»37. Kapitel

Wie aus Reflex hob ich meine Hand und presste sie schützend gegen meine Nase, die nun leicht anfing zu schmerzen. Geschockt starrte ich geradewegs in die braunen Augen, die mich mit demselben Ausdruck zurück anstarrten.

Ohne wirklich zu realisieren was genau gerade passiert war, bemerkte ich aus den Augenwinkeln, wie sich eine dritte Person an mir vorbeischob und mit einem Gesicht, welches die Farbe von fruchtigen Tomaten angenommen hatte, sich auf Zayn stürzte.

Dieser war jedoch, so wie ich, viel zu geschockt, um auch nur ansatzweise zu handeln. Stattdessen sah er mich weiterhin regungslos an, die Lippen leicht geöffnet, die Hand war immer noch zu einer Faust geballt.

„Du…Du Arschloch!“                                                              

Mit einer noch tieferen Tonlage, die seine Stimme irgendwie drohender herüber kommen ließ, packte Liam ihn am Kragen und schmiss ihn wortwörtlich vor sich auf den Boden. Sämtliche Alarmglocken in mir fingen wie verrückt an zu schellen, doch es war, als könne ich mich nicht bewegen. Dafür hatte mich Zayn viel zu sehr erschreckt.

Ohne es wirklich zu begreifen, sah ich zu, wie Liam auf den wichtigsten Mensch in meinem Leben einprügelte und es auch auszunutzen schien, dass dieser sich nicht einmal die Mühe gab sich zu wehren. Vergeblich versuchte er den Blickkontakt mit mir zu halten. 

„Sie ist deine beste Freundin, wie kannst du sie nur schlagen?“

Mit aller Kraft, die er in diesem Moment aufbringen konnte, landete sein Fuß in Zayns Magen. Dieser zog sich automatisch zusammen und er krümmte sich vor Schmerzen. Ob es wirklich an Liams Tritt lag, oder ob es an dem lag, was vor ein paar Sekunden passiert war, konnte ich nicht einschätzen.

„Was macht ihr da?“

Erschreckt fuhren wir alle heftig zusammen, als eine mir nur zu bekannte Stimme aus der Haustür zu uns herüber schallte.

Mein Magen drehte sich einmal ganz herum, als ich die schlaksige Figur meines Vaters am Türrahmen stehen sah, Karen und Geoffs Köpfe waren gerade noch hinter seiner Schulter auszumachen.

Sein Blick war erst etwas verwirrt auf mich gerichtet, dann schien er jedoch die anderen beiden ebenfalls bemerkt zu haben. Ich konnte genau beobachten, wie seine Augen sich weiteten. Doch wenigstens war er etwas schneller darin zu reagieren.

„Was zum Henker wird das, Liam?“

Mit großen und wenigen Schritten war der grauhaarige Mann losgesprintet und war auf die beiden zugestürmt, um noch schlimmeres zu verhindern. Grob packte er an Liams Schulter und zog ihn von Zayn weg, der immer noch am Boden lag, inzwischen aber den Willen entwickelt hatte sich aufzurappeln.

„Wieso prügelst du auf ihn ein?“

rief mein Vater und schüttelte sprachlos den Kopf. Er sah so aus, als würde er ernsthaft eine Antwort erwarten, doch ich konnte schon erahnen, dass er keine erhalten würde.

 „Was hast du getan?“

Liam sah panisch zu seiner Mutter, die meinem Vater etwas langsamer gefolgt war, und sich nun schockiert hinter mir Deckung gesucht hatte. Ihre Augen waren auf Zayn fokussiert, der sich nun schon beinahe geistesabwesend das Blut von der Lippe strich, immer noch starrte er mich fassungslos an.

„Mum, ich-“

So schnell, das keiner von uns reagieren konnte, riss Liam sich von meinem Vater los und machte ein paar Schritte auf Karen zu, doch diese zuckte instinktiv zurück. Die Panik und die Tränen, die in ihren Augen schimmerte, waren eindeutig nicht zu übersehen.

„Fängst du etwa schon wieder an wie früher?“

Mit zitternder Stimme wich die kleine Frau immer mehr vor ihrem eigenen Sohn zurück und suchte hinter ihrem Auto vor ihm Schutz.  Sofort spitzten sich meine Ohren. Er fing schon wieder an wie früher? 

„Mum, nein, das ist-“

„Komm Geoff, wir gehen.“

Mit tief gesenktem Kopf drehte Karen sich um und griff nach der Hand ihres Mannes, der so wie seine Frau enttäuscht den Blick von seinem Sohn abwandte und wieder auf das große Auto zusteuerte. 

