Kapitel 28

„Lukas! Halt an!" Ellas Füße schleiften über matschigen Boden und hinterließen eine unebene Schleifspur darin. Das Licht, welches sie umgab, war nicht mehr ganz so hell, wie es durch das Fenster geschienen hatte, was sicher an den bedrohlich hohen und dunklen Bäumen lag. Das Gebäude, aus dem sie geflohen waren lag inmitten eines riesenhaften Waldes. Dunkle Baumstämme ragten wie Gitterstäbe um sie herum auf. Weder Lukas noch Ella hatten einen Blick zurück auf ihr Gefängnis geworfen. Sie hatten nur weggewollt. „Lukas!", rief Ella erneut und endlich schien ihr Freund sie gehört zu haben. „Was?", fragte er und blieb stehen, vollkommen außer Atem. „Ich glaub wir haben uns verlaufen.", wisperte sie. Erst jetzt schien Lukas ihre Umgebung bewusst wahrzunehmen. Verwirrt drehte er sich langsam um sich selbst. Die hohen Nadelbäume warfen lange Schatten zu ihnen hinunter. „Wo sind wir? Hast du dir den Weg zurück gemerkt?", fragte Ella, obwohl sich sicher war, die Antwort zu kennen. Lukas war wie in einem Tunnel gewesen, nur darauf fixiert, so schnell wie möglich größtmöglichen Abstand zwischen sich, ihr und dem angeschossenen Mark zu bringen. „Nein." Lukas ließ sich langsam neben ihr auf dem Boden nieder, mitten in den Matsch. Es war ihm egal. Sie waren entkommen, das war das Einzige, was zählte. Seine Finger zitterten leicht und seine Beine fühlten sich an wie Pudding. Ella ließ ihren Blick durch die Umgebung wandern. Ob Mark wohl tot war? Sie wusste nicht, wo genau der Schuss ihn getroffen hatte. Er könnte immer noch leben und voll Rache auf sie warten. Dass er ihnen angeschossen gefolgt war, schloss sie aus – obwohl die Möglichkeit bestand. Hass und Wut konnten ein ungeahnter Ansporn sein, vor allem wenn so viel auf dem Spiel stand. Mark musste, sofern er tatsächlich noch lebte, davon ausgehen, dass sie einen Weg durch den Wald fanden und dafür sorgten, dass er zum zweiten Mal ins Gefängnis wanderte. Und Franziska würde mit ihm gehen. Was war überhaupt mit ihr, oder Marko? Hatte ihr Freund, der sich für sie beide auf die Grünhaarige geworfen hatte, es ebenfalls geschafft zu entkommen? Oder war er immer noch in diesem seltsamen und schrecklichen Gebäude? Lukas schienen ganz ähnliche Gedanken zu plagen. „Denkst du ich habe ihn umgebracht?", fragte er leise und sah auf seine Hände. Seine Finger bebten immer noch. Er hatte den Abzug gedrückt. „Ich weiß es nicht.", murmelte Ella. Unsicher streifte ihr Blick erneut die umstehenden Bäume, soweit es ihr möglich war. Selbst wenn Mark noch so widerliche und böse Absichten gehabt hatte, wenn er tot war hatte Lukas möglicherweise ein Menschenleben auf dem Gewissen. Sie schwiegen wieder, gingen das gesamte Geschehen noch einmal in ihren Köpfen durch. Der Schreck und Schock saß noch immer tief. Sie mussten erst einmal verarbeiten, was passiert war. Wie sollte es jetzt überhaupt weitergehen? Sie hatten keine Nahrung und kein Wasser und waren im Wald verloren gegangen. Wie lange würden sie überleben können? Waren sie Franziska und Marks Händen entkommen, um dann hilflos in irgendeinem Wald zu sterben? Vielleicht wäre das Leben als Roboter besser gewesen? Ella verbot sich, so etwas erneut zu denken. Niemals! Alles war besser, als ein willenloser Sklave zu sein! „Es ist so ruhig hier, nicht?", wisperte Lukas plötzlich. „Es sind keine Vögel oder andere Tiere zu hören." Ella spitze ihre Ohren. Er hatte Recht. Außer dem leichten Rauschen des Windes durch die Bäume war nichts zu hören. „Seltsam.", sagte sie. „Ich finde es unheimlich. Als wäre alles Leben geflohen oder so. Vertrieben, tot vielleicht." Danach kehrte das Schweigen zwischen ihnen zurück. Langsam wurde es dunkler, die Sonne die irgendwo außerhalb ihrer Sicht hinter den Bäumen sein musste, ging unter. Es wurde Nacht. Die Dunkelheit kroch mit bedrohlicher Beharrlichkeit um Lukas und Ella herum, schien sie zu umkreisen, wie ein Raubtier seine Beute. Lauernd und gefährlich. Vielleicht tödlich. Auch die Temperatur nahm ab und es wurde von Minute zu Minute kälter. Beide rutschten näher aneinander, um sich ein bisschen gegenseitig zu wärmen. Gänsehaut kroch über ihre Arme, Schauer liefen ihre Rücken hinunter. Am Himmel erschienen die ersten Sterne, kleine helle Punkte, die zwischen den Baumkronen auftauchten und ein bisschen Licht in die immer dunkler werdende Nacht brachten. Auch wenn sie nur für wenig Helligkeit sorgten, machten sie etwas Hoffnung. Noch war nicht alles verloren. Sie hatten immer noch eine Chance. Zwar eine kleine, aber es war besser als nichts. Irgendwann, als alles um sie herum zu einem dunklen schwarzen Schatten verschmolz, ergriff Lukas Ellas kalte Hand. Es war ein tröstliches Gefühl, dass ihr sagte, dass sie nicht allein war. Irgendwie würden sie das schon schaffen. Sie waren beide bereits so weit gekommen. Nicht ohne Verluste, aber deshalb war noch nicht die Zeit zum Aufgeben. Sie mussten weiterkämpfen, einen Ausgang aus diesem Wald finden und Hilfe suchen. Und dann dafür sorgen, dass die anderen Roboter gerettet wurden. Ella versuchte den Druck gegen Lukas Hand zu erwidern und hatte das Gefühl, dass es tatsächlich ein bisschen funktionierte und sich ihre Finger etwas um seine krümmten. Je länger sie in der Dunkelheit saß, des do weniger gefährlich erschien sie ihr. Die Stille der Umgebung war auf ihre Weise erdrückend, aber es beruhigte sie, dass sich mehr und mehr Schatten aus der einheitlichen Schwärze herauskristallisierten. Und Lukas war neben ihr. Das war der Punkt, der Ella am meisten beruhigte und ihr neue Hoffnung gab. Sie war nicht allein. 

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