»48. Kapitel
Es war unglaublich schwer zwischen den Massen von Schülern durchzukommen. Und trotzdem gab Liam sein Bestes und kämpfte sich mitten durch ihre Mitte. Zu seinem Glück schien es niemanden zu interessieren, weshalb er haargenau in die Richtung rannte, aus der die Gefahr zu kommen schien. Mühevoll erreichte er die Männertoiletten. Mit einem schnellen Seitensprung huschte er hinein und quetschte sich in eine der Kabinen. Es war kein Wunder, dass sie alle leer waren.
Damit ihn keiner entdecken konnte, lehnte er die Tür an - schloss sie allerdings nicht ab, damit keinem auffiel, das er sich darin befand - und hockte sich auf den Klodeckel, damit niemand seine Füße sah. Erst, wenn alle Schüler und Lehrer das Gebäude geräumt hatten, würde er sich weiter auf die Suche machen. Schließlich wollte er das Risiko erwischt zu werden nicht eingehen.
Mit wild klopfendem Herzen hörte Liam angestrengt zu, wie die unzähligen Schritte immer mehr verklangen. Mit abgeflachtem Atem biss er sich kräftig auf die Unterlippe, um keinen Ton von sich zu geben, als er die Stimme eines Lehrers hörte, der hektisch in den Raum geeilt kam und laut und deutlich fragte, ob sich jemand noch in den Kabinen aufhielt. Nachdem er keine Antwort erhalten hatte, gab er ein geflüstertes „Gott sei Dank" von sich und verschwand wieder im Gang.
Erleichtert drückte Liam die Tür auf und kletterte schnell von der Toilette herunter. Wenn er mit seinen Gedankengängen richtig lag, dann musste das gesamte Schulgebäude inzwischen komplett geräumt worden sein. Innerlich hoffte er weiterhin, dass es sich nur um einen Probealarm handeln würde und Rachel in Sicherheit war.
Vielleicht ist sie auch schon draußen bei den anderen, überlegte er, während er vorsichtig auf den menschenleeren Gang lugte um zu prüfen, ob die Luft wirklich rein war. Doch im Unterbewusstsein wusste er einfach, das er sich selbst anlog. Er redete es sich selbst ein, mit dem Zweck, sich selbst zu beruhigen.
„Bitte sei draußen, Rachel.“
flüsterte sich der braunhaarige immer wieder selbst zu, als er den Gang entlang schritt, der bis vor nicht einmal fünf Minuten noch rappelvoll gewesen war.
„Bitte sei in Sicherheit.“
Wenn ihr etwas passieren würde, würde Liam es sich nie verzeihen. Ihm war bewusst, dass er sich vieles bei ihr verscherzt hatte, doch allein schon der Gedanke, dass wenn sie wegen ihm sich etwas antun würde, brach ihm beinahe das Herz. Obwohl sich sein Verstand dagegen sträubte, musste er sich eingestehen, dass er sie lieber mochte, als ihm überhaupt lieb war. Und das war etwas, was Angst und gleichzeitig Glück in ihm freisetzte.
Nervös huschte Liam um eine Ecke. Nun hatte er genau die Stelle erreicht, an der er sie das letzte Mal gesehen hatte. Mit in Falten gelegter Stirn rief er sich wieder ins Gedächtnis, wohin genau er das Mädchen, das ihm ganz schön den Kopf verdrehte, verschwunden war. Geradeaus.
So schnell er konnte, rannte er den Gang entlang. Eigentlich wäre er innerhalb von Sekunden am anderen Ende angekommen, wäre er nicht auf der glitschigen Spur am Boden ausgerutscht. Ein erschreckter Laut entwich seiner Kehle, als er erst ein paar Meter rutschte, bevor er letztendlich nach hinten knallte und hart mit dem Kopf aufschlug.
„Scheiße.“
Sofort sprang er wieder auf. Er durfte keine Zeit verlieren. Wenn eine ernsthafte Gefahr bestand, zählte jede einzige Sekunde. Mit zusammengebissenen Zähnen rieb sich Liam kurz über die schmerzende Stelle am Hinterkopf. Zu seinem Glück handelte es sich nicht um Blut. Dafür erkannte er die durchsichtige Flüssigkeit, die auf der Haut etwas brannte, sofort. Übervorsichtig führte Liam zwei Finger zu seiner Nase und roch leicht daran. Sofort drang der unerkennbare Geruch von Benzin in seine Atemwege. Mit weit aufgerissenen Augen wischte er sie an seiner Hose ab, die - so wie der Rest seiner Kleidung - nur ein wenig mit der ätzenden Flüssigkeit vollgesogen war, ab. Dann folgte er blindlings der Spur, allerdings mit einem unguten Gefühl in der Magengegend; es handelte sich um einen Ernstfall. Und es war alles seine Schuld.
