»49. Kapitel
„Pass auf dich auf.“
„Was soll ich hier denn schon großartig machen? Etwa aus dem Fenster springen?“
Lachend schaltete ich den Föhn aus und zog den Stecker aus der Steckdose. Mein Vater sah mich für einen Augenblick lang erschrocken an, bevor ihm klar wurde, dass ich es als einen Scherz gemeint hatte. Nun ebenfalls grinsend wuschelte er mir noch einmal durch die frisch gemachten Haare - wofür er einen tödlichen Blick einkassiert bekam - und drückte mir einen kurzen Kuss auf die Stirn. Dann schnappte er sich seine Zeitung und verließ das Zimmer. Kopfschüttelnd sah ich ihm so lange hinterher, bis die Tür wieder zugefallen war.
Es waren nun schon ein paar Tage vergangen, seitdem ich die Wahrheit über den Brand erfahren hatte. Mein Vater war zwar jeden Tag vorbeigekommen und hatte sich mit mir die Zeit vertrieben, doch ich wartete immer noch vergebens darauf, dass sich Zayn wieder zeigen würde. Schließlich hatten wir noch einige Sachen zu klären. Der erste Aspekt, den ich ihm an den Kopf werfen würde, war die Frage weshalb er mich angelogen und somit auch maßlos enttäuscht hatte. Wieso, fragte ich mich nun schon zum tausendsten Mal selbst, während ich zum Bett humpelte und mich wieder auf das Laken fallen ließ, wieso hat er mir nicht gleich die Wahrheit gesagt? Wäre ich nicht von alleine darauf gekommen, hätte ich Liam damit wahrscheinlich Unrecht getan.
Liam.
Automatisch begann es in meinem ganzen Bauch zu kribbeln, als ich an seinen Namen dachte. Auch mit ihm musste ich noch vieles klären, doch bevor ich dies tun würde, musste ich ihn zuerst ausfindig machen. Schließlich war er zum Zeitpunkt unseren ‚Treffens' gerade auf eine andere Station verlegt worden. Auf welche hatte ich allerdings noch nicht herausgefunden.
Seufzend suchte ich nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher an, der oben in der Ecke des Zimmers hang und nur darauf zu warten schien, endlich wieder benutzt zu werden. Seitdem meine Wunden sich noch mehr gebessert hatten, war ich aus dem Rollstuhl befreit worden und durfte mich seit einem Tag frei bewegen. Zwar schmerzte es weiterhin, wenn ich mich streckte oder bewegte, doch ich ignorierte die kleinen Stiche einfach und konzentrierte mich stattdessen auf das Wesentliche. Schule verpasste ich glücklicherweise auch nicht, da sie erst renoviert werden musste und noch für eine Woche geschlossen blieb. Als ich mich bei meinem behandelnden Arzt erkundigt hatte, wann ich denn endlich wieder nach Hause konnte, hatte er mir nur gesagt, das ich noch mindestens solange in diesem Zimmer verbringen musste, bis das Schlimmste verheilt war. Unmotiviert verfolgte ich solange gelangweilt die Tagesnachrichten, bis es leise an der Tür klopfte.
Zuerst überhörte ich es und schloss für einen kurzen Moment die Augen, als es jedoch etwas lauter an der Tür hämmerte, schreckte ich auf und schaltete den Fernseher auf stumm. Dann rief ich ein kratziges „Herein“ und setzte mich in eine aufrechte Position. Gespannt, wer sich dazu entschlossen hatte mir einen Besuch abzustatten, legte ich den Kopf schief und sah zu, wie die Tür aufschwang und ein mir nur zu bekannter Kopf in dem neu entstandenen Spalt auftauchte.
„Karen?“
Ungläubig kniff ich die Augen zusammen und reckte eine Augenbraue in die Höhe. Unsicher, ob sie die Erlaubnis bekommen hatte den Raum zu betreten, verharrte sie an der Stelle und lächelte mich schief an.
„Darf ich reinkommen?“
fragte sie mit leiser Stimme, woraufhin ich nur eifrig nickte und sofort aufstand. Schnell humpelte ich um das Bett herum, um einen der vollgepackten Stühle frei zu räumen, um ihr eine angemessene Sitzgelegenheit zu bieten, doch ich wurde von einer kleinen Hand abgehalten.
