»39. Kapitel

Atemlos huschte ich um eine Ecke.

Dafür, dass ich seit Wochen den Sport sehr vernachlässigt hatte, war ich weitaus überrascht, dass ich es überhaupt geschafft hatte den ganzen Weg hierher zu joggen. Während ich mich auf den Weg gemacht hatte, den Ort aufzusuchen, von dem ich zuletzt im Kindheitsalter gewesen war, schien sich das Schicksal dazu entschieden zu haben etwas Würze in die gesamte Situation zu bringen und es regnen zu lassen. Doch ich machte mir nichts sonderlich etwas daraus, schließlich war etwas (oder besser gesagt jemand) nun viel wichtiger.

Mit schnellen Schritten quetschte ich mich durch das kleine Loch, das er damals in den spitzen Maschendrahtzaun gerissen hatte, und achtete besonders darauf nicht hängen zu bleiben oder mich zu verletzen.

Früher hatten wir anfangs versucht Wege über den Zaun zu finden, aber nachdem ich mir andauernd wegen meiner Ungeschicklichkeit Kratzer und blutige Risse zugefügt hatte, hatte er mir zuliebe unerträgliche Schmerzen auf sich genommen und ein Loch, gerade mal so groß, das sich zwei kleinere Körper hindurch zwängen konnten, hinein geschnitten.

„Scheiße!"

Ein wüster Fluch entwich mir, als ich spürte, wie meine Hand an etwas kaltem vorbeiglitt. Nur ein paar Sekunden später flammte ein kleiner, stechender Schmerz genau an dieser Stelle auf.

„Was kannst du eigentlich?"

Grummelnd schlüpfte ich aus dem Loch heraus und rieb mir über den Handrücken. Schmale, lange Blutspuren zogen sich über die Haut, die frische Luft ließ die frisch entstandene Wunde leicht brennen. Kopfschüttelnd über meine eigene Unachtsamkeit, wischte ich es, mithilfe des Regens, weg und blieb anschließend kurz stehen, um das Panorama vor mir zu betrachten.

Es war noch genauso wie ich es in Erinnerung hatte.

Zwei Gebäude ragten in die Höhe, sie waren so hoch, dass ich meinen Kopf in den Nacken legen musste, um die bereits beschädigten Schornsteine erkennen zu können, und warfen große Schatten auf den Boden. Ich hatte schon immer gefunden, dass dieser Ort hier etwas Unheilvolles an sich hatte, und trotzdem war es nie ein Hindernis gewesen, die alte Fabrik nicht zu erkunden.

Mit klopfenden Herzen schritt ich mutig auf die verrostete Tür zu, die dasselbe Schicksal wie der Zaun erlitten hatte und nur wegen Liam und mir nun weit offen stand. Rasch passierte ich das Tor und betrat die Halle, die dahinter lag.

Ich hatte mir von meinem Vater erzählen lassen, dass hier früher bestimmte Autoteile hergestellt worden waren. Er selbst hatte hier selbst als Teenager den Sommer über gearbeitet, um sich etwas Geld dazu zu verdienen, doch nach einem großen Unfall, wo mehrere Personen ums Leben kamen, war sie von einem auf den anderen Tag geschlossen worden.

Als Liam und ich sie dann viele Jahre nach diesem Geschehen entdeckt hatten, hatte sich das baufällige Gelände schnell zu einem Spielplatz für uns entwickelt. Und zwar nur für uns zwei alleine, denn da wir uns sicher gewesen waren, das Zayn sicher nicht mit Liam und mir zusammen hatte spielen wollen.

Es war die Zeit gewesen, bevor er mich zum ersten Mal geküsst hatte. Bevor er mich fragte, ob ich seine Freundin werden wollte. Es war die Zeit gewesen, als noch alles gut zwischen mir und ihm gewesen war.

So leise wie möglich tapste ich an den alten Laufbändern vorbei. Mein Blick war feste auf den Boden gerichtet, damit ich nicht über herumliegenden Müll oder Bruchstücken der damals produzierten Gegenstände stolperte.

Ich wusste genau, wo er gerade war.

So wie ich ihn kannte hatte er sich in dem Büro auf der anderen Seite verkrochen, so wie damals, als sich seine Eltern gestritten hatten oder etwas Schlimmes passiert war. Dann hatte ich ihn immer auf dem alten, verstaubten Sofa gefunden, die Knie an den Körper gezogen und den Kopf zwischen ihnen versteckt.

