5. Paramore - »Brick by boring Brick«


https://youtu.be/Zzfn_39_SfM


Nat – im Spätsommer zuvor

Nervös dribbelten meine Finger auf dem angespannten Oberschenkel. Zum gefühlt hundertsten Mal strich ich mir durch meine blonden Locken, bevor ich meine Hand vorsichtig wieder auf Sarahs Schultern legte. Ich konnte mich einfach nicht dazu durchringen zu entspannen, egal wie oft ich den Versuch startete.

Am Steuer saß Johnny und summte zur Musik im Radio, was Sarah vor zwei Stunden hatte einschlafen lassen und mich ebenfalls etwas ruhiger gemacht hatte. Er tat das, seit ich ihn kannte, und versetzte mich dadurch in eine Zeit zurück, in der es zwar nicht immer leicht, aber noch nicht alles den Bach runtergegangen war.

Bevor wir eingestiegen waren, hatte ich angeboten, das erste Stück zu fahren, aber Johnny hatte bloß feixend abgelehnt und großspurig gemeint, er kenne das Land wie seine Westentasche und ich solle lieber ein wenig dösen.

Ich wusste, ihm war ebenfalls klar, wie sehr mir das bevorstehende Treffen an die Nieren ging, ohne es zu sagen. Er kannte mich neben Sarah wie kein anderer, doch Sarah redete mit ihm über die Geschehnisse der letzten Monate, konnte es dadurch verarbeiten. Ich nicht. Auch wenn es die beiden immer wieder anboten. Doch ich hatte kein Recht dazu, mir das alles von der Seele zu reden, mich danach womöglich besser zu fühlen. Es war alles meine verdammte Schuld, also sollte ich es spüren und leiden, jede verfluchte Minute. Die Schuldgefühle waren Teil jedes Atemzugs, jeder Bewegung und, so verrückt es klang, irgendwie fühlte sich das genau richtig an.

Natürlich versuchte ich diese Gedanken zu verbergen, indem ich mich an Gesprächen beteiligte, mit ihnen lachte und versuchte Scherze zu treiben, aber manchmal sah mich einer der beiden so an, als könnten sie meine dunklen Gedanken erahnen. Vermutlich wusste Johnny über meine Schlafprobleme Bescheid und hoffte, dass ich wenigstens im Auto eine Weile pennen würde. Was aber unmöglich war, dazu rasten meine Gedanken zu sehr, so wie damals, als ich im Wagen gesessen hatte und der Baum immer näher ...

Plötzlich legten sich warme Finger auf meine zappelige Hand und umschlossen sie fest. »Tut mir leid, aber damit machst du mich echt nervös«, entschuldigte sich Sarah, die sich hochrappelte, da sie mit dem Kopf in meinem Schoß geschlafen hatte.

Ich zuckte ungerührt mit den Schultern. »Mir tut's leid. Ich konnte nicht schlafen. Habe ich dich geweckt?«

Sarah schüttelte den Kopf, was ihre braunen Locken zum Wippen brachte. »Ich glaube, so richtig habe ich auch nicht geschlafen, nur gedöst. Mir gehen so viele Dinge durch den Kopf. Was ist, wenn sie sich uns anders vorstellen? Wenn wir sie enttäuschen oder, ich weiß auch nicht, sie uns nicht mögen?«

Der Druck ihrer Finger um meine Hand wurde fester und am liebsten hätte ich sie umarmt, sie vor allem Schlechten bewahrt. Doch man musste nur in die Vergangenheit blicken, um zu sehen, wie sehr ich das bereits verkackt hatte. Daher strich ich nur kurz mit dem Daumen über ihren Handrücken und versuchte mich an einem breiten Lächeln.

»Das ist doch absurd. Du bist der liebenswürdigste und freundlichste Mensch, den ich kenne. Aufopferungsvoll und geduldig, sehr geduldig. Ich habe nämlich überhaupt keine Ahnung, wie du es sonst mit dieser Nervensäge da vorne aushalten würdest. Dafür gebührt dir eigentlich ein Orden. Ein großer! Mit Gold und so Glitzerzeugs drauf.«

»Hey, du Knalltüte, ich kann dich hören. Und Sarah weiß eben, was gut ist. Sag's ihm Baby, wie gut ich bin", bettelte er theatralisch und Sarah lächelte dümmlich neben mir. Ein Lächeln. Genau das, worauf ich und vermutlich auch Johnny gebaut hatten.

Ich drückte noch einmal ihre Hand, bevor ich sie losließ. »Keine Angst. Sie werden dich lieben. Das geht gar nicht anders. Außerdem sind wir bald da und dann kannst du dich selbst davon überzeugen, wie sehr sie dir verfallen sind und ich Recht habe.«

»Wow, Nat, bist du wie der Typ aus The Sixth Sense?«, fragte Johnny.

Verwirrt blickte ich nach vorne, wo ich im Rückspiegel Johnnys Blick begegnete. »Wieso?«

»Weil wir da sind. Gerade eben angekommen«, antwortete er, als der Wagen auch schon in eine Einfahrt abbog und zum Halten kam.

