, "und ich werde dir zu Hilfe eilen. Jetzt geh, ich kann deine Anwesenheit und deinen Gestank nicht länger ertragen." Eine Stimme in meinem Hinterkopf schrie zwar, ich solle ihm meinen Fuß so tief in den Arsch rammen, das sein Atem 'ne Woche lang nach Stiefel riecht, aber ich stand mit einem einfachen Lächeln auf, packte den Glasengel ein und verabschiedete mich mit einem Nicken.
Als ich das Casino verließ, war die Sonne bereits untergegangen. Ich wollte schon zum Hotel zurückkehren, als mir ein Gedanke kam. Ich hatte noch etwas mehr als einen Tag auf der Erde, so viel Zeit musste ich mir nehmen. Als ich die Schatten rief, fiel es mir leichter als sonst und keine Sekunde später stand ich in einer kleinen Seitengasse in Luzern. Zwei Tauben flatterten empört auf, als ich auf die Straße trat und kurz darauf wurde ich fast von einer Horde asiatischer Touristen überrannt. Ich murmelte ein paar Verwünschungen, dann sah ich mich aufmerksam um. Keine dreißig Sekunden später hatte ich die Frau entdeckt, die an einem kleinen Tisch vor einem Café saß und in einer Zeitung blätterte. Kaum hatte ich mich an einen der Tische gesetzt, kam auch schon eine hübsche Kellnerin angewuselt und schenkte mit ein strahlendes Lächeln. Ich bestelle mir auf englisch einen großen Kaffee, den ich eindeutig brauchte, tat so als würde ich an meinem Handy rumspielen und beobachtete unauffällig die Frau am Tisch neben mir. Sie trug ihre dunkelbraunen Haare jetzt kürzer und sah weniger gestresst aus. Klar, durch die 'Erbschaft' hatte sie ein eigenes Haus und genug Geld für zwei Generationen auf der hohen Kante. Im Großen und ganzen wirkte sie... glücklich. Etwas, dass mit mir nicht möglich wäre, denn egal wer mir schaden wollte, die Menschen in meinem Umfeld waren immer in Gefahr. Als die Kellnerin mir meinen Kaffee brachte, wirkte ich einen kleinen Zauber und zahlte mit einem fünfzig Dollar-Schein. Ich hatte keine Zeit gehabt um Geld zu wechseln, aber mit Magie ließen sich die meisten Menschen überzeugen und außerdem hatte sie ja ein ansehnliches Trinkgeld bekommen. Es war Montag Morgen, vielleicht würde sie es auf ein hartes Wochenende schieben. Meine Tasse war halb leer, als die Frau plötzlich ihre Zeitung zusammenfaltete und aufstand. "Da seid ihr ja wieder", begrüßte sie einen Mann in Lederjacke, der ein kleines Mädchen von etwa fünf Jahren an der Hand hielt. Als sie die Frau entdeckte, riss sie sich los und rannte in die ausgebreiteten Arme der Frau. "Elli!", rief das Mädchen. "Papa hat gesagt, du gehst mit mir ein Halloween-Kostüm kaufen!" "Ach ja?", erwiderte die Frau grinsend, umarmte die Kleine und küsste den Mann kurz auf die Lippen. "Als was willst du denn gehen?" Die Kleine überlegte einen Moment, dann strahlte sie. "Als Marienkäfer! Und du brauchst auch ein Kostüm!" Der Mann lächelte und strich sich durch die dunkelblonden Haare, die schon deutlich graue Ansätze hatten. "Ich bin nicht sicher, ob Elisabeth sich auch verkleiden möchte." Wieder ertönte ihr glockenhelles Lachen, bei dem sich alles in mir zusammenkrampfte. "Wenn Lilly sich das wünscht, kann ich ihr das doch nicht abschlagen." Ich hatte genug gesehen. Ich wusste, dass sie glücklich war und eine neue Familie gefunden hatte, das war alles was zählte. Ich kippte meinen Kaffee runter, stieß meinen Stuhl zurück und stürzte davon, während ich versuchte meine Emotionen zu bekämpfen. Ich war erst einige Meter weit gekommen, als mich jemand an der Schulter berührte und rief: "Halt! Sie haben was vergessen." Als ich mich umdrehte, stand die Frau, Elisabeth, vor mir und hielt mir mein Handy hin. "Das haben Sie auf dem Tisch liegen lassen." Mit zitternden Händen griff ich danach, aber das Hand glitt mir durch die Finger. Kurz bevor es auf dem Kopfsteinpflaster aufprallte, bekam ich es zu fassen und steckte es schnell in meine Hosentasche. "Gute Reflexe", meinte die Frau beeindruckt und runzelte die Stirn. "Sind wir uns schon mal begegnet?" "Ich glaube nicht", erwiderte ich und brachte ein zwangloses Lächeln zustande. "Ihr Gesicht kam mir nur so bekannt vor..." Sie betrachtete mich eingehend, dann fragte sie: "Ist alles in Ordnung? Sie wirken ziemlich fertig." Ich wollte ihr alles erzählen, wollte mich bei ihr entschuldigen, doch stattdessen antwortete ich schwach: "Es waren ein paar harte Monate. Und es wird ein noch härteres Jahr." "Blicken Sie nach vorne, irgendwann wird es besser", sagte die Frau zuversichtlich und schenkte mir ein breites Lächeln. Plötzlich erschien das kleine Mädchen neben ihr. "Elli, ist das ein Freund von dir?" Die Frau streichelte der Kleinen über den Kopf. "Nein, Lilly. Er könnte ja fast mein Sohn sein. Der junge Mann hat einfach nur sein Handy liegen lassen." Wieder zog sich alles in mir zusammen und mir war speiübel. Ich hasste das Leben, hasste die Entscheidungen, die ich hatte treffen müssen. Als Lilly nach einigen Sekunden des Schweigens schließlich drängte, sie wolle endlich das Kostüm kaufen gehen, gab Elisabeth nach. "Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag. Und vergessen Sie nicht: Immer nach vorne blicken." Ich blieb noch ein paar Sekunden lang stehen, wie versteinert, bis die drei außer Sichtweite waren. "Ich hoffe, dass du so glücklich bist, wie du es verdienst", flüsterte ich schließlich mit schwacher Stimme und trat in eine dunkle Lücke zwischen zwei Gebäuden. "Machs gut, Mum. Ich hab dich lieb."
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