Kapitel 17

„Du hast ein Glasauge, wie Mark!", rief sie leise aus. Nummer 5 sah sie fragend an. „Wer ist Mark?" „Der Mann. Von Franziska.", antwortete sie. Nummer 5 seufzte. „Ja ich habe ein Glasauge. Wie der Mann. Das bekommt jeder Roboter. Genauso wie die Nummer am Handgelenk." Er hielt sein Handgelenk hoch und daran wurde die Narbe sichtbar. Eine 5 pragte dort. Das Brandzeichen, anders konnte man das ja nicht nennen, erinnerte Ella an ihre 13 auf ihrem eigenen Handgelenk. Und Lukas? Hatte er auch schon seine Nummer bekommen? Sie blickte sich nach ihrem Freund um. Er kniete immer noch auf dem Boden vor dem Tisch und schien angestrengt über etwas nachzudenken. „Warum hast du noch keines?" Sie schaute wieder zu Nummer 5. „Kein was?", fragte sie. Worauf wollte er hinaus? „Glasauge. Ich meine, du hast das Tuch da über der linken Gesichtshälfte. Also hat man es dir nicht eingesetzt, richtig? Aber das Ding hat zumindest einen Vorteil." Ella konnte sich das nicht ganz vorstellen. Welchen Vorteil sollte wohl ein künstliches Auge gegenüber einem echten haben? Als Lukas ihr über sein „Gespräch" mit dem Mann erzählt hatte, meinte er doch, dass Mark gesagt hätte, er könnte zwar sehen, aber nicht ganz so scharf. Aber vielleicht lag das nur daran, dass er zuvor blind gewesen war. Sie wusste es nicht. „Du kannst damit im Dunkeln sehen. Deshalb wusste ich immer, was ihr gemacht habt und konnte Lukas zum Beispiel beim finden des Lichtschalters helfen.", erklärte Nummer 5. Doch so richtig glücklich über seinen kleinen „Vorteil" war er nicht. „Das mag vielleicht praktisch sein, aber es ist unschön, das Auge mit einem Löffel bei vollem Bewusstsein entfernt zu bekommen nur damit man am Ende im Dunkeln sehen kann!", zischte Ella. Plötzlich sprang Lukas auf und schnipste mit dem Finger. „Ich hab's! Ich weiß, was mir die ganze Zeit über nicht einfallen wollte!" Nummer 5 sah ihn verwirrt an und auch Ella wusste nicht, was genau er damit sagen wollte. Ihre Wut, die gerade noch in ihr aufgestiegen war, verflüchtigte sich rasend schnell wieder. „Ganz am Anfang hat der Mann Ella doch von dem Tisch runter gestoßen. Und dabei hat es leicht gehallt." „Erinnere mich bitte nicht daran.", murmelte Ella, doch Lukas redete einfach weiter. „Da ist ein Hohlraum oder so etwas unter den Fliesen!" „Wie bitte?", sagte Nummer 5 ungläubisch. „Wenn wir Glück haben sogar ein Tunnel, der uns hier rausbringt!" „Ich glaube du spinnst dir da was zusammen. Das ist vollkommen absurd!" „Aber schau doch mal Nummer 5." Lukas stampfe ein paar Mal auf den Boden. Dann entfernte er sich ein paar Schritte von dem Tisch und wiederholte die Bewegung. Tatsächlich klangen die Fliesen anders. „Ich sage, da ist was drunter.", erklärte er und senkte die Stimme, weil ihm auffiel, dass sie mit jedem gesprochenem Wort lauter geworden waren. „Aber wir haben keine Zeit, da auch noch zu graben!", mischte sich Ella wieder ein. „Ich kann nicht mithelfen und ich wette, Franziska weiß längst, dass ich weg und ihr Mann bewusstlos geschlagen worden ist. Sie wird uns suchen. Uns läuft die Zeit weg!" „Einen Versuch ist es trotzdem wert.", verteidigte Lukas seine Theorie von einem Fluchttunnel. Er bräuchte doch nur ein paar Fliesen wegmachen. Sein Blick fiel auf den Schrank an der Wand, aus dem Mark die Betäubungsspritze geholt hatte. Vielleicht war da etwas Nützliches drin. Er riss die Tür auf und wäre fast von einem Aschenbecher getroffen worden, der aus dem Chaos, welches in dem Schrank herrschte, rutschte und auf dem Boden zu zerschellen drohte. Im letzten Moment fing Lukas ihn noch auf. Zu viel Lärm sollten sie nicht veranstalten. „Lukas hör auf damit!", flüsterte Ella eindringlich. Für einen Moment war er sogar ein wenig froh darüber, dass sie sich nicht bewegen konnte, sonst hätte sie ihn bestimmt vom Schrank