»23. Kapitel
Die dunklen Gestalten entpuppten sich als zwei Jungen, den größeren von ihnen erkannte ich sofort. Es war haargenau der Junge auf den ich getippt hatte, als sich mein Gewissen mit der Frage, wer das wohl sein könnte beschäftigt hatte. Es war Liam.
Da ich die Person, die er gerade mächtig und lautstark zugleich mit überaus freundlichen (man beachte an dieser Stelle bitte die Ironie) Sätzen zuschüttete nicht identifizieren konnte, beschloss ich mich ein kleines Stück an das Geschehen zu nähern.
Was soll denn auch schon groß passieren, überlegte ich mir schulterzuckend und wischte mir eine Träne von der Wange, die noch nicht rechtzeitig versiegt war, wenn sie mich wirklich entdecken sollten, dann kann ich wenigstens sagen, das ich gerade auf den Weg ins Kino bin. Oder eher gesagt andersherum.
„Sag mir jetzt woher du die Idee hast deinen kleinen, pubertierenden Freunden zu erzählen, dass sie mit jedem ins Bett steigen würde, der sie haben will?“
hörte ich Liam gerade rufen, während ich mich so geräuschlos und schleichend wie eine Katze auf der Jagd an der Hauswand entlang presste. Als sein Gegenüber ihm keine Antwort gab, sondern ihm nur mit schiefgelegtem Kopf verwirrt ansah, ballten sich die großen Hände zu Fäusten.
Mit einer anscheinenden Leichtigkeit packte er den anderen bei dem Kragen seiner Jacke und presste ihn gegen die versteinerte Wand hinter ihm. Dabei positionierte er ihn unbeabsichtigt so, dass das Gesicht, des mir Unbekannten von dem schwachen, gedämpften Strahl einer Straßenlaterne erleuchtet wurde.
Ach du Scheiße. Entsetzt schlug ich mir die flachen Hände vor meinen Mund, damit das erschreckte Quietschen nicht erhört wurde, das meiner Kehle, von dem Schock dazu getrieben, entwichen war. Das kann doch jetzt nicht wahr sein, oder, fragte ich mich selbst und fächelte mir hektisch umherschwirrende Luft zu, da mir sonst eindeutig zu heiß geworden wäre, er legt sich ernsthaft mit Ryan an?
Ryan war bis vor kurzem noch auf unserer Schule gewesen. Wir hatten ein paar Kurse zusammen belegt, doch dies hatte abrupt aufgehört, als er vor ein paar Wochen wegen Verletzung eines Lehrers und extremer Randalirung im Schulgebäude unweigerlich suspendiert worden war.
Er war gefährlich und kriminell, das auch hauptsächlich der Grund war, weshalb die Zahl seiner Anhänger deutlich begrenzt war. Ich hatte zum Glück zwar noch nie wirklich mitbekommen was er dafür tat, das er diesen Ruf erhalten hatte, außer dass er und Zayn mal wegen eines Mädchens aneinander geraten waren.
Er hatte einfach nur schrecklich ausgesehen, nachdem Ryan mit ihm fertig geworden war. Sein Gesicht war komplett geschwollen und von unzähligen blauen und gelben Flecken übersät gewesen, auf einem Auge hatte er nicht einmal richtig sehen können. Seit dieser Auseinandersetzung war ich ihm ausgewichen wann immer es möglich war.
Aber wahrscheinlich war genau das der Grund wieso mein Herz mir bis zum Hals schlug. Liam schien sich der Gefahr, der er sich gerade aussetzte wohl nicht bekannt zu sein, denn er provozierte ihn noch mehr, indem er ihm eine saftige Ohrfeige verpasste.
„Antworte mir jetzt!“
wiederholte er sich und presste Ryans Körper noch fester gegen die Wand. Durch den Aufprall des massigen Körpers fielen ein paar lose Brocken auf die beiden herunter, doch anscheinend schien es keinen der beiden wirklich zu interessieren.
„Sach ma, wovon redescht tu aigäntdlisch?“
fragte Ryan nun endlich und rieb sich seelenruhig über den Hinterkopf. Liam rümpfte angeekelt seine Nase, ehe er ein zweites Mal ausholte und ihm eine ordentliche Ohrfeige auf der anderen Wange verpasste. Er muss betrunken sein, stellte ich erleichtert fest und spürte gleichzeitig wie mir etwas wärmer um mein Herz wurde. Liam hatte durch den angeschlagenen Zustand einen gewaltigen Vorteil, und das beruhigte mich sehr.
„Ich rede von Rachel. Rachel Hudson. Du hast irgendwelchen Leuten erzählt, dass sie eine Schlampe ist.“
fauchte Liam und ließ ihn los. Ryan stolperte etwas nach vorne und versuchte mühsam sein Gleichgewicht zu halten. Nachdem er es geschafft hatte, drehte er sich wieder zu Liam herum.
„Is dat nich die klene aus unsrer Scule?“
nuschelte er nun etwas nüchterner und strich sich durch seine blonden Haare. Liam trat erneut auf ihn zu. Obwohl ich ein paar Meter von ihnen entfernt stand und durch die Dunkelheit gedeckt wurde, entdeckte ich trotzdem das Glitzern in den sonst so warmen Augen Schimmern.
