»40. Kapitel

Es war ein Gefühl, welches ich in meinem bisherigen Leben noch nie gespürt hatte.

Ein Kribbeln fuhr genau in der Sekunde durch meine Lippen, als meine schüchtern seine berührten. Ich wollte nicht zu aufdringlich wirken, doch gleichzeitig wollte ich mehr. Ich wollte ihn. Nur ihn. Und keinen anderen.

Es war wirklich bedauernswert, das ich ein ganzes Leben benötigt hatte, um zu realisieren, dass ich ihn schon immer gewollt hatte.

Doch genau in dem Moment, wo mir dieses Verlangen durch meinen Körper fuhr und mich gleichzeitig verrückt machte, passierte das undenkbare.

Liam wandte sich von mir ab.

„Rachel, ich-"

Ehe ich auch nur ansatzweise die Chance hatte zu reagieren, drehte sich der Junge, dem ich gerade indirekt etwas Wichtiges gestanden hatte, von mir weg und stand auf. Schnell flüchtete er auf die andere Seite des Raumes.

„Habe ich etwas falsch gemacht?"

Verunsichert durch sein Verschwinden steckte ich mir eine getrocknete Haarsträhne hinter mein Ohr, um seinen Blick zu meiden. Eigentlich hatte ich das alles bis gerade eben noch für richtig gehalten, doch Liams erschrockene Reaktion verunsicherte mich zu sehr.

Ich sah stumm auf den mit Müll übersäten Boden vor mir, während ich aus den Augenwinkeln beobachtete, wie mein Gegenüber anfing von links nach rechts zu laufen.

„Nein, du hast nic- Doch- nei-"

Vergeblich versuchte Liam mir eine Antwort auf die Frage zu geben, von der ich eigentlich angenommen hatte, das sie einfach zu beantworten wäre, doch es kam nichts. Stattdessen verfolgte ich nervös mit, wie er seine Haare raufte und dann stehenblieb.

„Du...Du hast mich geküsst!"

rief er letz endlich und starrte mich an. Ich versuchte die Emotionen, die sich in seinem Gesicht wiederspiegelten, zu erfassen, doch sie wechselten so schnell, dass ich keine einzige entschlüsseln konnte.

„Ich...uhm..."

Was sollte ich auf so eine Frage nur antworten? Jeder andere Mensch hätte in meiner jetzigen Situation augenblicklich und ohne es zu bereuen mit einem klaren ja geantwortet. Doch meiner Meinung nach war es nicht einmal ein richtiger Kuss gewesen. Dafür war er zu kurz gewesen.

„Du-hast mich nicht geküsst. Nein. Das habe ich mir nur eingebildet."

Heftig nickend lehnte Liam sich gegen den morschen Holzschreibtisch hinter sich, seine Augen fixierten mich immer noch. Die Überzeugung in seinen Augen verletzte mich auf eine Art und Weise, die ich vorher noch nie verspürt hatte.

Damit er mir die Enttäuschung über sein abweisenden Verhaltens nicht entdecken konnte, neigte ich den Kopf zur Seite und stützte meinen Kopf auf meinen Ellbogen ab, wodurch mein Gesicht geschickt mit meinen Haaren verdeckt wurde.

„Sie hat es nicht getan."

hörte ich die tiefe Stimme nur noch leise vor sich hin flüstern, während ich überlegte, wie das alles hier nun weiter gehen würde.

„Nein. Sie hat es nicht getan."

Die nächsten Sekunden entwickelten sich zu den unangenehmsten, die ich jemals mit ihm verbracht hatte. Wir saßen uns gegenüber und schwiegen uns an. Liam hatte aufgehört sich selbst zu beruhigen und zu sagen, dass die letzten Minuten überhaupt nicht stattgefunden hatten (was mir beinahe noch mehr schmerzte, als ihm) und saß nun gegen den Tisch gelehnt.

Ich wusste nicht einmal, ob er mich ansah. Um das zu überprüfen fehlte mir der Mumm.

*

Es war nun schon beinahe eine Viertelstunde vergangen (ich hatte die Minuten mitgezählt, um mich selbst etwas abzulenken) und keiner von uns beiden hatte auch nur ein einziges Wort mit dem anderen gewechselt.

Am liebsten wäre ich einfach nur aufgestanden und verschwunden. Normalerweise wäre das meine eigentlich Lösung für das Problem gewesen, doch ich würde dieses Mal nicht einfach so davon laufen. Dafür erschien mir die Situation einfach zu wichtig.

Neben dem Wunsch einfach davonzulaufen, verspürte ich den aufkommenden Drang aufzustehen, auf ihn zuzugehen, mich zu ihm hoch zu strecken und meine Lippen einfach nur auf seine zu pressen. Ich wollte, dass er mich in den Arm nahm und mir sagte, dass es ab jetzt nur noch ihn und mich geben würde.

