Kapitel 30
„Was ist das eigentlich für ein Papier in deiner Hosentasche?" Die Sonne war hoch an den Himmel gewandert und trotzdem irrten sie immer noch durch den Wald. Lukas sah Ella verwundert an. „Was für ein Papier denn?" Er griff in seine Hosentasche und hielt plötzlich das Foto von Mark und seinem Freund in der Hand. „Oh! Das hatte ich vollkommen vergessen." Er blieb stehen, ließ sie ebenfalls anhalten und hielt ihr anschließend das Foto vor das Gesicht. Wie hatte er nur nicht mehr daran denken können? Er hatte Ella zwar davon erzählt, aber es trotzdem versäumt, ihr das Bild zu zeigen. „Weißt du noch, als ich dir erzählt habe, dass Mark fand, ich würde aussehen wie er früher? Ich habe doch auch das Foto erwähnt, woher ich wusste, wie er heißt. Das ist es." „Er sieht dir wirklich erschreckend ähnlich.", sagte Ella. „Und der andere daneben, das ist sein bester Freund? Oder war." „Sam oder so, ja." Lukas lies seinen Arm wieder sinken und verstaute das Bild wieder in seiner Tasche. Dabei ertasteten seine Finger einen anderen Gegenstand, den er ohne groß darüber nachzudenken, ebenfalls dort hineingesteckt hatte. Verwirrt holte er ihn heraus. Das Ding hatte Ähnlichkeit mit einer hellen, blauen Kugel. „Und was ist das?", fragte Ella neugierig. „Ich habe keine Ahnung." Lukas hielt die Kugel etwas höher, damit seine Freundin sie etwas besser betrachten konnte. „Ich weiß auch nicht mehr, wie das in meine Tasche gekommen sein soll." Plötzlich zog Ella scharf die Luft ein. „Ich – ich glaub ich weiß, was das ist!" „Und was?" Wenn er sich nicht täuschte war sie eine Spur blasser geworden. Die Kugel in seiner Hand starrte sie auf einmal an, als wäre sie der Teufel höchstpersönlich. „Hey, Ella! Was ist das für ein Ding?" Sie sollte die Sache mal nicht so spannend machen. „Das ist ein Glasauge.", wisperte sie schließlich. „Vielleicht sogar das, was Franziska mir einsetzen wollte. Es ist ihr heruntergefallen." „Oh." Mehr wusste Lukas dazu im ersten Moment nicht zu sagen. Eine Erinnerung begann, sich in seinem Kopf abzuspielen. Er sah vor seinem inneren Auge, wie er, bevor er mit der nun ferngesteuerten Ella aus dem Raum verschwand, in dem er sie gefunden hatte, er etwas vom Boden aufgehoben und kurzerhand eingesteckt hatte. Ja, das konnte tatsächlich das Glasauge gewesen sein! „Willst du es haben?" Ella starrte ihn, vollkommen entsetzt über diese Frage, an. „Bist du verrückt? Ich habe schon diese verdammten Metallknochen, da will ich doch nicht auch noch dieses Auge haben! Willst du etwa, dass ich vollkommen wie einer ihrer Roboter aussehe?!" Ihr Ton war mehr als aggressiv, aber Lukas verstand das. Er hatte nicht nachgedacht, ehe er die Frage gestellt hatte, das wurde ihm in sekundenschnelle klar. Es war ihm einfach so herausgerutscht. Trotzdem beschloss er, das Auge zu behalten. Es konnte immerhin trotzdem noch nützlich sein. Vielleicht würde es sogar Infektionen verhindern. Er war sich sicher, dass Ella auch nicht wollte, dass sich in ihrer Augenhöhle irgendwelche Bakterien einnisteten – er musste seine Gedankengänge an dieser Stelle unterbrechen, weil ihm leicht übel wurde. Sein Gehirn spielte ihm bereits Bilder von Ellas Gesicht voller fetter, gelber Maden vor. Um diesen widerlichen Gedanken zu entkommen, schüttelte er leicht den Kopf und antwortete Ella. „Natürlich nicht. Ich habe nicht nachgedacht. Tut mir leid." Ella atmete laut aus, ehe sie nickte. Dabei sah sie schon wieder etwas versöhnlicher aus. „Du meintest das ja nicht böse. Können wir vielleicht einfach weitergehen, und das Thema erst einmal beiseitelassen?" „Klar." Lukas packte das Auge wieder zu dem Foto in seine Hosentasche, ehe er sich und Ella in erneut Bewegung setzte. „Hoffentlich finden wir bald irgendetwas zum Trinken. Ich bin ziemlich am Verdursten.", sagte er, und bot seiner Freundin somit den gewünschten Themenwechsel. „Ich auch. Essen wäre ebenfalls schön.", erwiederte sie. Lukas nickte zustimmend. Dann konzentrierte er sich darauf, sie neben sich her gehen zu lassen, ohne dass sie über irgendwelche Stöcke oder Steine, welche auf dem Boden lagen, stolperte. Nebenbei musste er natürlich auch noch auf seinen eigenen Weg achten. So staksten die beiden weiter durch den Wald, von dem kein Ende zu sehen war. Lukas erinnerte sich, dass er eigentlich gerne in Wäldern unterwegs gewesen war, aber in diesen war zumindest immer ein Fünkchen Leben enthalten gewesen. Dieser hier war tot – von den Bäumen mal abgesehen. Er konnte sich diese unheimliche Stille einfach nicht erklären und kein vernünftiger Grund, warum alles so stumm war, kam ihm in den Sinn. Wenigstens schien die Sonne und heiterte mit ein paar warmen Strahlen die eher gedrückte Stimmung etwas auf. Er wünschte, sie würden bald einen Ausweg aus dem Wald finden. Er wollte hier drinnen nicht sterben, ebenso wenig, wie er in Marks und Franziskas Gefangenschaft hatte sterben wollen. Ob die beiden wohl auf der Suche nach ihnen waren? Dass er Mark erschossen hatte, daran wollte er lieber nicht denken. Lukas warf einen Blick hinüber zu Ella. Auch sie schien tief in ihren Gedanken versunken zu sein. Er wollte sie dabei nicht stören, also achtete er einfach wieder darauf, dass keiner von beiden hinfiel und versuchte dabei, sich nur darauf zu konzentrieren. Er hatte nicht die Lust dazu, wieder nur zu grübeln und dann zu keinem vernünftigen Ergebnis zu kommen, warum die Dinge so waren, wie sie waren.
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