Kapitel 19

Die Zeit verging. Minute um Minute verstrich, die Ella immer noch regungslos im Flur stand und auf die Stelle starrte, an der Lukas um die Ecke verschwunden war. Sie fühlte sich so einsam und verlassen, wie noch nie in ihrem Leben und wünschte sich einmal mehr, dass alles hier nicht die Wirklichkeit war. Wie gern hätte sie sich mit ihrem Freund ausgesprochen, ihm gesagt, dass sie nicht gemeint hatte, was sie sagte. Dass sie hier drinnen einfach ihre Emotionen nicht mehr so unter Kontrolle hatte und dass sie einfach nur gern zusammen mit Nummer 5 geflohen wäre. Ob Lukas wohl einen Ausgang gefunden hatte? Würde er zurückkommen, und ihr Bescheid geben? Sie sogar mitnehmen? Oder würde er gehen, ganz allein, und auf nimmer Wiedersehen verschwinden? Das jedoch traute sie Lukas nicht wirklich zu. So ein Mensch war er einfach nicht, da war sie sich ziemlich sicher. Wenn er einen Ausgang fand und nicht zurückkehren wollte, würde er zumindest Hilfe holen. Ella atmete einmal tief durch. Sie durfte nicht mehr hier rumstehen. Franziska könnte kommen, Mark auch, oder noch schlimmer, beide. Es war besser, wenn sie ebenfalls versuchte, voranzukommen, anstatt hier mehr oder weniger darauf zu warten, dass man sie fand. Gerade in dem Moment, als sie das dachte, vernahm sie Schritte. Nicht nur schnelle Schritte, wie wenn es jemand einfach nur eilig hatte, sondern Schritte, als würde jemand rennen. Jemand kam von hinten auf sie zu gerannt und sie konnte nicht sehen wer! Sofort tippte sie auf Franziska. Hatte sie womöglich Nummer 5 gefunden? Hatte sie Nummer 12, oder das was von ihr übrig geblieben war, entdeckt? Ellas Hand schloss sich um die Fernbedienung. Sie wusste, dass sie sie nicht bedienen konnte. Mit einer Hand halten und steuern war undenkbar. Sie bereitete sich mental auf Franziskas gehässige Miene vor, ihre höhnische Stimme, wie sie sie mit triumphierenden Blick über die Gänge schleifen würde. Die Schritte wurden nicht langsamer und sie meinte, nun auch keuchenden Atem zu hören. Dann näherte sich ein Schatten. Ella sah ihn über den Boden huschen und rasch größer werden. Sie atmete tief ein um die verhasste Grünhaarige mit der Hakennase mit einem entschlossenen Blick und ruhiger Miene zu empfangen. „Steh da nicht rum Ella! Wir müssen weg!" Der Schatten überholte sie und kam schlitternd vor ihr zum Stehen. Ella klappte der Mund auf. „Nummer 5?" Ihr Gegenüber nickte nur knapp und warf dann einen Blick nach hinten. „Franziska kommt. Fernbedienung?", redete er mit gesenkter Stimme weiter, aber Ella fiel es schwer, die Worte zu verstehen. Nummer 5 hatte sich sicher schon lange nicht mehr bewegt und hatte deshalb auch keine allzu gute Kondition. Er schnaufte wie eine Eisenbahn, auch wenn er versuchte, seinen Atem ruhig und leise zu halten. Ehe sie antworten konnte entdeckte Nummer 5 die Fernbedienung in ihrer Hand und nahm sie. Für einen Moment ließ er einen irritierten Blick über die Knöpfe und Schalter wandern. Dann jedoch steckte er das Gerät in seine Hosentasche, ehe er Ella - so gut wie es mit seiner funktionierenden Hand möglich war – packte und mit sich den Gang entlang zog. Halb schleifte und halb trug er sie, aber sie kamen nicht allzu schnell voran. „Wo ist überhaupt Lukas hin?", murmelte Nummer 5, während er immer wieder einen vorsichtigen Blick nach hinten warf, um festzustellen, ob Franziska sich bereits näherte. Von seiner seltsamen Starre, die ihn zuvor befallen hatte, war nichts mehr zu sehen. „Wir haben uns, naja, gestritten.", antwortete Ella kleinlaut und zog scharf die Luft ein, als Nummer 5 ihr fast die Rippen zerquetschte, während er versuchte, sie um die Ecke zu ziehen, hinter der