Kapitel 37

Der Gang, dem sie nun schon seit einiger Zeit folgten, schien kein Ende nehmen zu wollen. Keine Abzweigung, keine Türen, kein Fenster. Gar nichts. Nur verdreckte, teilweise zersprungene Fließen und flackernde, brummende Lampen an der Decke. Dazu mischte sich der Klang ihrer Schritte. Kein anderes Geräusch war zu vernehmen. Plötzlich blieb Lukas stehen. „Ich gehe nicht weiter.", verkündete er. „Was? Wieso?", fragte Ella. „Ich brauche eine Pause." Er setzte sich auf den Boden und lehnte den Rücken an die Wand. „Das wird mir gerade alles etwas zu viel.", murmelte er, ohne zu wissen, ob seine Freundin ihn überhaupt verstanden hatte. Er meinte es ernst. Die Situation wuchs ihm gerade über den Kopf. Der endlose Gang verschlechterte seine Stimmung zusehends. Immerhin war er noch nicht so sehr erniedrigt, dass er aufgeben wollte. Nein. Lukas fühlte sich einfach nur müde. Erschöpft. Ausgelaugt. Fast all seine Kräfte waren aufgezehrt. Er wusste, dass es Ella ähnlich gehen musste, schließlich teilten sie beide das gleiche Schicksal. Nun ja, fast. Wenigstens besaß er noch keine Metallknochen und konnte sich noch selbständig bewegen, ohne eine Fernbedienung zu benötigen und jemanden, der diese bediente. In dieser Hinsicht ging es ihm um einiges besser, als ihr. „Ich möchte auch sitzen." Ellas Stimme holte ihn zurück in die Gegenwart. Lukas kam ihrem Wunsch schweigend nach und ließ sie neben sich zu Boden gleiten. „Danke." Sie starrte die gegenüberliegende Wand an. Diese hässlichen Fließen! Lukas seinerseits lehnte den Kopf zurück, bis er die kalte Wand am Hinterkopf spürte, und schloss die Augen. Er wünschte, wenn er sie öffnete, würde er nicht mehr hier sein. Ella saß so nah bei ihm, dass sich ihre Arme berührten und er ihren leisen Atem hören konnte. Nur noch ein paar Minuten länger, und er würde wohl einnicken. „Ich hoffe, dass das hier alles bald ein Ende finden wird." Ihre Stimme wirkte erstaunlich ruhig und gefasst. Als hätte sie den Raum mit den vielen Toten nie gesehen, als hätte sie nie das Blut gesehen. „Ich auch." Lukas öffnete die Augen wieder, zog die Knie an den Körper und legte die Arme darum. Es dauerte einen Moment, bis sich seine Augen wieder an das helle Licht gewöhnt hatten. „Vielleicht klingt das jetzt seltsam", meine Ella, „aber ich habe das Gefühl, dass etwas passieren wird. Als würde dieses ‚Ende' tatsächlich bald kommen. Die Frage ist nur, ob es gut für uns ausgeht." „Ich habe nicht die geringste Ahnung." Lukas drehte den Kopf und sah sie an. Ihre dunklen Haare waren strähnig und noch immer hatte sie das in Blut getränkte Tuch über ihrem fehlenden Auge. Er griff in seine Hosentasche, wobei seine Finger das Papier des Fotos von Mark und seinem Freund streiften. Es war nicht das, was er suchte. Kurz darauf hielt er die kleine, blaue Kugel in der Hand. „Du willst es wirklich nicht haben?", fragte er. Er hielt Ella das Glasauge vors Gesicht. Sie starrte es an, dann wanderte ihr Blick zurück zur Wand. „Nein." „Aber dann könnte ich endlich das Tuch abmachen und du könntest wieder besser –" „Ich habe nein gesagt Lukas!" Sie atmete genervt aus. „Bitte akzeptiere das einfach, okay? Ich habe dir schon im Wald gesagt, dass ich nicht wie ein Roboter aussehen möchte. Bei dem Ding habe ich wenigstens die Wahl – und ich entscheide mich dagegen." Lukas ließ seine Hand sinken. „Ich will dich zu nichts drängen.", gab er nach. Sie schwieg. „Hey, Ella?" „Was?!" Wenn sie die Arme hätte verschränken können, hätte sie das sicher getan, so trotzig wie sie plötzlich klang. Eingeschnappt und trotzig. „Es tut mir Leid, okay?" Lukas packte das Glasauge wieder weg und verstaute es in seiner Hosentasche. „Noch einmal werde ich nicht fragen. Es ist deine Entscheidung.", meinte er in einem versöhnlichen Ton. „Das ist auch besser so. Können wir jetzt weitergehen?" Als Antwort stand Lukas auf und brachte auch Ella wieder auf die Beine. „Hoffentlich findet dieser verdammte Gang bald ein Ende.", sagte er und damit machten sie sich wieder auf den Weg.