„Warte, ich mache das schon selber. Setz dich mal lieber wieder hin.“
Schon beinahe mit einem diktatorischen Ton in der Stimme, drückte Karen mich behutsam nach hinten, sodass ich wieder auf der weichen Matratze landete. Eingeschüchtert verfolgte ich mit, wie sie den Kleiderhaufen auf den danebenliegenden Tisch platzierte und ihn an mein Bett schob. Dann ließ sie sich darauf nieder und lächelte mich an. Verwirrt erwiderte ich es. Wieso ist sie überhaupt hier, fragte ich mich innerlich und zupfte nervös an meinen Haaren herum, nachdem was alles passiert war müsste sie mich eigentlich mehr alles andere auf der Welt hassen.
„Ich, uhm…habe dir eine Kleinigkeit mitgebracht, ich dachte, du könntest mal etwas anderes außer dieses elende Krankenhausessen vertragen.“
Lächelnd öffnete die kleine Frau ihre beigefarbene Handtasche und zog eine Schachtel heraus. Mit zitternden Fingern hielt sie mir es unter die Nase. Es war eine Packung teurer Pralinen, an der Ecke war eine kleine rote Schleife fein säuberlich auf die Verpackung geklebt worden. „D-Danke, das ist wirklich sehr lieb von Ihnen.“ Stotterte ich verlegen und legte es vorerst auf die Seite. Das nächste, das ich mitbekam, waren zwei Arme, die sich um meinen Oberkörper geschlungen hatten und mich fest an sich drückten. Sichtlich überrumpelt über diese Reaktion, tätschelte ich ein paar Mal ihren Rücken und entfernte mich wieder zurückhaltend.
„D-Danke, das ist wirklich sehr lieb von Ihnen.“
stotterte ich verlegen und legte es vorerst auf die Seite. Das nächste, das ich mitbekam, waren zwei Arme, die sich um meinen Oberkörper geschlungen hatten und mich fest an sich drückten. Sichtlich überrumpelt über diese Reaktion, verkniff ich mir ein schmerzvolles Jammern, da Karen die Narben berührte und somit unbewusst Druck auf diesen ausübte, und tätschelte ein paar Mal ihren Rücken. Als sie mich nach einer gefühlten Ewigkeit wieder losließ, glaubte ich für einen Moment lang, Tränen in den klaren Augen zu erkennen, die mich immer wieder an Liams erinnerten.
„Ich bin so froh darüber, dass es dir gut geht.“
Erleichtert fuhr Karen kurz mit ihrer Hand über meine Wange, die auf der Stelle rot wurde. Obwohl ihr Sohn und ich über die ganzen Jahre hinweg nicht viel miteinander zu tun gehabt hatten, war sie trotzdem wie eine zweite Mutter für mich gewesen. Wenn Liam und ich zusammen fangen gespielt hatten, ich hingefallen war und mir das Knie aufgeschlagen hatte, hatte er mich immer sofort zu seiner Mutter gebracht, die sich anschließend rührend um mich gekümmert hatte. Wenn ich mit einer schlechten Note nach Hause gelaufen war und sie auf dem Weg getroffen hatte, war sie diejenige gewesen, die mich aufgemuntert und motiviert hatte. Erst jetzt bemerkte ich, wie viel ich dieser Frau eigentlich zu verdanken hatte.
„Wie, uhm…geht es Liam?“
Eigentlich hatte ich vorgehabt, so unauffällig wie möglich zu fragen. Dieses Unwissen, keinen blassen Schimmer davon zu haben, wie es ihm in diesem Moment ging, hatte mich in den vergangenen Tagen immer verrückter werden lassen. Dass die Frage mir einfach so aus dem Mund gerutscht war, war eigentlich nicht beabsichtigt gewesen. Als Reaktion auf meine etwas zu laut gestellte Frage erhielt ich ein halbherziges Lächeln. Sofort alarmiert hielt ich den Atem an.
„Es geht ihm gut, also sein Zustand ist stabil, aber…“
Ich bemerkte, wie sich Karens Gesichtsfarbe um einiges erhellte. Nervös und ungeduldig zugleich strich ich mir wieder durch die Haare und begann unruhig an den Spitzen zu zupfen. Mein Blick schien geradezu an den von Karen zu kleben. Am liebsten hätte ich sie an den Schultern gepackt und einmal kräftig durchgeschüttelt, damit sie mir die Information nicht vorenthielt, allerdings schaffte ich es gerade eben noch, es nicht zu tun.
