Epilog
Warum musste Trauer so unendlich sehr wehtun? Warum musste es ihm nur solche Schmerzen bereiten? Sein Leid war nicht vergleichbar mit dem, was ihm vor sechs Jahren zugestoßen war. Es war tausend Mal schlimmer. Lukas stand auf dem Friedhof, einen schwarzen Schirm über seinem Kopf, auf den geräuschvoll der kalte Herbstregen prasselte. Seine Schuhe waren bereits vollkommen durchnässt und schlammbesudelt, aber er wollte noch nicht gehen. Er konnte noch nicht gehen. Seine Füße bewegten sich nicht. Nur noch einen Moment länger. Er stand nur da, still und bleich wie eine Statue, und starrte auf das zierliche Grab zu seinen Füßen. Der dunkelgraue Stein war bereits an manchen Stellen von Moos befallen und einige Schlingpflanzen wanden sich um ihn herum. Trotzdem sah das Grab noch immer ordentlich aus. Er hatte sich darum gekümmert, so gut es ihm möglich gewesen war. Lukas Blick wanderte über die sanft geschwungenen Buchstaben, die in den Stein gemeißelt worden waren. Ihr Nachname war nicht wichtig für ihn, es war nur der Vorname der zählte. Ella. Es hätte sie nicht treffen dürfen. Niemals. Es hätte keinen der Roboter treffen dürfen. Es, sein unausgesprochenes Wort für Tod. Niemand hatte das Leben mehr verdient, als sie. Und vielleicht hätte er es verdient. Vielleicht hätte er ebenfalls verdient, tief unten in der dunklen, kalten Erde zu liegen. Aber er stand hier, so lebendig wie nie zuvor – zumindest hatte dies nach außen den Anschein. Im Inneren hatte er das Gefühl, dass etwas fehlte, dass ein Teil von ihm verfault und abgestorben war. Seitdem Ellas Seele ihre Welt verlassen hatte, waren fünf Jahre vergangen. Ein einziges, viel zu kurzes Jahr hatte er noch mit seiner Freundin und Leidensgenossin verbringen dürfen. Ein Jahr, in dem man vergeblich versucht hatte, sie zu „heilen". Aber hinter Ellas Rücken hatte man Lukas gesagt, dass sie kaum Überlebenschancen hatte. Ihr Körper war einfach nicht für ein Leben mit einem Metallskelett ausgelegt gewesen. Die Theorie hatte sich als wahr erwiesen. Ellas Körper hatte den fremden Stoff, das Metall, nicht angenommen und deshalb dagegen Angriffsmaßnahmen eingeleitet. Die ausgesandten Stoffe begannen, das Metall aufzulösen und porös zu machen. Ihr Körper wurde Stück für Stück vergiftet und zerstörte sich selbst. Ein tödlicher Prozess von fehlgeschlagenem Selbstschutz. Lukas umklammerte den Griff des Regenschirmes etwas fester, hielt sich daran fest als wäre es sein rettender Anker in einem tobenden Sturm aus den Gefühlen des Verlustes. Er war noch immer nicht bereit, zu gehen. Denn dieses Mal war ihm klar, dass er nicht mehr wiederkehren würde, wenn er ihrem Grab den Rücken zuwandte. Heute war sein letzter Besuch – und er war bereit dazu, loszulassen, sich endlich weiterzubewegen. Nur brauchte er dafür eben noch einen Moment länger. Nachdem sie gerettet wurden waren, hatte man den Fall der beiden aufgenommen. Lukas war für den Mord an Mark nicht ins Gefängnis gegangen, da seine Tat als ein Delikt der Notwehr eingestuft wurde. Dafür hatte man ihn, und auch Ella, in eine psychiatrische Behandlung geschickt, um das Trauma zu verarbeiten, dass sie während ihrer Zeit als „Roboter" erlitten hatten. Lukas konnte sagen, dass es ihm mittlerweile wieder mehr als gut ging; sein Leben war eigentlich genauso normal wie das jedes anderen Menschen. Irgendwann hörte er in der Ferne eine Autotür zuschlagen und dann näherten sich ihm schnelle, patschende Schritte. Dann klammerten sich zwei dünne Ärmchen um sein Bein und eine kleine Gestalt mit triefend nasser Kleidung sah aus großen grünen Augen zu ihm auf. „Wann kommst du wieder zurück ins Auto, Papa?" Lukas lächelte leicht und strich dem Mädchen durch ihre dunklen Haare, die ihr überall im Gesicht klebten. „Gleich mein Liebling.", antwortete er. Es erstaunte ihn jedes Mal, wie sehr seine Tochter doch Ella ähnelte. Das lag hauptsächlich daran, dass auch seine jetzige Frau seiner verstorbenen Freundin nicht unähnlich sah. Er hatte sie während seiner Zeit in der Therapie kennengelernt und sie waren kurz nach Ellas Tod zusammengekommen. Er war sehr glücklich mit ihr – sie machte sein Leben heller und leichter. Aber er hätte sich für Ella ein eben solches Glück gewünscht. Sie hätte es am meisten verdient. Seine Tochter deutete auf den Grabstein. „Wer war das?", fragte sie neugierig. Lukas hatte den Friedhof schon oft besucht, aber seine Familie hatte er nie mit hier her gebracht. Heute war eine Ausnahme, weil er sich endgültig verabschiedete. „Sie hieß Ella.", antwortete er. „Sie war . . .", er suchte nach den richtigen Worten, um sie zu beschreiben, „jemand der mir sehr wichtig war." Alles andere konnte er ihr erklären, wenn sie alt genug dafür war. Die Geschichte darüber, was ihm und Ella damals zugestoßen war, war noch nichts für so ein kleines Mädchen. Lukas betrachtete sie nachdenklich. „Du erinnerst mich sehr an sie." Die Kleine lächelte ihn an, als wusste sie, dass Ella ihm viel bedeutet hatte und dass es etwas Gutes war, wenn sie ihr ähnelte. Lukas atmete tief ein und sah zum letzten Mal auf Ellas Grab. Es war an der Zeit, zu gehen. Als sich sein Blick von endlich von dem Stein löste, ging er in die Knie und nahm seine Tochter auf den einen Arm, während er mit der anderen weiterhin den Regenschirm über ihrer beiden Köpfe hielt. „Na los, wir wollen deine Mutter ja nicht mehr allzu lange warten lassen." Damit stand er auf, während sich das Kind an seine Schulter schmiegte, und machte sich über den matschigen Weg zurück zu einem Auto, das vor dem Friedhof mit laufendem Motor an der Straße parkte und in dem seine Frau auf ihn und ihr Kind wartete. Und so verließ er Ellas letzte Ruhestätte ohne noch einen weiteren Blick zurück zu werfen, während der Regen weiterhin auf seinen Regenschirm trommelte und graue, schwere Wolken den Himmel bedeckten. Ja, Trauer war schmerzhaft.
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