Kapitel 9
Ella schrie erneut auf. Ihre Stimme war bereits fast verschwunden, aber sie musste den unerträglichen Schmerz irgendwie aushalten. Sie musste durchhalten. Sie durfte auf keinen Fall nachgeben. Franziska hingegen schien ihr Geschrei nichts auszumachen, es wirkte eher so, als amüsierte sie ihr Anblick. Ellas linkes Auge brannte höllisch, aber der Schmerz hatte sich über ihre ganze Gesichtshälfte ausgebreitet, was das Ganze nur noch verschlimmerte. Franziska legte den blutigen Löffel weg, auf dem nun ein rotes, verschmiertes Gebilde lag. Ellas Auge. Die grünhaarige presste ein Tuch, welches sie ebenfalls aus ihrem Koffer gezogen hatte, auf ihr Gesicht. Da es aus sehr hellem Stoff bestand, konnte man nur erahnen, wie viel Blut Ella verlor, denn es war bereits fast ganz vollgesaugt und ganz rot. Ella konnte ihren Schmerz höchstens so beschreiben, wie eine Verbrennung. Sie hatte sich in ihrem ganzen Leben nur einmal verbrannt, und zwar letztes Jahr. Sie hatte an ein extrem heißes Backblech gefasst, welches erst vor wenigen Sekunden aus dem Ofen gekommen war. Da sie die Bedrohung nicht gesehen hatte, hatte es geschlagene drei Sekunden gedauert, ehe sie ihre Hand weggerissen hatte. Eine riesige Brandblase hatte sich dort gebildet und ihre Hand hatte noch lange gebrannt. Mehrere Tage mussten vergehen, ehe die Schmerzen vollständig verschwunden waren. Das in ihrem Gesicht war jedoch noch tausendmal schlimmer und schmerzhafter. Als würde ihre Augenhöhle ausbrennen. Ella war selbst ein bisschen verwundert darüber, dass sie nicht weinte. Konnte man denn überhaupt ohne Auge weinen? Sie biss ihre Zähne fest zusammen, um ihre Stimme zu schonen und nicht mehr schreien zu müssen. Sie versuchte sich irgendeine schöne Erinnerung ins Gedächtnis zu rufen, konnte sich aber auf nichts Konkretes konzentrieren. Der Schmerz lenkte sie zu sehr ab. Also riss sie ihren Mund erneut auf und ihr entkam ein Schrei, der all ihren Frust, ihren Schmerz und ihre Angst in den Raum schickte, so dass der kaputte Spiegel vibrierte. Franziska kümmerte sich nicht darum und begann bereits erneut, in dem Koffer zu kramen. Was hatte die denn da alles drin? Ella schloss atemlos ihren Mund und ihr verbliebendes Auge. Vielleicht holte diese kranke Frau da irgendwas raus, zum Beispiel noch einen Löffel, für ihr anderes Auge. Aber da erinnerte sie sich, was sie zu ihr gesagt hatte, bevor sie sie zu dem „Kunden" gebracht hatte. „Das linke Auge soll durch ein schönes Glasauge ersetzt werden." Womöglich hatte sie gerade das raus geholt! Ein Glasauge! Plötzlich erklang aus dem Flur eine laute Stimme und sie glaubte, den Mann zu erkennen, der die Worte brüllte. „Hör auf zu gaffen!" Flink öffnete Ella ihr Auge wieder und sah, wie Franziska vor Schreck zusammenzuckte und irgendetwas fallen ließ. Hatte der Mann sie damit gemeint? Aber dann hörte sie, wie sich dessen Schritte entfernten. Begleitet von einem schleifenden Geräusch. So hatte es auch geklungen, als er sie zu Franziska gezogen hatte. Und diese wiederum hatte sie auch mit sich geschleift, um die Fernsteuerung zu testen. Immer noch behagte Ella die Vorstellung gar nicht, sich nur noch von einer Fernbedienung aus zu bewegen. Hieß das, dass der Mann wieder jemanden mit sich herumzog? Konnte das womöglich Lukas sein? Oder gar Nummer 5? Vielleicht jemand ganz anderes? Währenddessen beugte sich Franziska leise grummelnd vor und suchte nach etwas auf dem Boden. Sicher nach dem, was sie verloren hatte. „So ein Mist!", schimpfte sie. „Wo ist das dumme Teil!?" Das Glasauge, ganz bestimmt. Ella wusste nicht mal, wie so ein Ding aussah. „Verfluchte Scheiße!" Der Kopf der grünhaarigen tauchte wieder auf und wüten hieb sie auf den Tisch, so dass der Löffel klirrte. Und Ellas Auge hin und her wackelte. Angewidert sah sie zur Seite. „Gut, du bleibst hier. Und ich hole dein neues Auge.", zischte Franziska und stapfte mit wütenden Schritten davon. Ella sah ihr nach. Das Tuch hatte Franziska beim hinauslaufen losgelassen und sie spürte, wie es auf ihren Schoß fiel. Kurz darauf kitzelte ihre Wange leicht. Sie blutete also immer noch. Wenn sie sich den Schmerz wegdachte, fühlte sich die leere Stelle in ihrem Gesicht irgendwie hohl an. War auch irgendwie logisch, es war ja nichts mehr da, was das Loch ausfüllen könnte. Ob ihr Augenlied wohl herabhing? Ella grauste es bei dem Schrecklichen Bild, was ihr dabei in den Sinn kam. Eilig schob sie es beiseite und blickte stattdessen mit ihrem verbliebenden Auge im Raum umher. Die Tür stand noch von Franziskas Abgang offen und es viel genug Licht herein, so dass sie den kleinen Raum – soweit es ihr durch ihre Unbeweglichkeit möglich war – in Augenschein zu nehmen konnte. Dreckig, voller Spinnenweben. Auch der Stuhl, auf den Franziska sie gesteuert hatte, denn anders konnte sie das nicht bezeichnen, hatte ausgesehen, als würde er jeden Moment zusammenbrechen. Bis jetzt hatte er zwar gehalten, und hoffentlich würde er dies auch noch tun, bis die grünhaarige mit ihr fertig war. Plötzlich durchzuckte es Ella wie einen Schlag. Franziska war weg. Sie hatte sie her gesteuert, aber die Fernbedienung hier liegen lassen! Das war doch die Lösung! Wenn sie irgendwie an das Ding dran kommen könnte, könnte sie sich vielleicht selbst steuern und hier raus kommen! Ellas Blick fiel auf den Tisch, wo noch immer der Löffel lag. Sie zog die Nase kraus und versuchte das, was darauf lag zu übersehen. Ein kleines Stück weiter erkannte sie, was sie gesucht hatte. Die Fernbedienung! Ihre womöglich einzige Chance, von hier zu verschwinden – nur wie sollte sie sie erreichen?
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