Durch sie sah er anders aus, nicht so wie sonst immer. Es kam mir so vor, als stände ihm plötzlich ein anderer Mensch gegenüber. Ein böser Mensch. Sämtliche Emotionen waren ausgeschaltet worden, anders konnte ich mir den eiskalten Blick nicht erklären.
Mit pochenden Herzen verfolgte ich die Situation weiter.
„Ja, das ist sie. Jetzt sage mir wieso.“
„Was, wieso?“
„Meine Güte, wieso hast du sie eine Schlampe genannt und dieses Gerücht verbreitet?“
knurrte Liam genervt und schubste Ryan. Die Handlung kam so unerwartet, das dieser es nicht mehr schaffte rechtzeitig zu wehren und deswegen unsanft auf dem Boden aufkam. Ich zuckte reflexartig zusammen, als das dumpfe, grauenhafte Geräusch ertönte.
„Hey!“
rief Ryan entrüstet und versuchte sich wieder aufzurappeln, doch Liam machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Ehe er sich versehen konnte hatte er seinen Fuß erhoben und ihn gegen Ryans Brustkorb getreten. Der schwere Körper landete wieder mit einem Ruck auf den Boden, begleitet von einem unheilvollen Knacken.
„Sage noch einmal so etwas über sie und du wirst unser nächstes Treffen nicht mehr überleben.“
„Warum ist es dir denn so wichtig, was ich gesagt habe? Ich habe in Sport letztens dein Handy aus Spaß genommen, als du eine Nachricht von ihr bekommen hast, daher weiß ich, das du sie vögelst.“
stöhnte der Junge am Boden auf und schnappte hektisch nach Luft, da Liam seinen Fuß fester in seine Brust drückte. Mein Herz setzte für einen Schlag aus. Er wusste etwas davon, fragte ich mein Unterbewusstsein, in der Hoffnung, dass es nein sagen würde. Doch das tat es nicht.
„Wenn du das jemanden sagst bist du tot.“
flüsterte der dominantere Junge und setzte seinen Fuß von dem betrunkenen herunter. Dann setzte er zum gehen an. Mein Atem ging rasend schnell, jedoch verbot ich es mir auch nur einen einzigen Atemzug zu nehmen. Er hat es wirklich getan, stellte ich fest, während ich zusah, wie Ryan versuchte sich gerade hinzusetzen, er hat sein Versprechen also gehalten.
„Was willst du denn schon groß machen? Mehr als mich vermöbeln kannst du eh nicht, Payne.“
Das kleine Lächeln auf meinen Lippen verschwand augenblicklich wieder. Auch Liam blieb zeitgleich auf der Stelle stehen. Um nicht gleich auszurasten, presste er seine Lippen feste aufeinander. Nur langsam drehte er sich wieder zu Ryan um, der nun mit einem provokanten Grinsen auf dem Boden saß und trotz allem versuchte seinen Atem wieder unter Kontrolle zu bringen.
„Was sagst du da?“
„Ich sagte, dass du mir eh nie wirklich etwas antun kannst, Liam. Du könntest mich höchstens verprügeln, aber ich werde immer wieder aufstehen und habe dann immer noch die Gelegenheit es jedem zu erzählen.“
„Sei doch nicht so dumm und provoziere ihn.“
flüsterte ich und strich mir eine Strähne aus dem Gesicht. Am liebsten hätte ich sofort eingegriffen, doch ich hatte im Laufe der Jahre gelernt, dass man sich bei so etwas nie einmischen sollte. Meine Augen weiteten sich, als Liam mit schnellen Schritten auf Ryan zulief und etwas aus seiner Jackentasche zog.
Und genau in dem Moment, wo ich das kleine, silberne Gerät erblickte, wurde mir schlecht. Liam hielt nichts anderes, als eine Pistole in seiner Hand, die Öffnung zielte haargenau auf Ryans Stirn.
„Denkst du ernsthaft, ich würde nicht abdrücken, wenn es um sie geht?“
hörte ich Liam bitter lachen, während er beobachtete wie sämtliche Farbe aus dem Gesicht seines Gegenübers wich.
„I-Ich wer-werde nichts-s sagen.“
stotterte der Blonde und hob zitternd eine Hand, um sie sich abwehrend und schützend zugleich vor das Gesicht hielt.
„Das hoffe ich auch sehr für dich.“
Das war der letzte Satz, den ich an diesem Abend von Liam hörte. Noch bevor ich etwas mitbekam hatte er das kalte Metall wieder in die Tasche seiner Jacke befördert und war im Dunkeln verschwunden.
Doch noch bevor er komplett aus meinem Sichtfeld verschwand, drehte er sich kurz um und blickte geradewegs in meine Richtung. Seine Lippen gaben leise Wörter von sich, doch sie kamen nie bei mir an. Dafür war ich zu weit entfernt, um sie zu hören, geschweige denn zu erkennen. In der nächsten Sekunde war er weg.
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