Ohne sämtliche Geräusche zu verursachen schlich ich die Wendeltreppe hoch (obwohl sie ab und zu mal beunruhigend laut knarzte, wodurch ich stark annahm, das sie jeden Moment zusammen stürzen konnte), bis ich letz endlich vor der Tür Halt machte. Das einst goldene Schild mit der geschwungenen Aufschrift Büro hang schief und war von zahlreichen Kratzern übersät.

Ich holte kurz einmal tief Luft. Dann umschlossen meine Finger den kühlen Griff und drückten ihn herunter.

Mit einem ohrenbetäubenden Quietschen schwang die Tür auf. Eine Staubwolke wurde durch den Schwung aufgewirbelt und flog mir genau ins Gesicht. Als mir die feinen Sandkörner, die sich unter den Staub gemischt hatten, in meine Atemwege gerieten und sie somit reizten, konnte ich nicht anders, als laut los zu niesen.

Das war es dann ja wohl mit dem leise und vorsichtig den Raum betreten, dachte ich mir und beendete die Niesparade mit einem ordentlichen Husten, das hast du mal wieder super hinbekommen.

„Was machst du hier?"

Erschreckt zuckte ich zusammen, als ich die raue Stimme aus der anderen Seite des Raumes vernahm. Verwundert drehte ich mich in die Richtung, aus der sie gekommen war. Ich entdeckte Liam, der mit dem Rücken zu mir stand und aus dem verschmierten Fenster auf die leere Halle unter sich sah.

Am liebsten hätte ich mir mit der flachen Handfläche direkt ins Gesicht geschlagen. Da hatte ich extra versucht ihn mit meinem unerwarteten Besuch zu überraschen und war so leise wie möglich hier hin gekommen, und hatte dabei ganz vergessen, dass er mich vom Büro aus hatte beobachten können.

Mit stockenden Atem zog ich die Ärmel meiner Jacke (die vom Regen inzwischen schon komplett eingeweicht war) über meine Finger und schlang meine Arme anschließend um meinen Oberkörper.

„Was machst du hier?"

Während ich mich damit beschäftigt hatte meine Klamotten wieder ordentlich zu zupfen, hatte ich nicht bemerkt, wie Liam sich mir zugewandt hatte. Als sich unsere Blicke trafen hätte ich am liebsten aufgeschrien, doch das wäre äußerst unhöflich gewesen, weswegen ich einfach dabei zusah wie er sich auf das instabile Sofa niederließ und mich dann weiterhin erwartungsvoll ansah.

„Ich...uhm...du warst nicht in der Schule."

Vorsichtig trat ich ein paar Schritte auf den Jungen vor mir zu. Obwohl ich es überhaupt nicht wollte, musste ich mir selber eingestehen, dass er alles andere als gut aussah.

Er trug immer noch das blauweiße karierte Hemd vom vorherigen Tag, seine Lederjacke fand ich zusammen geknüllt neben ihm liegen. Seine Haare waren ein wenig verwirrt und durcheinander, während seine sonst so warmen Augen mich kraftlos ansahen, woran die Schatten unter ihnen die Verantwortung dafür übernahmen.

Er sah einfach nur noch fertig aus, und trotzdem konnte ich nicht anders, als ihn einfach nur anzulächeln. In meinen Augen war er immer schön, egal wie er aussah.

„Woher wusstest du, dass ich hier bin? Ich hätte auch krank zuhause sein können."

Murmelnd wandte Liam seinen Blick ab und richtete sie ihn auf seine Hände, die nervös mit der jeweils anderen spielten. Langsam schlenderte ich auf ihn zu und ließ mich neben ihn fallen. Das Sofa machte, so wie der Rest der Gegenstände in diesem Gebäude auch, ein schreckliches Geräusch, was ich aber einfach nicht beachtete.

Stattdessen stützte ich meine Ellbogen auf die Knie und fing an ihn mit schiefgelegten Kopf zu beobachten. Die einzige Hoffnung, die ich dabei hatte, war, dass er mein Herz nicht hören konnte, das sich vor lauter Nervosität schon beinahe überschlug.

„Weil ich dich lang genug kenne, um zu wissen, dass du das hier immer noch als Versteck benutzt."

Um meine Aussage etwas zu bekräftigen, deutete ich kurz mit dem Finger in den Raum und sah mich kurz um. Der umgekippte Schreibtisch und die ganzen verwaisten Papiere mit den Namen der ehemaligen Mitarbeiter drauf, ließen das alles hier immer noch unheimlich mysteriös auf mich wirken, doch Liams Anwesenheit verlieh mir ein Gefühl von Sicherheit.