*
Verzweifelt erreichte Liam die letzte Stufe der Treppe. Er war der Spur, die ihn durch das ganze Gebäude geführt hatte, bis zu diesem Punkt gefolgt. Atemlos hetzte er um eine Ecke und blieb augenblicklich wie festgewurzelt stehen. Denn das, das er dort sah, drehte ihm wahrlich den Magen um.
Ein Berg von Benzinkanister, die meisten schienen bereits auf dem Weg geleert worden zu sein, sowie noch volle, türmte sie unmittelbar vor ihm auf. Und er brannte lichterloh. Liams Herz rutschte tief in seine Hose. Erst jetzt fiel ihm auf, das er sich in dem Gang befand, in dem Rachel sich aufhalten musste, denn während seines ungewollten Rundganges, schien die Person, die für das alles verantwortlich war, den Brand an dieser Stelle entzündet haben. Mit Panik in den Augen konnte er beobachten, wie ein Funken übersprang und die Spur, die er bis zu diesem Moment noch als Hilfsmittel angesehen hatte, mit einem wilden Flackern ebenfalls in Brand gesetzt wurde. Er schaffte er gerade noch zur Seite zu springen, als die Spur neben ihm zischend in Flammen aufging.
„Oh nein.“
Liam wusste, dass er an dem Haufen vorbei musste. Er wollte die Mädchentoiletten erreichen, die sich hinter der Wand aus Feuer befanden, da er schätzte, dass Rachel sich dort verbarrikadiert hatte
Ohne groß darüber nachzudenken, nahm er Anlauf und sprang zwischen einem Spalt durch, der sich zwischen der Wand und dem Feuer gebildet hatte. Zuerst froh darüber, dass er heil war, atmete er beruhigt aus, zuckte in der nächsten Sekunde jedoch wieder zusammen, als er eine unerträgliche Hitze an seinem Rücken verspürte. Wie ein Verrückter riss er sich das Hemd vom Leib und warf es von sich weg.
Erschreckt sah er zu, wie sein neu gekauftes Hemd in Flammen aufging. Doch ihm blieb keine Zeit, um den einfachen Fetzen Stoff nachzutrauern, wenn er wusste, dass das Leben des Menschen, der ihm viel zu viel bedeutete, auf dem Spiel stand. Rasch zog er sich sein Tank Top, welches er darunter getragen hatte, etwas herunter und rannte den Gang weiter entlang. Den anschwellenden Geruch von Rauch versuchte er währenddessen mit wild fuchtelnden Händen von seinem Gesicht zu halten.
„Rachel? Rachel, bist du hier irgendwo? Antworte mir, wenn du mich hören kannst!“
Es blieb still. Die einzigen Geräusche, die durch den brennenden Flur hallten, waren das Echo der tiefen Stimme und das beunruhigend laute Knistern des Feuers. Liam gab die Hoffnung nicht auf. Zunehmend hustend, klopfte und rüttelte er an jeder Tür, die er sah. Die Hitze um ihn herum wurde langsam aber sicher unerträglich. Vollkommen fertig wischte er sich den Schweiß und die leichte Rußschicht vom Gesicht und hielt sich den Ausschnitt seines Hemdes vor den Mund, um sich von dem schlimmsten zu bewahren.
„Rachel, bitte sage doch irgendwas.“
Flehend und bereits schon etwas geschwächt, glitt Liam an der Wand entlang. Er wollte gerade an der nächsten Tür rütteln und wieder rufen, als er plötzlich etwas hörte.
„HILFE! ICH BIN HIER!“
Sein Herz blieb für den Bruchteil einer Sekunde stehen. Dann fing es an, schmerzhaft gegen seinen Brustkorb zu hämmern. Das Gefühl, das er verspürte, war nicht mehr als Glück oder Erleichterung zu bezeichnen. Nachdem er für ein paar Sekunden wie erstarrt zwischen den Flammen gestanden hatte, hetzte er in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war.
Liam orientierte sich an dem merkwürdigen Knallen und Krachen, welches immer wieder sein Ohr erreichte. Verwirrt, was es sein könnte, rannte er weiter – je mehr Sauerstoff er verbrauchte, desto mehr wurde im schwindelig – und schlug sich den Weg durch die Rauchschwaden.
Am Rande der Verzweiflung bog der braunhaarige ein letztes Mal um eine Ecke. Dadurch, dass die Schule so unglaublich verwinkelt war, dachte er kritisch darüber nach, mit welchem Weg er sie wieder aus dieser Hölle herausbringen würde.
