»61. Kapitel

Liebe Es war dieses eine simple Wort, über das ich schon so viele Male nachgedacht hatte. Aber gab es überhaupt eine richtige Definition dafür? Ich hatte nie die richtigen Worte für dieses Phänomen gefunden. Bis zu diesem Zeitpunkt. Alleine durch Liam hatte ich eine - für mich perfekte - Erklärung entdeckt. 

Liebe war, sich jemandem komplett hinzugeben, ihm zu verfallen - ohne die Angst zu haben, jemals fallen gelassen zu werden. Liebe war dieses Gefühl, dass man spürte, wenn man ihn ansah und sich denkt, was für ein Glück man hat, ihn gefunden zu haben. Liebe war Glück und Glück war etwas, das nur schwer zu finden war. Und trotzdem hatte ich mein persönliches Glück nach einer langen Suche endlich gefunden.

Mein Herz klopfte bemerkbar laut in meiner Brust, als ich meine Jacke etwas enger um mich wickelte und mich so vor dem kalten Wind schützte, der mir andauernd durch die Haare fegte. Es war Freitagabend und ich stand an der Böschung eines Flusses, der sich quer durch Bradfords schmuddeligen Vorort zog. Es war bereits dunkel und irgendwie fühlte ich, dass es im Laufe der kommenden Nacht noch ordentlich gewittern würde. Ich hasste Gewitter. Natürlich wäre ein warmes Bett und ein guter Film die angenehmste Lösung für einen solchen stürmischen Abend gewesen, doch ich hatte mich dagegen entschieden. Stattdessen hatte ich Zayn am Morgen eine Nachricht geschrieben, indem ich ihm um ein Treffen gebeten hatte. Damit, dass sich das Wetter im Laufe des Tages so verändert hatte, hatte ich nicht mit gerechnet.

Es war Zayn gewesen, der den Treffpunkt vorgeschlagen hatte. Zuerst war ich etwas stutzig darüber gewesen, allerdings hatte ich mich anschließend wieder daran erinnert, wie viele Tage wir in unserer Kindheit am Ufer verbracht hatten. Wir hatten mit Keschern und Eimern kleine Fische gesammelt oder Frösche zwischen dem Schilf gesucht. Es waren schöne Erinnerungen gewesen und auf einer unbestimmten Art und Weise war ich bestürzt darüber, dass wir aus dem Alter raus waren, um noch einmal so eine Zeit zu erleben.

"Rachel?"

Ich zuckte heftig zusammen, als ich die rauchige Stimme hinter mir wahrnahm. Während ich gedanklich zurückgeschweift war, hatte ich nicht gehört, wie Zayn hinter mich getreten war. Als ich mich umdrehte, blickte ich in zwei müde Augen. Es war das erste Mal seit dem Schulball, dass ich ihn wiedersah. Ein kleines Lächeln bildete sich auf meinen Lippen.

"Hi."

murmelte ich und blieb zögernd stehen. Es kam mir vor, als wussten wir beide nicht, wie wir uns verhalten sollten. War ein Kuss auf die Wange zu viel? Oder war eine einfache Umarmung doch angemessener? Es fühlte sich an, als wäre aus zwei besten Freunden Fremde geworden. Das zögernde Verhalten führte letztendlich dazu, dass Zayn mit einem kleinen Kopfnicken nach links deutete.

"Wollen wir ein Stück gehen?"

fragte er, woraufhin ich nur nickte. Für eine Weile schlenderten wir einfach nur nebeneinander her. Wir waren alleine. Nur er und ich. Und kein anderer. Eigentlich hätte ich weiterhin sauer auf ihn sein können, doch auch er hatte allen Grund dafür, weswegen es Zeit wurde, alles endgültig zu klären. Ich konnte nicht mehr so weiter leben. Es war zu einem Punkt gekommen, an dem es keinem von uns etwas brachte, vor allem wegzurennen. Wir hatten beide Fehler gemacht. Zayn schien die Intention hinter dem Treffen bereits geahnt zu haben. Mit dem Blick nach unten lief er neben mir den ellenlangen Weg am Fluss entlang.

"Es tut mir leid."

Als er bemerkt hatte, dass ich ihn beobachtet hatte, fand er den Mut, die Stimme zu erheben. Er sah mich immer noch nicht an, doch es machte mir nichts aus. Stattdessen hörte ich ihm einfach nur  zu. Der Wind wehte währenddessen um uns herum. Mit jedem Schritt, den wir machten, verschwanden wir etwas mehr in die auf uns zukommende Dunkelheit. Die Spannung in der Luft, die auf das kommende Gewitter hinwies, brachte mir eine Gänsehaut. Aus Instinkt wollte ich nach der Hand meines besten Freundes greifen, doch ich verbat es mir.

"Ich habe alles falsch gemacht."

Zayn schüttelte leicht den Kopf und strich sich leicht durch die dunklen Haare. Ein schmerzendes Gefühl zog sich durch meine Magengegend. Und doch zwang ich mich, ihn reden zu lassen.

"Ich hätte das alles nie machen dürfen. Mich mit dir zu verstreiten, meine ich. Ich bin Schuld an allem, Rachel. Ich hätte ihn fast umgebracht, nur damit ich der Held in deiner Geschichte bin."

Für ein paar Sekunden blieb er stehen. Mein Herz schlug schmerzhaft gegen meinen Brustkorb. Er schien zu vergessen, dass auch ich alles falsch gemacht hatte.

"Ich konnte es einfach nicht mehr ertragen."