„Aber was?“
Ich fühlte mich, als sei ich der Ohnmacht nahe. Ungeduldig bohrte sich mein Blick in Karens Augen und brachte sie automatisch dazu, verunsichert auszuweichen und auf ihre Hände zu blicken, die gefaltet in ihrem Schoß lagen.
„Nun ja, er…muss dem Anschein nach ein schweres Stück Holz oder ähnliches gegen den Kopf bekommen haben, weswegen er ein Schädel-Hirn Trauma erlitten hat und-er ist seit der Verlegung auf eine andere Station nicht mehr aufgewacht.“
Und ich schwörte, dass genau in diesem Moment mein Herz stehenblieb. Meine Augen weiteten sich. Ungläubig schüttelte ich den Kopf und lachte bitter auf.
„Und jetzt noch einmal die Wahrheit.“
„Das ist die Wahrheit, Schatz.“
Unwirklich ließ ich mich zurückfallen und starrte an die weißgestrichene Zimmerdecke. Sie lügt, redete ich mir selbst ein, sie lügt dich an. Liam ist längst wieder aufgewacht und liegt nicht im Koma. Nein. Doch je mehr ich es mir einredete, desto stärker wurde mir bewusst, dass es nicht so war. Unwirklich schaltete ich alles um mich herum ab, setzte mich in den Schneidersitz und vergrub mein Gesicht in den Händen. Das durfte einfach nicht wahr sein. Ich hatte schon einmal in meinem Leben einen Menschen verloren, der zuvor im Koma gelegen hatte. Meine Großmutter war damals die Treppe heruntergestürzt und war mit einem schweren Schädel-Hirn Trauma ins Krankenhaus gekommen. Zuerst war sie noch bei Verstand gewesen und hatte sich mit mir unterhalten können, dann aber, fiel sie in ein Koma und wachte nie wieder daraus auf. Ihr Tod war plötzlich und vollkommen unvorhergesehen gekommen. Das erklärte vielleicht auch, weswegen mir gerade so dermaßen schlecht wurde, sodass sich vor meinem geistigen Auge alles zu drehen begann.
„Hey….Ist alles in Ordnung?“
Besorgt strichen Finger über meinen Handrücken und rissen mich wieder aus dem tiefen nichts, in dem ich mich befunden hatte. Mit zusammengepressten Lippen schaute ich wieder auf und blickte geradewegs in Karens besorgtes Gesicht. Es war nicht schwer ihr anzusehen, dass es ihr nicht anders ging, doch im Gegensatz zu mir konnte sie es besser überspielen.
„Es ist alles meine Schuld.“
Gedankenverloren starrte ich auf eine der unzähligen Brandwunden auf dem Arm und setzte alles daran, die brennenden Tränen zurückzuhalten, die sich ihren Weg in meine Augen bahnten und drohten, gnadenlos herauszulaufen. Ehe Karen sie bemerken konnte, wischte ich sie flüchtig mit dem Daumen weg und atmete anschließend einmal tief durch.
„Wieso bin ich bloß nach unserem Streit einfach abgehauen?“
flüsterte ich gerade mal so laut, dass nur ich es verstehen konnte, und beobachtete, wie Karen mich mitleidig ansah. Die andauernde Sorge um ihren Sohn hatte sich bemerkbar gemacht. Tiefe Schatten zeichneten sich unter den müden Augen ab und verrieten mir, dass sie in den ganzen letzten Tagen nicht viel geschlafen hatte. Genauso wie ich.
„Ich hätte es verhindern können.“
„Nein, das hättest du nicht.“
Mit leiser Stimme unterbrach Karen mich ernst. Als ich ihren Blick sah, wurde mir wieder übel. Ich wollte mich übergeben, doch ich konnte bereits ahnen, dass nichts herauskommen würde. Es war dieses Gefühl, welches die Schmerzen verursachte. Dieses Gefühl der Reue und des unerträglichen Schmerzes. Schnell wandte ich mein Gesicht von ihr ab, um sie nicht mit ansehen zu lassen, wie ich ein paar Tränen freien Lauf ließ. Würde Liam wegen mir den Tod finden, würde ich es mir nie verzeihen können. Niemals.