Lukas vorhin ebenfalls verschwunden war. „Sorry." Ihr Begleiter blieb für einen Moment stehen und sah sich um. Dann schien ihm etwas bekannt vorzukommen und er eilte wieder los. Ella wusste, dass sie durch ihre Metallknochen sehr schwer sein musste und sie fand es außerordentlich von Nummer 5, dass er seine eh schon rare Kraft verschwendete, indem er sie mitschleppte. Irgendetwas musste sich bei ihm verändert haben. Sie erinnerte sich an den Anfang, als er sie und Lukas fast angefleht hatte, ihr Gespräch zu unterbrechen und sich ihrem Schicksal zu fügen. Wie lange war das jetzt her? Mehrere Stunden? Ein Tag war bestimmt noch nicht vergangen, hoffte sie zumindest. Nichtsdestotrotz hatte sich etwas bei Nummer 5 verändert. Es war, als wäre sein längst erloschener Kampfgeist wiedererweckt. „Da rein." Nummer 5 hielt an und setzte Ella auf dem Boden ab, ehe er versuchte, eine Tür zu öffnen. Es war eine von vielen auf diesem Gang und sah so aus, wie die, die Ella bereits kannte, von der Tür dieses Theatersaales mal abgesehen. Nummer 5 stemmte sich dagegen und nach ein paar Sekunden gab sie nach. Der Raum dahinter lag in Dunkelheit und warme Moderluft strömte auf den Gang. Ella zog die Nase kraus. Das roch fast so schlimm, wie, als sie Nummer 12 gefunden hatten. Nur nicht ganz so nach Leiche. Nummer 5 zog sie mit sich und schloss leise die Tür. Da er mit seinem Glasauge im Dunkeln sehen konnte, war es nicht wirklich verwunderlich, dass er sich weiter in den Raum hineinbewegte. Wahrscheinlich kannte er hier ein Versteckt. Ellas Finger strichen über staubigen Boden. Wie widerlich. Wer weiß, was hier noch alles auf den Fliesen klebte und sie im Dunkeln nur nicht sehen konnte. Als sie bemerkte, dass Nummer 5 langsamer wurde, spitzte sie die Ohren und versuchte zu lauschen, ob irgendetwas aus dem Gang zu hören war. Aber der Atem ihres Begleiters war das einzige Geräusch, das an ihre Ohren drang. Sie ließ sich von Nummer 5 an eine Wand – oder irgendetwas anderes anlehnen – und merkte, wie er sich neben sie setzte. Beide schwiegen, keiner wagte es, jetzt noch ein Wort zu sprechen. Franziska konnte jeden Moment auftauchen und wenn man durch die Türen schon Schritte auf weitere Entfernung hören konnte, dann war das bei Stimmen sicher genauso. Während des Schweigens beruhigte sich Nummer 5's Atem wieder, dafür aber begann Ellas Herz, vor Anspannung immer schneller zu schlagen, bis sie das Gefühl hatte, man würde auch das von draußen hören. Plötzlich spürte sie, wie Nummer 5 sie hart am Arm packte. Er hatte etwas gehört. Sie hatte das Gefühl, dass sich ihre Anspannung in der Luft verbreite, sie schwer machte und ihre Lungen nicht mehr richtig füllen wollte. Sie zwang sich, trotzdem ruhig und leise weiter zu atmen, während sich die Fingernägel von Nummer 5 in ihren Arm gruben. Ihr Herz raste, als wäre sie eben einen Marathon gelaufen und sie fühlte, wie sie zu schwitzen begann. Es war unglaublich warm in diesem Raum, dazu ihre eigene Körperwärme und noch die von Nummer 5. Und dann hörte Ella es auch. Schritte. Dieses Geräusch, was ihr mittlerweile so unheimlich war und so viel Angst bereitete. Schritte zu hören waren schlimmer, als der grausamste und gruseligste Horrorfilm, den sie je gesehen hatte, schlimmer, als alle ihre Ängste vereint. Je näher die Schritte kamen, des do wärmer schien es zu werden, die Luft im Raum war zum Schneiden dick. Und dann war es plötzlich wieder still. Als wäre nie etwas gewesen. Ella bemerkte, wie sich die Härchen an ihren Armen aufstellten. Da stimmte etwas nicht. Sie hielt unweigerlich den Atem an. Und dann begann jemand, zu sprechen.

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