Johnnys Stimme klang gut gelaunt, obwohl die Anspannung darin und in der Haltung seiner Schultern zu sehen war. Konnte er durch unsere jahrelange Freundschaft ebenso leicht in mir lesen? Bei dem Gedanken wurde mir übel, doch anstatt darin zu verweilen, stellte ich eine blöde Frage, um die Realität noch einen Moment auf später zu verschieben. »Warum der Typ aus Sixth Sense? Der konnte doch tote Menschen sehen.«

»Echt? Ich dachte, das war ein Wahrsager«, gab Johnny zurück und Sarah lachte erneut. »Jungs, euch darf echt keiner zuhören.« An mich gewandt fuhr sie fort: »Johnny kennt sich nicht mit Filmen oder generell ... mit Fernsehern aus«, lächelte dabei aber in seine Richtung, der ebenfalls diesen Ausdruck im Gesicht hatte, als würden sie ein Geheimnis teilen.

Da das Glück der beiden förmlich durch den ganzen Innenraum des kleinen Autos schwappte, riss ich die Tür auf und sprang hinaus.

Die Einfahrt war gepflastert, links und rechts mit kleinen Büschen versehen, und führte direkt zur großen Hauseingangstür, die dunkelgrün gestrichen war. Mit goldenem Türklopfer, wie ich aus der Entfernung erkannte. Generell war das Haus größer als alles, in dem ich bisher gewohnt hatte – außer natürlich Kelseys Heim. Dort hatte alles andere Dimensionen, die mir noch immer nicht begreiflich waren.

Dennoch wirkte das Haus meiner Großeltern viel heimeliger. Es war zweistöckig, in hellem Grau gestrichen, wobei die Fensterläden in Dunkelgrün gehalten waren, und oben drauf saß ein dunkelrotes Dach, das vor allem durch zwei Dachgiebel an den Seiten besonders zur Geltung kam.

Das Gespräch neben mir ließ mich den Blick von dem Zuhause meines thailändisch stämmigen Vaters Nawin abwenden, da Sarah gerade Johnny erklärte, er könnte sehr wohl mitkommen.

Doch er winkte ab. »Lasst mal, ihr braucht etwas Zeit mit euren Großeltern. Alleine. Ich fahr in der Zwischenzeit ein wenig in der Gegend herum. Schau mal, wo ich einen Happen essen kann, und komme später wieder.«

Nachdem wir uns von ihm verabschiedet hatten und ich das nächste Mal zum Haus blickte, war die Tür offen und dort standen sie. Es gab sie tatsächlich – unsere Großeltern väterlicherseits: Malie und Praphat Muangyai. Egal ob wir schon miteinander telefoniert hatten, irgendwie hatte ich bisher immer noch Zweifel gehegt, dass es sie wirklich gab, wir doch noch nicht vollkommen auf uns alleine gestellt waren.

Sarah ging auf sie zu, redete ein paar Worte und umarmte sie sogar. Ich hingegen beobachtete die ältere, sehr schlanke und sehr kleine Frau vor mir. Die Größe hatte Sarah eindeutig von ihr, da ich und Mum sie schon immer um einen Kopf überragt hatten. Außerdem hatte Malie leicht schräge Mandelaugen, da sie halb Thai, halb Amerikanerin war, und deren Form mich an die Bilder meines Vaters erinnerten. Besonders jetzt, wenn sie lächelte und die faltigen, aber grazilen Hände über Sarahs Haare strichen, dabei einen verwunderten Ausdruck im Gesicht.

Ihr Mann Praphat – mein Großvater – wirkte grimmiger, obwohl er sichtlich von Gefühlen überwältigt wurde, was ich an seinem ständigen Schlucken und dem dünnen Strich seiner zusammengepressten Lippen erkennen konnte, im Versuch jegliche Freudentränen zurückzuhalten. Beschützend legte er einen Arm um Malie, als könnte diese Blase des Glücks jederzeit zerplatzen. Sie lächelte noch immer strahlend, wobei gleichzeitig ihr ganzes Gesicht tränennass war. Dass es Sarah genauso ging, musste ich nicht einmal überprüfen.

Und ich? Was fühlte ich, während ich das alles wie ein Außenstehender beobachtete und analysierte, als wäre das eine Reality-Show und nicht mein eigenes Leben? Nicht meine Großmutter, oder in diesem Fall meine Großeltern, die ich erneut nicht retten konnte. Nicht meine Schwester, die ich wieder enttäuschen würde. Alles in mir war stumpf, leer und es fühlte sich an, als gehörte ich nicht hierher. Könnte ich ihnen ein besserer Enkelsohn sein? Sollte ich sie in mein Leben lassen? Wollte ich das?

Diese Fragen wurden mir nicht beantwortet, stattdessen riss mich Malie ohne Vorwarnung in ihre dünnen Arme. »Oh, Nathan. Endlich sehen wir uns. Es ist so schön, dass ihr gekommen seid. Wir können euch nicht sagen, wie froh wir sind. Das ist alles noch so unglaublich. Wenn wir nur schon früher von euch gewusst hätten ...«

Sie lachte, weinte, und obwohl mein Oberkörperumfang es ihr schwermachte, mich vollständig zu umarmen – sie war wirklich kurz geraten -, drückte sie mich so fest, dass ich fast keine Luft mehr bekam. Diese Kraft hätte ich der kleinen Lady nicht zugetraut. Was ihr noch eine Ähnlichkeit mehr zu Sarah verschaffte, mich zum Lächeln brachte und endgültig meinen Widerstand brechen ließ.

Einmal strich ich über meine Hosentasche, in welcher der Brief steckte, den ich seit Wochen mit mir herumschleppte und der mich stets verfolgte. Dann ließ ich los und umarmte sie ebenfalls, als ich in das Haar meiner neu gefundenen Großmutter antwortete: »Danke, dass ihr uns eingeladen habt. Es ist schön, euch kennenzulernen.«


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