„Du hättest es nicht verhindern können, Rachel. Hörst du?“
Die Matratze neben mir wölbte sich ein wenig nach unten. Aus Instinkt schlich mein Fokus zu der Stelle und entdeckte Karen, die sich neben mir niedergelassen hatte. Mit einem Ausdruck im Gesicht, den ich noch nie bei ihr gesehen hatte, musterte sie mich durchdringend.
„Keiner, aber auch wirklich keiner hätte ihn davon abhalten können, dich zu retten.“
Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte ich gesehen zu haben, wie sich der Anfang eines kleinen Lächelns auf den geschwungen Lippen zeigte. Doch ehe ich genauer hinsehen konnte, war es wieder verschwunden.
„Verstehst du nicht? Er wäre für keinen anderen zurückgerannt und hätte alles dafür gegeben ihn da rauszuholen. Er hat genau gewusst, auf was für ein Risiko er sich da eingelassen hat.“
Bedeutend nahm Karen meine Hand und tätschelte sie sorgfältig. Durch ihre Worte angeregt, blies ich etwas Luft aus dem Mund und ließ den heftigen Puls somit wieder etwas herunterfahren. Allerdings fuhr er wieder in die Höhe, als mein Gegenüber, ohne groß darüber nachzudenken, weitersprach.
„Ehrlich gesagt, hat es mich nicht wirklich gewundert, als ich erfahren habe, was passiert ist. Die ganzen Jahre über habe ich nie verstanden, wieso Liam so wegen deiner Freundschaft zu Zayn so verzweifelt mit sich selbst gekämpft hat.“
Karens Worte ließen das Verlangen aus dem Zimmer zu rennen, Liams zu finden, hereinzustürzen und ihn zu küssen, egal, ob er bei Bewusstsein war oder nicht, tief in mir auf flammen. Schnell verwarf ich den Gedanken wieder und konzentrierte mich auf das Wesentliche. Die Frau, die mir mit einem harmlosen Satz nun endgültig die Augen geöffnet hatte, erhob sich wieder und lief leise murmelnd durch das Zimmer. Gespannt lauschte ich ihren Worten.
„Weißt du, es war so schön mit anzusehen, wie glücklich Liam war, als ihr zwei noch befreundet wart.“
murmelte sie, dem glasigen Blick nach zu urteilen, schien sie in Gedanken zu schwelgen. Unwillkürlich tauchte die Erinnerung an unseren ersten „Kuss“ vor meinem geistigen Auge auf. Ein trauriges Lächeln bildete sich auf meinem Gesicht, als ich mich daran zurückerinnerte. Karen steckte ihre Hände in die Jackentaschen, um das leichte Zittern zu verhindern und zu verstecken. Ohne mich anzusehen, fuhr sie fort.
„Ich weiß nicht, warum ihr dann nichts mehr miteinander zu tun hattet. Liam hat sehr darunter gelitten, du bedeutest ihm wirklich etwas, Rachel. Wirklich.“
Es verging keine einzige Sekunde, ehe sie weitersprach. Es erschien mir so, als erzählte sie mir sämtliche Erinnerungen, die mit Liam und mir zusammenhing. Ich wagte es mich nicht, sie zu unterbrechen.
„Einmal haben Liam und ich Zayn und seine Mutter beim einkaufen getroffen. Dein Freund trug eine Lederjacke und hatte sich gerade erst die Haare neu schneiden lassen. Kaum hatte ich mich von ihnen verabschiedet, zwang Liam mich geradezu dazu, ihm haargenau dieselbe zu kaufen. Ein Tag später kam er mit derselben Frisur nach Hause. Ich glaube, du denkst, dass ich dich anlüge, wenn ich dir sage, dass solche Situationen über Jahre hinweg immer wieder passiert sind.“
Abwesend fuhr sich Karen rasch durch die Haare und wechselte meine Sicht auf ihren Rücken wieder zu ihrem Gesicht aus. Mit wild klopfendem Herzen verfolgte ich mit, wie sich zu mir herüber schritt und streckte ihre Hand nach mir aus.
„Komm.“
meinte sie mit einem halben Lächeln, während ich mich von ihr hochziehen ließ. Als ich sie fragend ansah, zog sie nur die Tür auf und schob mich vorsichtig nach draußen. Planlos folgte ich ihr auf den wenig belebten Flur hinaus.