Trotz der Lebensgefahr, in der er sich momentan befand, konnte Liam nicht anders, als kurz zu lächeln. Eine Leiter lag quer über dem Flur, ein Loch in der Tür davor verriet ihm, dass Rachel sich darin befinden musste. So wie es aussah, hatte sie wohl versucht, sich selbst zu befreien. Und in diesem Moment verspürte er eine Kraft, die er noch nie verspürt hatte. Obwohl der dicke Rauch nicht zuließ, das er sonderlich gut sehen geschweige denn atmen konnte, rannte er auf die Tür zu und trat sie mit aller Wucht ein. Dann sah er sie.
„Rachel!“
Schnell humpelte Liam in den Raum und beugte sich zu ihr herunter. Tränen vor Glück, aber auch vor Schmerz traten ihm in die Augen, als er sah, wie rußverschmiert und zerbrechlich ihr Körper vor ihm lag. Ihre Augen waren geöffnet, allerdings schien sie es nicht mitzubekommen. Damit keine Zeit verloren ging, ließ er sich neben sie fallen und schlang seine Arme um ihren Oberkörper. Trotz der nachlassenden Kraft, zog er sie soweit er es schaffte, aus dem Raum hinaus. Der Wille, sie zu retten wuchs stetig an, während seine Energie rasant nach unten wanderte.
„Ich bringe uns hier heraus, versprochen.“
Sanft redete Liam auf Rachel ein. Ihre Augen huschten wild umher, ihr Körper sog immer mehr giftige Luft ein. Sie waren offen und doch nahmen sie ihn nicht wahr.
„Ich…“
Ein heftiges Keuchen entfuhr ihm, als er letztendlich auf ihr zusammenbrach. Damit sie nicht weiter verletzt wurde, legte Liam sich schützend auf sie. Er hatte die Wunden an den dünnen Armen und Beinen schon bemerkt. Der Stoff ihrer Jacke war an manchen Stellen bereits schon mit der Haut verschmolzen. Doch Liam beschloss sich, die Schmerzen, die für sie bestimmt waren, auf sich zu nehmen. Sanft presste er seine Lippen auf ihren Mundwinkel. Er hatte keine Kraft mehr, ihre Lippen zu erreichen. Rachels Augen fielen wie in Zeitlupe zu.
„Wir schaffen das schon. Bitte mache deine Augen auf. Ich…I-Ich brauche dich doch.“
Die eigentlich starke Stimme hatte sich zu einem Raunen entwickelt. Die Hitze, die die beiden gefangen hielt, war unerträglich. Liam sah mit halb geschlossenen auf ihre, in der Hoffnung, dass sie sich wieder öffnen würden, damit er ein letztes Mal in sie sehen könnte. Doch es geschah nichts. Mit Tränen in den Augen beschloss Liam sich zu endgültig von dem Mädchen zu verabschieden, welches er sein ganzes Leben lang begehrt und nie bekommen hatte. Zart nahm er die kleine Hand in seine und verschränkte ihre Finger miteinander.
„Ich liebe dich, Rachel Hudson. Ich liebe dich.“
Dann brach er auf ihr zusammen. Er war noch beim Verstand, doch die Trauer um sie brachte ihn dazu, zu weinen. Klagend zwang er sich noch bei Sinnen zu bleiben, um da zu sein, falls sie wieder zu Bewusstsein kommen würde. Doch insgeheim war ihm klar, dass dies nicht mehr geschehen würde.
Leise flüsterte er immer und immer wieder ihren Namen. Dabei bemerkte er nicht die zweite Person, die sich mit einem Schal um den Mund gewickelt den beiden näherte. So kam es, das Liam das Stück schweres Holz, aus den Bruchstücken der Tür, ebenfalls nicht realisierte. Sein Fokus lag auf dem wunderschönen Mädchen unter ihm.
„Das war’s, du Dreckskerl. Zeit für ein Payback.“
Erst im letzten Moment drehte sich Liam herum und sah in das Gesicht von keinem anderen als das von Zayn. Er öffnete seinen Mund, um ihn zu bitten, ihm zu helfen, als dieser ausholte und ihm mit aller Kraft gegen die Schläfe schlug. Sofort rutschte Liam bewusstlos auf den Boden.
Alarmiert warf Zayn das Stück Holz weg und kniete sich zu Rachel herunter. Schnell packte er sie und hob sie hoch. Dann sah er ein letztes Mal auf die Person herunter, die versucht hatte, seiner besten Freundin das Leben zu retten. Innerlich schmerzte es ihm zu sehen, was er dort gerade getan hatte, doch er hatte sich nur an ihm gerächt. Denn das, das er ihm damals angetan hatte, war nicht weniger schlimm gewesen.
„Es tut mir leid. Es tut mir so leid.“
Mit diesen Worten drehte er sich herum und verschwand mit Rachel in den Armen nach draußen. Allerdings nicht, ohne noch einmal auf Liam zurück zu schauen, dessen Leben von den tödlichen Flammen immer mehr verklang.
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