weggerissen. Aber es war gemein, so etwas zu denken. Lukas sah irgendwelche leeren Plastikverpackungen, Spritzen, eine fast leere Flasche mit dem grünen Zeug, Kompressen, ein paar Sachen, die man gewiss für Operationen benötigte und diverse andere Dinge, die er nicht identifizieren konnte. Endlich fand er etwas recht nützliches. Es sah aus wie ein kleines Brecheisen. Was auch immer das Ding in diesem Schrank zu suchen hatte, er konnte es gebrauchen. Lukas griff vorsichtig in den Schrank und zog an dem Eisen, wobei ein paar bereits benutze und blutgetränkte Kompressen auf ihn fielen. Angewidert wischte er sie von sich und zog das Brecheisen ganz heraus. Nummer 5 und Ella folgten jeder seiner Bewegungen mit argwöhnischen Blicken. Lukas versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie unwohl er sich durch ihre Beobachtung fühle und kniete sich wieder vor den Tisch. Der Belag, der zwischen die Fugen der Fliesen geklebt worden war, war bereits ziemlich dunkel angelaufen und irgendetwas stank. Er wusste nicht, woher der Geruch kam, aber er hing ihm in der Nase und lenkte ihn gehörig ab. Lukas versuchte, sich zusammenzureißen und begann mit dem Brecheisen am Boden herum zu kratzen. Er hatte Glück und die dunkle Masse ließ sich ziemlich leicht aus den Fugen entfernen. Bald hatte er eine ganze Fliese freigelegt und konnte sie herausheben. Darunter befand sich nur Dunkelheit und ein Schwall stinkender, warmer Luft kam ihm entgegen. Deshalb roch es also so ekelig. Der Geruch kam von unten. „Da hab ihr es. Einen Hohlraum. Oder ein Fluchttunnel.", sagte er triumphierend und machte sich an die nächste Fliese. Nummer 5 trat ein paar Schritte vor. „Du hast recht!", bemerkte er überrascht, ehe er sich neben Lukas niederlies und ebenfalls begann, den Belag abzukratzen. Er hatte ziemlich lange und teilweise abgebrochene Fingernägel. Gut, er hatte sie hier wahrscheinlich nie schneiden können und gewiss auch andere Probleme, als sein Aussehen. Während beide immer mehr Steine entfernten und das Loch im Fußboden immer größer wurde, stand Ella immer noch so, wie sie hingestellt worden war und sah beiden zu. Sie verkniff sich einen Kommentar darüber, hier nicht mehr so untätig herumstehen zu wollen und versuchte stattdessen, nach draußen zu lauschen und zu hören, ob sich jemand näherte. „Da ist was drin!", rief Lukas plötzlich aus. „Das glänzt." Sie konzentrierte sich wieder auf die beiden. „Was ist es?" Nummer 5 stand auf und starrte von oben herab in das Loch. Lukas stellte sich neben ihn. „Leute? Was ist da?" Ella versuchte sich zu recken, um irgendetwas zu erkennen. Lukas wandte sich schließlich ab und holte die Fernbedienung. Dann ließ er sie an das Loch herantreten, hielt selbst aber Abstand. Ella warf ihm einen dankbaren Blick zu, als sie neben Nummer 5 zum Stehen kam. Dann schaute sie hinunter. „Oh mein ...", sie sprach nicht zu Ende. „Ich denke, wir haben soeben Nummer 12 gefunden.", murmelte Nummer 5 und drehte sich nun ebenfalls weg. Ella schluckte, konnte aber den Blick nicht von dem wenden, was Lukas und Nummer 5 freigelegt hatten. In dem Loch unter den Fliesen war ein Skelett zum Vorschein gekommen. Die Knochen glänzten silbern und schienen ganz aus Metall zu bestehen. An manchen Stellen hing noch der Rest verrottender Haut oder Muskeln, was den üblen Gestank erzeugte, der inzwischen den ganzen Raum ausfüllte. Selbst der Schädel schien aus Metall zu bestehen und Ella begriff, was der Fehler gewesen war. Franziska und Mark hatten auch den Kopf steuern wollen und deshalb den Schädel ebenfalls durch einen aus Metall ersetzt. So war Nummer 12 gestorben. Bei dem Versuch, ihr einen Metallschädel einzusetzen. Und dann war sie hier vergraben worden. Unter ihren Füßen. Sie hatte über der Leiche gelegen. 

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