„Wir sollten Liam nun endlich mal einen Besuch abstatten. Du siehst schon die ganze Zeit so aus, als hättest du nur darauf gewartet.“
*
Der Weg zu dem Zimmer, nach dem ich vergeblich gesucht hatte, war gar nicht so weit entfernt von meinem gewesen, wie ich vorerst angenommen hatte. Ich konnte den verblüfften Ausdruck auf meinem Gesicht geradezu spüren, als wir durch zwei Gänge liefen und um eine Ecke bogen. Karen warf mir einen vielsagenden Blick zu, als sie ohne zu klopfen die Tür öffnete und eintritt. Leicht humpelnd tat ich es ihr gleich und schloss die schwere Tür wieder hinter mir. Sofort stiefelte Karen an die Seite des Bettes, wodurch sie mir freie Sicht auf die darin liegende Person gab.
Schrecken und ungeheuerlich viele Schuldgefühle durchströmten jede einzelne Ader meines Körpers, während ich den leblosen und schwerverletzten Körper betrachtete. Nur vorsichtig trat ich auf die andere Seite des Bettes und wagte mich nicht, Karen dabei zu stören, wie sie sich zu Liam herunterbeugte und ihm einen liebevollen Kuss auf die Stirn presste. Dann strich sie ihm ein paar Mal sanft über die Wange und betrachtete ihn schweigend.
„Der Arzt meinte heute, dass sich sein Zustand verschlechtert hat.“
informierte sie mich leise und dachte nicht auch nur einmal daran, den Blick von ihrem ein und alles abzuwenden. Mit zusammengeballten Händen zwang ich mich, auf ihn hinabzusehen. Und das, was sich mir dort offenbarte, trieb mir erneut heiße Tränen in die Augen.
Liams Gesicht war so gut wie unverletzt, ein paar unscheinbare Flecken sowie der unerklärliche dunkelblaue Fleck an seiner Schläfe zierten seine Gesichtszüge. Ich schluckte schnell den großen Kloß in meinem Hals herunter, ehe meine Augen über die restlichen Gliedmaßen glitten. Glücklicherweise stellte ich schnell fest, dass ebenfalls Tücher auf seinen Armen und Beinen fein säuberlich gelegt worden waren, woraus ich sofort schloss, dass es ihn nur ein wenig schlimmer als mich getroffen hatte. Okay, gestand ich mir selbst ein, als ich ihn noch einmal insgesamt ansah, er sieht etwa noch zehnmal schlimmer aus wie du.
„Schatz?“
Karens bebende Stimme brachte mich wieder aus meinen Überlegungen und ließ mich zusammenzucken. Augenblicklich fuhr mein Kopf hoch. Ich entdeckte sie am Türrahmen stehend.
„Ich lasse dich für ein paar Minuten alleine, um seinen behandelten Arzt zu suchen. Wir müssen noch…ein paar Sachen klären.“
Mit diesen Worten huschte sie aus meinem Sichtfeld und ließ die Tür hinter sich geräuschlos ins Schloss fallen. Konsterniert starrte ich noch für einen Moment auf die Stelle, wo sie verschwunden war, ehe ich mich wieder zu Liam herumdrehte und mich vorsichtig auf die Bettkante setzte. Die folgenden Minuten verbrachte ich damit, ihn wehmütig und kommentarlos zu beobachten. Insgeheim wusste ich nicht, wie lange ich dort eigentlich saß und unentwegt das perfekte Gesicht fokussierte. Es herrschte eine komplette Stille in dem viel zu kleinen und mit Geräten - die leise vor sich hin ratterten und piepende Laute von sich gaben – Raum. Das einzige, auf das ich allerdings achtete, war der regelmäßige Atem, den Liam in den Schlauch atmete, der in seinem Mund steckte und an einem blauen Kasten angeschlossen war.
Nach einer gefühlten Ewigkeit bekam ich mit, wie sich meine Hand von dem Saum meines Hemdes löste und wie in Zeitlupe über die gestreifte Bettdecke kroch. Irgendwann fühlte ich, wie sich meine Finger mit Liams kalten verschränkten. So vorsichtig, dass ich ihn kaum berührte, fing ich an, über sie zu streichen.