„Wieso bist nicht zu deinen Eltern zurück gegangen? Sie machen sich tierische Sorgen um dich."

Interessiert beobachtete ich, wie Liam die Stirn in Falten legte.

„Du hast es doch mitbekommen."

hörte ich ihn knapp sagen, während ich mir eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht strich und versuchte aufgrund der nassen Sachen nicht allzu heftig zu zittern. Liam muss echt knallhart sein, dachte ich mir kopfschüttelnd und rieb meine Handflächen aneinander, um wenigstens etwas Wärme zu erzeugen, dass er bei dieser Kälte die Nacht hier verbracht hat. Unglaublich.

„Sie wollen mich nicht mehr. Sie wollen keinen Sohn, der ein Schläger ist."

Seufzend senkte sich der braunhaarige Kopf neben mir und wuschelte sich resigniert durch die Haare. Er verdeckte damit geschickt sein Gesicht, jedoch vermutete ich, das Tränen in seinen Augenwinkeln Schimmerten.

Aus früheren Erlebnissen wusste ich wie sehr ihm seine Familie bedeutete, obwohl er eigentlich immer als Bad Boy und gefühlslos auf die meisten Menschen wirkte. Alle bis auf mich.

„Aber sie lieben dich."

Nach ein paar Minuten der Stile beschloss ich wieder eine Annäherung zu wagen. Liam wandte seinen Kopf zu mir und musterte mich durchdringend. Ich hätte mich beinahe in ihnen verloren, hätte er nicht bemerkt, dass mir kalt war. Ohne auf meine Reaktion zu achten, nahm er seine Lederjacke und legte sie mir fürsorglich um die Schulter.

„Danke."

nuschelte ich verlegen, woraufhin ich ein halbherziges Lächeln als Antwort erhielt. Dann wendete er sich wieder von mir ab und richtete seinen Fokus wieder auf seine großen Hände, die wieder auf seinen Knien Platz gefunden hatten.

„Sie lieben mich nicht."

sagte er zu sich selbst und schüttelte abwesend leicht den Kopf.

„Keiner liebt mich."

„Das stimmt nicht."

Ich war selbst überrascht von mir, als ich ihm sofort ins Wort fiel. Etwas geknickt realisierte ich, dass er nicht auf die drei Wörter ansprang. Erst als ich zaghaft meine Hand auf seine legte und sie leicht drückte, wanderte seine Aufmerksamkeit letztendlich zu mir.

Mit großen Augen öffnete er seinen Mund, um etwas zu sagen, doch ich brachte ihn mit einem ernsten Blick zum Schweigen.

„Es gibt Menschen, die dich lieben. Vielleicht sogar mehr als sie wollen."

Unbewusst sprach ich den letzten Satz leiser als den ersten aus. Da ich mich dadurch unwohl fühlte, wollte ich meine Hand wieder von seiner lösen, doch Liam hielt sie unvorhergesehen fest.

„Nenne mir eine."

flüsterte er und sah mir direkt in die Augen. Automatisch wurde mir etwas mulmig, was wohl an den Schmetterlingen lag, die in meinem Bauch mittlerweile nun dreifache Loopings zu fliegen schienen.

Ohne wirklich zu begreifen was ich da gerade tat, näherte ich mich seinem Gesicht. Aus Angst, dass er möglicherweise zurück schrecken würde, bewegte ich mich nur langsam vorwärts. Doch das tat er nicht.

Ich schloss meine Augen, als ich fühlte, wie sich meine Stirn gegen seine presste. Unsere Nasenspitzen rieben leicht aneinander.

Tu es nicht. Die leise Stimme in mir versuchte mich daran zu hindern es nicht zu tun, doch ich achtete nicht besonders darauf, denn in dieser Sekunde hörte ich auf etwas anderes. Und zwar auf mein Herz.

Ich würde diesen Moment nie vergessen. Ich würde nie vergessen, wie sich unsere Hände miteinander verschränkten. Wie wir für mehrere Sekunden einfach nur dort auf diesem Sofa saßen und die wohlige Nähe des anderen aufnahmen.

Und diesen einen Moment, wo ich die Lücke zwischen uns schloss, indem ich meine Lippen sanft auf seine presste und diese Sekunde zu einer unbezahlbaren machte.

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