„Türen! Na endlich!" Es war Lukas egal, ob er laut war. Sollte Franziska ihn doch hören. Ella sah erleichtert aus. „Hoffentlich finden wir etwas, das uns hier rausbringt.", murmelte sie, mehr zu sich, als zu ihrem Freund. Lukas beachtete sie sowieso nicht, er war bereits zur ersten Tür gelaufen und hatte probiert sie zu öffnen. „Verschlossen. Natürlich.", stellte er genervt fest und wandte sich der nächsten zu. Diese ließ sich problemlos öffnen. Ehe er sie ganz aufmachte, hielt er für einen Moment inne. Was, wenn dahinter ein weiteres Massaker wartete? Aber wer sollte hier sonst noch sein? Alle Roboter, außer Marko, waren tot. Er schüttelte leicht den Kopf, etwas verärgert über seine eigene Ängstlichkeit und stieß die Tür auf. Nichts. Keine Lebensmittel, keine Kommunikationsmöglichkeiten, gar nichts. Wenigstens auch keine Leichen. Lukas schloss die Tür wieder und machte sich an die nächste. Er spürte, wie Ella ihn dabei beobachtete, einen unlesbaren Ausdruck auf dem Gesicht. Vielleicht erwartete sie ebenfalls die nächsten Toten. Lukas öffnete weitere Türen, folgte dabei dem Gang und stieß ab und zu auch auf ein paar verschlossene. Ab und zu wandte er sich Ella zu, um sie folgen zu lassen. „Wieder nichts, das uns helfen könnte." Damit schloss er die vorletzte Tür. „War doch klar.", sagte sie. „Wozu sind hier so viele Türen, so viele Räume, wenn doch alles nur leer und nicht zu unserem Nutzen ist? Ich möchte wirklich mal wissen, was das hier für ein Gebäude ist." Lukas zuckte nur mit den Schultern. „Ich könnte mir vorstellen, dass es so eine Art Bunker ist. Getarnt in einem einfachen Gebäude." „Aber die Gänge liegen nicht unterirdisch. Wir sind nie bergab gegangen.", warf Ella ein. „Das stimmt auch wieder." Er ging zur letzten Tür. „Na wenn da jetzt mal keine Überraschung dahinter wartet.", murmelte er zwischen den Zähnen. Dann öffnete er die Tür. Lukas wurde starr. Er erkannte den Raum wieder. Er wirkte steriler, als die anderen und er meinte, dass ihm erneut der Geruch von Desinfektionsmittel in die Nase stieg. Es waren mehrere Schränke an den Wänden angebracht und in der Mitte stand eine Liege. Und darauf . . . nein! Nicht schon wieder! Ihm wurde bei dem Anblick übel. „Ella . . ." Seine Stimme klang hilflos. Sie begriff sofort. „Was? Gott, Lukas, bitte sag nicht, dass da noch mehr sind!" Er ließ sie neben sich treten, den Blick betroffen auf dem Boden gerichtet. Der Anblick in dem Raum war fast noch schlimmer, als der in dem sie Mark und seine Roboter gefunden hatten. Und das lag nicht daran, dass hier mehr Leichen lagen. Es waren nur zwei. Und das war eigentlich schon genug. Lukas hatte Franziska sofort erkannt. Er hatte sie nur ganz kurz angesehen, aber das Grün ihrer Haare war geradezu stechend in seinen Augen gewesen. Selbst dieser kurze Blick hatte gereicht, um zu sehen, wie übel sie zugerichtet worden war. Irgendjemand hatte sie auf die Liege gelegt, die Arme überkreuzt. Sie war unverkennbar tot. Aber das war noch immer nicht das Schlimmste. Er schluckte und dachte an das Blut auf dem Boden. Es war bei Weitem nicht so viel, wie in dem anderen Raum, aber die Pfütze auf den Fließen war trotzdem schrecklich anzusehen. Vor allem, weil nicht alles Franziskas Blut war. Er merkte, wie Ella neben ihm den Blick abwandte, die Augen vor Entsetzten geweitet. „Das kann nicht sein.", wisperte sie. Ihre Stimme zitterte. „Das kann einfach nicht sein!" Lukas wagte es, den Blick noch einmal anzuheben. So viel Blut . . . aber denjenigen zu sehen, dem das meiste davon gehörte, ließ ihn eiskalte Schauer über den Rücken laufen. Vor der Liege, auf dem Boden, inmitten einer gewaltigen, dunkelroten Pfütze, lag Marko. Nummer 5. Der Roboter, der ihnen geholfen hatte, zu entkommen. Ihr Verbündeter. Ihr Freund. „Er hat sich wirklich für uns geopfert.", hauchte Ella, blass von dem grausamen Anblick. Lukas drehte sich zu ihr, drehte dem Raum den Rücken zu. „Er ist ein Held.", sagte er. Dann breitete er die Arme aus und zog Ella in eine feste, innige Umarmung. Haltsuchend. Trostsuchend. Nun waren sie nur noch zu zweit.  

~ Ich hoffe das Kapitel war nicht so schlecht, wie ich denke, das es w . . . ^^'

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