„Wieso blamierst du mich erst vor der gesamten Schule und begibst dich dann für mich in Lebensgefahr?“
Ich erwartete nicht eine Antwort zu bekommen. Und trotzdem glitt die bisher unausgesprochene Frage aus meinem Mund und ließ mich leise aufschluchzen. Ich sah keinen Sinn mehr darin, meine Emotionen jetzt noch zurückzuhalten. Schließlich konnte diese Begegnung meine letzte mit ihm sein. Mit Liam. Den Jungen, der mir schon immer wichtig gewesen war. Auch wenn ich das jetzt erst begriffen hatte.
„Kannst du dich noch daran erinnern, wie du mir das Angebot gemacht hast?“
Flüsternd fuhr meine andere Hand zu seinem Gesicht. Zärtlich fuhr ich durch die dichten braunen Haare und schloss für einen Moment die Augen. Dann redete ich noch leiser wie zuvor weiter.
„Ich wünschte, ich hätte es nie angenommen. Weißt du auch wieso?“
Ein Schwall von Tränen fuhr über meine Wangen und hinterließ brennende rote Streifen auf meiner Haut. Ich hielt mir kurz die Hand vor den Mund, um einen kleinen Schluchzer zu unterdrücken. Dann platzierte ich sie wieder auf ihre vorherige Position und übte weiter zärtliche Berührungen aus. Ich konnte die folgenden Worte nicht aussprechen, ohne weitere Tropfen auf sein Gesicht fallen zu lassen.
„Weil du mir – nein uns – keine Möglichkeit dazu gegeben hast, uns unter normalen Umständen näher zu kommen. Denn ich wollte die ganze Zeit nichts anderes, als dich küssen zu können.“
Unmerklich näherte ich mich seinem Gesicht. Es blieb weiterhin unverändert.
„Ich wünschte, wir könnten die Zeit zurückdrehen und noch einmal von vorne beginnen. Nur du und ich.“
Mit verschwommener Sicht schob ich den dünnen Schlauch in seinem Mund etwas zur Seite. Dann tat ich etwas, was ich bereits schon einmal getan und es nicht bereut hatte; ich küsste ihn. Es war ein Kuss, welcher für alles stand, dass ich zu diesem Zeitpunkt fühlte. Es war ein Kuss von Liebe. Freundschaft. Angst. Verzweiflung. Und ein letzter Abschied.
Viel zu schnell löste ich mich wieder von ihm und wischte mir die restlichen Tränen aus den Augenwinkeln. Hoffnung, dass es nicht das letzte Mal gewesen war, dass ich ihn gesehen hatte, sah ich auf unsere verschränkten Hände und drückte sie leicht. Innerlich hoffte ich, dass Liam sie auch drücken wurde und mir somit signalisieren würde, dass es nicht so sein würde, doch es kam nichts. Ich tat nichts dagegen, als die Trauer wieder Überhand über mich gewann und mich dazu brachte, zusammenzubrechen.
„Ich liebe dich, Liam.“
hauchte ich wimmernd und biss mir heftig auf die Unterlippe, um ein weiteres Schluchzen zu unterlassen. Ich sah ein letztes Mal auf sein wunderschönes Gesicht und wollte mich erheben, damit ich zu meinem Zimmer zurückkehren konnte, um den Schmerz dort alleine auszulassen, als das undenkbare geschah; seine Hand drückte meine.
Erschreckt blickte ich auf und suchte wieder sein Gesicht. In dem Moment, wo ich hinsah, öffneten sich seine Augen und ließen das braun zum Vorschein bringen. Es dauerte keine Sekunde, bis es auf mir landete und unsere Blicke miteinander verband. Mein Herz schlug so heftig gegen den Brustkorb, das es anfing zu schmerzen.
„Du…“
Liam brachte mich dazu den geflüsterten Satz abzubrechen, als seine Augen von mir abließen und etwas hinter mir fixierten. Augenblicklich folgte ich der Spur, die er mir gegeben hatte, und fuhr herum. Das nächste, das ich mitbekam, war, wie sich mein Magen einmal komplett herumdrehte. Ich brauchte nicht einmal groß darüber nachzudenken, um die Person, die mit einem Strauß Blumen im Türrahmen stand und mich anstarrte, zu erkennen.
Zayn.
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