„Mum, Dad, es ist nicht das, nachdem es ausgesehen hat, wirklich.“

flüsterte der braunhaarige leise, doch die geflüsterte Entschuldigung fand keinen Zuhörer mehr. 

*

„Miss Hudson, können sie mir bitte erläutern, wie die Aussage zu verstehen ist, dass der Mensch ein Produkt seiner selbst ist?“

Ein stechender Schmerz fuhr durch mein Ohr, als eine flache Handfläche direkt neben mein Ohr auf den Tisch knallte. Wie eine Furie fuhr ich hoch, nur um unmittelbar in die blassen blauen Augen meines Philosophielehrers Mr. Stanton zu gucken.

Verwirrt öffnete ich meinen Mund ein wenig.

„Was war noch mal die Frage?“

murmelte ich nervös und strich mir schnell durch die Haare, um die Zeit noch etwas heraus zögern zu können. Neben mir vernahm ich eine tiefe, raue Stimme.

„Er ist ein Produkt seiner selbst, weil er sich durch die Arbeit entwickelt hat.“

flüsterte Harry mir so unauffällig wie möglich ins Ohr, und wich geschickt Mr. Stantons Blick aus, der seine Hilfe wohl oder übel bemerkt haben musste.

„Danke Mr. Styles, aber die Frage war nicht an sie, sondern an Miss  Hudson gerichtet.“

Kopfschüttelnd drehte sich der kleine Mann wieder um und schritt wie Napoleon zur Tafel, um sein Tafelbild weiterzuführen. Die Enttäuschung über meine Unaufmerksamkeit war mir natürlich nicht entgangen.

Verlegen sah ich zu Harry herüber und schenkte ihm ein dankbares Lächeln.

„Danke.“

„Kein Problem.“

kam es als Antwort und als die Antwort sogar noch Grübchen bekam, konnte ich nicht anders, als ihm ein ganzes Lächeln zu schenken.

„Ist alles in Ordnung bei dir?“

Voller Sorgen zog der Lockenkopf die Augenbrauen zusammen und stützte seinen Kopf auf den Arm ab. Frustriert fummelte ich mir kurz an den Augen herum, bevor ich meinen Füller in die Hand nahm und anfing abzuschreiben.

„Es ist alles in Ordnung, es ist in den letzten Tagen nur wahnsinnig viel Passiert.“

nuschelte ich und beobachtete aus den Augenwinkeln wie Harry meine Geste kopierte und ebenfalls seinen Kugelschreiber zückte.

„Möchtest du vielleicht darüber reden?“

„Sorry, aber ich glaube, ich will das alles nur noch vergessen, anstatt das Thema wieder aufzuholen.“

Entschuldigend und dankend zugleich legte ich kurz meine Hand auf seine, um ihn zu zeigen, dass ich seine liebgemeinte Frage wahrgenommen hatte. Lächelnd nickte er mir kurz zu, ehe wir uns wieder ans Werk machten die Stunde wenigstens halbwegs lebend zu überstehen.

*

„Hey, guck mal, da ist die ja!“

Verwirrt passierte ich zwei Jungen, ihres Aussehens nach zu urteilen schätzte ich, das sie etwa dreizehn waren, die wild tuschelnd zu mir herüber sahen. Als sie meinen schiefen Blick bemerkten, fingen sie an zu grinsen und mit den Augenbrauen zu wackeln.

„Uhm…“

Verblüfft beschloss ich kurzerhand nicht weiter auf ihr merkwürdiges Verhalten einzugehen, sondern machte mich weiter auf den Weg zur Cafeteria. Was ist denn jetzt los, fragte ich mich und suchte unauffällig den Gang nach Zayn ab. Nachdem was gestern passiert war, mussten wir unbedingt miteinander reden.

Ich war keineswegs sauer auf ihn;   schließlich war ich diejenige gewesen, die sich vor Liam gestellt hatte um ihn zu schützen. Er hatte zu spät reagiert und mich nicht wahrgenommen. Jedoch sah ich die ganze Sache als angemessen, um ihn für ein Gespräch auszusuchen und endgültig alles zu klären.

Doch auch mit Liam war ein Gespräch dringend nötig. So wie es aussah war gestern etwas losgetreten worden, was einen tiefen Riss zwischen Liam und seinen Eltern getrieben hatte.

Und irgendwie hegte ich die Vermutung, dass ich nicht ganz unschuldig daran war.

 „Oh Gott, Rachel!“

Ich hatte fast den Eingang zur Cafeteria erreicht, als mir ein blonder Kopf hektisch entgegen kam.

Und so wie er mich ansah, gab es wohl keine guten Neuigkeiten für mich.

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