Ich war selbst überrascht was für kitschige und klischeegetränkte Wünsche ich hatte, doch es war mir momentan alles egal.

Mit allem Mut, die ich aufbringen konnte, hob ich meinen Kopf an und sah geradewegs in die braunen Augen von Liam. Er hatte mich wohl die ganzen fünfzehn Minuten lang mit schiefgelegten Kopf betrachtet.

„Wieso?"

fragte ich und stand auf, einerseits um den Willen jetzt alles zu regeln zu verdeutlichen, andererseits um mich vor weiteren Rückenschmerzen zu bewahren, die das alte Sofa hervorgerufen hatte.

Fest entschlossen, jedoch mit wild pochendem Herzen schritt ich auf Liam zu und stoppte erst, als ich genau vor ihm stand.

„Wieso was?"

fragte dieser sichtlich verwirrt und sah zu mir herunter. Im Gegensatz zu mir schien er sich kein bisschen beruhigt zu haben, denn seine Stimme klang höher als gewohnt.

„Wieso hast du nur so reagiert?"

„Wie habe ich denn deiner Meinung nach reagiert?"

Verblüfft über seine Schlagfertigkeit suchte ich schnell nach richtigen Worten. Wie soll ich das denn jetzt in die richtigen Worte fassen, dachte ich mir und legte die Stirn in Falten. Wie wäre es mit: Hey, ich liebe dich und habe dich deswegen geküsst, aber was soll's, es sind ja nur meine Gefühle, die du da gerade mit deiner abweisenden Haltung verletzt, riet mir mein Gewissen, doch ich war mir sofort sicher, dass ich das so sicher nicht sagen würde.

„Ich...Ich habe dich gerade geküsst und du redest dir ein, dass da gerade nichts gewesen wäre."

präsentierte ich ihn letz endlich und sah mit an, wie sich seine Pupillen weiteten.

„Wieso sagst du so etwas?"

fuhr ich flüsternd fort und leckte mir nervös über die Unterlippe. Dieses Mal war ich diejenige, die in eine andere Richtung schaute.

„Weißt du eigentlich, wie sehr du mich damit gerade verletzt?"

Schon fast so leise, das ich mich fast selbst nicht mehr richtig hörte, entwichen die Worte meinen Mund und sorgten dafür, das mir die mehr als unangenehme Stille zwischen uns die ganze Angelegenheit wieder mächtig erschwerte.

Glücklicherweise harrten wir nur einen Moment in dieser Stille aus, denn lange Finger, die sich um mein Kinn legten und mich zwangen ihn anzusehen, durchbrach sie wieder.

„Es war falsch von dir."

murmelte er sanft und strich mit seinem Daumen über die Stelle unter meiner Lippe. Erstaunt und verwirrt zugleich öffnete ich den Mund, um ihn zu fragen, wie er auf diese naive Annahme kam, doch er ließ es nicht zu.

Seine Hand wanderte von meinem Kinn zu meinem Mund und verschloss ihn. Instinktiv folgten meine Augen seiner Hand, was dazu führte, das ich schielte, um sie erkennen zu können, was ihn zum schmunzeln brachte.

„Dieser Kuss hätte unter anderen Umständen stattfinden müssen und nicht nur, weil du Mitleid mit mir hast."

Er lügt. Mein erster Gedanke. Er lügt. Er muss einfach lügen.

Ich wollte es ihm sagen, nein, an den Kopf werfen, doch als ich sah, was der braunhaarige machte, wurde mir klar, dass ich es ihm in diesem Gespräch nicht mehr vorwerfen konnte.

Mit einem ernsten und doch traurigen Blick nahm Liam wieder seine Hand von meinem Mund und platzierte seine Hände auf meine Schultern. Mit einer leichten Bewegung streifte er seine Jacke von meinen Schultern und warf sie sich achtlos über den Arm.

Ohne mir einen weiteren Blick zu gönnen, drückte er sich an mir vorbei und taperte auf die Tür zu. Bevor er sie öffnete, drehte er sich zu mir herum und schenkte mir einen letzten Blick.

Es war ein Blick, der mehr ausdrückte, als das es Worte konnten.

„Du wirst es irgendwann verstehen."

nuschelte er, bevor die Tür vor ihm aufschwang und er aus meinem Blickfeld trat.

Vollkommen verdattert ließ er mich mit diesen Worten zurück. Hätte ich auch nur geahnt, was es für Auswirkungen auf unser späteres Aufeinandertreffen gehabt hätte, dann hätte ich nicht einmal mit dem Gedanken gespielt ihm hinterher zu rennen und alles endgültig zu klären.

Und glücklicherweise ich war es auch nicht. Und das war wohl ausnahmsweise mal eine richtige Entscheidung von mir gewesen.

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