Zum ersten Mal seitdem wir losgegangen waren, trafen sich unsere Blicke. Die braunen Augen zeigten nichts außer tiefe Reue für das, das er getan hatte. Ich musste ein paar Mal die Angst herunterschlucken, bevor ich ohne zitternde Stimme sprechen konnte.

"Was konntest du nicht mehr ertragen?"

flüsterte ich und zwang mich, ihn weiter anzusehen. Zayn atmete tief ein. Seine Augen schlossen sich für einen kurzen Moment.

"Den Gedanken, dich an ihn zu verlieren. Die Angst, dass du mich verlässt. Es ist einfach nur die Angst gewesen, dass du nicht mehr da wärst."

Kaum hatte er den Satz beendet, drehte er sich von mir weg. Ohne zu wissen, wie er aussah, konnte ich sagen, dass er versuchte, die Tränen zurückzuhalten, die sich in seinen Augen gesammelt hatten. Auch bei mir sah es nicht anders aus. Und so standen wir dort. Voneinander abgewandt und beide gebrochen. Während Zayn sich weiter von mir abwandte, versuchte ich mich zu beruhigen. Ich musste es ihm sagen. Es hatte keinen Sinn mehr, es ihm noch zu verschweigen. Es musste sein.+

"Ich liebe ihn."

Eigentlich hatte ich erwartet, dass mir ein Stein vom Herzen fallen würde, doch es geschah nichts. Langsam wandte sich Zayn wieder zu mir um. Ein schwaches Lächeln war auf seinen Lippen zu erkennen. Und wieder konnte ich nicht anders, als wegzusehen. Ich konnte es nicht ertragen, aber es war notwendig gewesen.

"Ich weiß."

Die Zeitschien durch meine Worte angehalten worden zu sein. Wieder fiel es mir schwer, ihm in die Augen zu blicken. Auch wenn er es gewusst hatte, so war es immer noch etwas anderes, es ausgesprochen zu hören. Ich wollte nicht wissen, wie er sich fühlte, allerdings war klar, dass wir uns beide gleich fühlen mussten.

"Rachel, sie mich an."

Die verrauchte Stimme erklang unmittelbar vor mir. Ich tat es nicht. Ich traute mich nicht. Meine Worte hatten ihm das Herz gebrochen und das wussten wir beide. Ich schämte mich dafür - auch, wenn es uns beiden bereits vorher schon klar gewesen war, wie meine Gefühle für Liam waren. Ich zuckte zusammen, als ich zwei Hände an meinen Wangen spürte, die mich zwangen, den Kopf zu heben. Mit Schmerz blickte ich in zwei tränende Augen.

"Ich habe jeden Tag darauf gewartet, hörst du?"

Durchdringend starrten die braunen Augen in meine. Ich konnte nicht anders, als den Kampf gegen die Tränen aufzugeben. Langsam rollten sie über mein Gesicht. Zayn strich sie mit seinem Daumen wieder weg. Im Gegensatz zu mir schien er noch zu kämpfen.

"Jeden Tag habe ich darauf gewartet, dass du sagst, dass du mich auch liebst. Du hast es nie gesagt. Und mit jedem Mal hat es sich angefühlt, als würde etwas in mir sterben. Ich habe die Hoffnung nie aufgegeben. Ich habe immer daran geglaubt, dass etwas aus uns werden könnte. Du und ich, Rachel. Du bist alles, was ich brauche und du bist alles, was ich jemals haben will."

Seine Stirn presste ich an meine. Der Schmerz in meiner Brust artete aus und verteilte sich in meinem ganzen Körper. Es war das Wissen und der Schmerz darüber, dass ich ihn niemals so lieben konnte, wie er mich, der mich zerriss.

"Weißt du, wie es sich anfühlt jemanden sein gesamtes Leben  zu lieben und gleichzeitig zu wissen, dass man für immer alleine damit bleiben wird?"

Langsam schüttelte ich den Kopf. Ich hatte es immer verdrängt. Und jetzt hatte ich ihn endgültig verloren.

Und dann geschah etwas. Zayn sah mich für ein paar Sekunden einfach nur an, bevor er sich zu mir beugte und mich küsste. Fest presste er seine Lippen auf meine. Es kam mir nicht wie ein richtiger Kuss vor. Es war eher eine Probe. Er wollte sich selbst davon überzeugen, dass es so war, wie er befürchtet hatte. Ich wehrte mich nicht gegen ihn. Stattdessen verharrte ich in meiner Position. Nach mehreren Sekunden, die sich in die Länge gezogen hatten, lösten wir uns voneinander.

"Machs gut, Rachel."

Mit dem Handrücken wischte Zayn sich die Tränen weg, die er solange versucht hatte, zu verbergen. Nun standen wir beide da. Der Moment war gekommen. Es war der Moment gekommen, vor dem ich mein ganzes Leben lang gefürchtet hatte. Der Moment des Abschiedes. Langsam trat er zurück. Ich tat nichts dagegen. Der Wind schien mit jeder Sekunde noch eisiger als zuvor zu werden. Erst, als Zayn dabei war, sich umzudrehen, reagierte ich. Schnell griff ich nach seiner Hand und hielt ihn fest. Ehe er sich versehen konnte, hatte ich ihn zu mir gezogen. Schnell presste ich einen letzten Kuss auf seine Lippen. Wir hatten uns beide für etwas entschieden und diese Entscheidungen waren endgültig.

"Ich liebe dich."

Ein schwaches Lächeln bildete sich wieder auf seinem Gesicht. Wir wussten beide wie es gemeint war. Tränen fielen auf den Boden unter mir, als er ein letztes Mal seine Hand hob und mir leicht über die Wange strich. Dann drehte er sich um und war in der Dunkelheit verschwunden.


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