Kapitel 29

Der Morgen kam schnell. Als Ella ihre Augen aufschlug, war ihr Schlafplatz bereits in das hellrosa Licht der frühen Morgendämmerung getaucht. Der Wald sah in dem hellen, warmen Licht viel freundlicher aus, als noch wenige Stunden zuvor. Sie hätte sich gern gestreckt, aber dann wurde ihr schmerzlich bewusst, dass sie das ja nicht konnte. Ihr Rücken schmerzte unangenehm von der sitzenden Position, in der sie die wenigen Stunden Schlaf verbracht hatte. Sie stöhnte leise auf und sah sich nach Lukas um. Dieser lag neben ihr auf dem schmutzigen Boden und schlief noch. Wenn sie nicht alles täuschte, schnarchte er sogar ganz leise. Ella musste ein bisschen schmunzeln. Das war ihre erste Aufheiterung seit Stunden. Aber so schnell, wie ihre gute Laune gekommen war, verschwand sie auch wieder. Sie hatten weder etwas zu Essen, noch zu Trinken, und zudem hatte keiner von beiden eine Ahnung wo genau sie hier waren. Wie weit war das Gebäude weg, in dem sie den angeschossenen Mark zurückgelassen hatten? Sie bemerkte, dass sie dabei war, sich die gleichen Fragen wie am Tag zuvor zu stellen. Es war ihr egal. Wo war Marko? Und was war mit Franziska? Sie wollte Antworten – aber gleichzeitig auch nicht. Sie konnte sich das nicht erklären. Sie wollte wirklich wissen, wie die Dinge in ihrem ehemaligen Gefängnis standen, aber sie wollte auch so viel Abstand wie möglich zwischen sich und diesen Ort des Schreckens bringen. Lukas drehte sich leise etwas murmelnd auf die Seite. Ella sah wieder zu ihm, soweit es ihr manipulierter Körper ihr erlaubte, und bemerkte so, dass etwas in seiner Hosentasche steckte. Es sah aus, wie ein Stück Papier, jedoch arg mitgenommen. Wie gern hätte sie es jetzt in die Hand genommen und betrachtet! Aber auf ihren Versuch, ihren Arm zu bewegen, passierte wieder einmal nichts. War es abhängig von der Situation, ob sie sich bewegen konnte oder nicht? Irgendein Faktor musste doch dafür sorgen, dass sich ihr Wille gegenüber den Metallknochen durchsetzte. Aber was genau das sein könnte, darüber konnte sie leider nur spekulieren. Schon wieder eine Frage, deren Antwort sie erfahren wollte! Ella seufzte leise und besah sich wieder ihre Umgebung. Der Wald war dicht, die Bäume riesengroß. Nichts, was sie nicht schon festgestellt hätte. Und es war still, so unheimlich still. Auch jetzt, am Morgen, hörte sie nicht einen einzigen Vogel zwitschern oder andere Tiere durch das Unterholz kriechen. Irgendetwas musste an diesem Ort vorgefallen sein, dass jedes Lebewesen vertrieben hatte. Und erneut hatte sie eine Frage ohne Antwort. Vielleicht sollte sie aufhören, nachzudenken, sonst würde sich ihre Stimmung immer mehr verschlechtern und sie konnte dann nicht garantieren, dass sie Lukas nicht anfahren würde, wenn er aufwachte. Sie hoffte, dass er nicht mehr lange schlief, auch wenn sie ihm die Ruhe durchaus gönnte. Trotzdem, sie mussten wissen wie es jetzt weitergehen sollte. War weiter durch den Wald irren eine Option? Lukas regte sich erneut. Er drehte sich wieder so, dass er in ihre Richtung blickte und öffnete dann langsam die Augen. „Hey.", sagte Ella leise. „Hey." Er gähnte und setzte sich auf. Der Dreck, mit dem er bedeckt war, schien ihn wenig zu kümmern. „Wir haben es echt geschafft." Lukas klang beinahe ungläubig. „Ich kann es auch noch nicht ganz glauben. Aber wie soll es jetzt weitergehen? Wir brauchen bald irgendetwas zu Essen und Wasser. Ich weiß nur nicht, ob es sinnvoll wäre, dass wir weiter ohne jeglichen Plan durch den Wald irren." Lukas streckte sich für einen Moment, ehe er aufstand. Dann schien ihm etwas klar zu werden. „Sag nicht, dass du vorhast zurückzugehen! Das wäre Selbstmord, Ella, Selbstmord. Drehst du jetzt vollkommen durch?" „Nein!", entgegnete sie entrüstet. Aber da sie befürchtete, dass ein neuer Streit zwischen ihnen entfachen würde, senkte sie ihre Stimme und versuchte, ruhig zu bleiben. Sie wollte nicht noch eine Auseinandersetzung mit Lukas riskieren. „Das habe ich doch nicht gesagt. Aber es wäre eine Chance, zu überleben. Mark und Franziska brauchen doch schließlich auch Sachen, um zu überleben. Sie haben sicherlich irgendwo etwas gelagert." Lukas atmete laut aus und rieb sich über das Gesicht. Er war noch immer müde, und auch er wollte sich nicht erneut mit Ella streiten. Also gab er, mehr oder weniger, nach. „Wir sollten vielleicht erst einmal weitergehen, okay? Mal sehen, was kommt. Das ist schließlich ein Wald, irgendetwas findet man hier immer." Er blickte sich suchend nach der Fernbedienung um. Ein weiteres Mal würde er Ella nicht so weit schleppen können. Er entdeckte das Gerät ein paar Meter weiter entfernt und hob es auf. Dann drehte er sich zu Ella um und ließ sie aufstehen. „Bist du bereit, zu gehen?", fragte er. „Wenn du es bist.", antwortete sie. Lukas nickte. „Lass uns einfach mal hier entlang gehen." Er schlug willkürlich eine Richtung ein und ließ seine Freundin neben sich her gehen. Er hoffte, dass sich eine andere Möglichkeit ergeben würde, als zurück zu Mark und Franziska zu kehren. Es war ein neuer Tag, vielleicht brachte dieser auch neue Hoffnung und neue Möglichkeiten.

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