4. Snow Patrol - »Chasing Cars«


https://youtu.be/XaKr98ktoxU


Nat – Gegenwart

Am Montagmorgen schulterte ich meinen Rucksack, stieg aus dem Bus und kletterte die Stufen hinunter, wodurch ich direkt vor der Uni zum Stehen kam, auf den Eingang blickend. Hinter mir drängten weitere Leute aus dem Fahrzeug, links und rechts von mir ergoss sich ein Strom aus Studenten, die in die eine oder andere Richtung hetzten, als würde ihr Leben davon abhängen, pünktlich in den ersten Kurs zu kommen. Vor zwei Jahren war ich genauso gewesen. Beinahe der Erste im Kurs für angewandte Betriebswirtschaft zu meiner allerersten Vorlesung. Wie aufregend und wie wichtig mir die Ausbildung damals erschienen war.

Kurz schnaubte ich und schüttelte, mich selbst belächelnd, den Kopf. Obwohl die Krankheit und die Drogenprobleme meiner Mum mir schon immer zu schaffen gemacht hatten, war ich ein Idealist gewesen. Hatte versucht, die positiven Dinge zu sehen und mich nicht von der Verantwortung und den Sorgen niederdrücken zu lassen. Nachdem sie gestorben und fort war, waren diese Gefühle nicht verschwunden, ich fühlte mich nicht leichter, sondern war einfach nur in ein dunkles Loch gefallen. Alles um mich herum hatte an Bedeutung verloren. Die Menschen strahlten für mich weniger, waren von einem grauen Schleier überzogen. Ich fühlte mich sprichwörtlich wie begraben, nicht mehr richtig lebendig.

Daher blieb ich am Rand des Gehsteigs der Bushaltestelle mit dem Rücken zur Straße stehen, machte sogar einen Schritt an die Kante, als ich ein heranfahrendes Geräusch hörte und die Luft anhielt. Mit quietschenden Reifen kam der nächste Bus nur wenige Zentimeter hinter mir zum Stehen, was ich durch die Windböe spüren konnte, und die Gefahr schickte einen lebendigen Funken, einen Adrenalinschub durch meine Venen. Endlich gestattete ich mir wieder zu atmen, tief und fest.

Im selben Moment öffnete der Busfahrer die Tür und brüllte: »Hey, du Arschloch. Geh von der beschissenen Kante weg. Ich hätte dich beinahe über den Haufen gefahren. Wichser!«

»Danke«, meinte ich nur und ging endlich weiter.

Ich reihte mich zwischen die Meute aus Studenten voller farbenfroher Klamotten, die sich gegenseitig etwas zuriefen, sich auf die Schulter klopften, neben mir lachten und laut redeten, während ich durch sie hindurchsah und mich schweigend mit der drängenden Menge durch die Türen, die Gänge und in den Vorlesungssaal treiben ließ.

Eine Zeit lang hatte ich nach dem richtigen Wort gesucht, wie ich mich die meiste Zeit fühlte, bis mir die richtige Beschreibung entgegengesprungen war: Betäubt! Ein Gefühl, schwebend wie unter Wasser. Nur diese kurzen Momente bei Gefahr, vor dem Abgrund, wenn blitzartig für einige Sekunden Adrenalin durch meine Venen floss, spürte ich wieder etwas Anderes als dieses taube Dahinsiechen. Die Dauer dessen war immer viel zu kurz.

Wie auch jetzt, da ich längst wieder gefühllos auf meinem Platz beim Eingang, am Rand in der dritten Reihe des Saals saß und ohne nachzudenken das Skript sowie Stifte hervorholte. In gleicher Weise vergingen die nächsten Vorlesungen, ein Strudel aus unbedeutendem Stoff. Doch plötzlich, in der letzten Stunde vor der Mittagszeit, erweckte etwas meine Aufmerksamkeit.

Was nicht an einer grellen Farbe oder an einer lauten Stimme lag, wie jene, die durch den Raum hallten, sondern an der Bewegung. An diesem leichten Humpeln und dem langsamen Hochsteigen der Stufe, um zu einem Stuhl in der ersten Reihe zu gelangen.

Vorsichtig hob ich den Blick, genau in dem Moment, als sich das Mädchen, das ich vor zwei Tagen bei der Laufstrecke gesehen hatte, mit dem Blick auf den Boden setzte. Dabei hätte ich fast gelächelt, da unter all den vielen Sinneseindrücken gerade jemand meine Aufmerksamkeit erregte, der komplett schwarz gekleidet war. Der einzige kleine Farbklecks waren ihre rot-schwarz karierten Chucks.

Ich ließ meinen Blick auf der Person zwei Reihen vor mir ruhen. Dieser glitt dabei über die schwarzen, dicken Strümpfe, den knielangen Rock, Shirt und die beinahe hüftlangen, offenen Haare – alles schwarz. Doch ich hatte ihre Augen gesehen, und die waren von einem hellen Grauton.

Ich runzelte die Stirn. Über sie und darüber, mir überhaupt Gedanken zu machen. Noch während ich sie anstarrte, bewegte sie sich und nahm plötzlich eine angespannte Haltung an. Zuerst dachte ich, sie hätte meinen Blick gespürt, doch dann bewegte sie leicht ihren Kopf und ich sah in die gleiche Richtung – zu einer anderen Studentin, die durch die Tür herein stolzierte, als wäre sie Paris Hilton und ginge über den Red Carpet. Anstatt Bücher oder einem Rucksack hielt sie ein kleines Täschchen in der Hand und hatte den anderen Arm bei einem Typen eingehakt, der nicht minder großkotzig durch die Gegend spazierte. Obwohl sie hellbraune Haare hatte, statt blonde, waren die beiden für mich auf der Stelle Barbie und Ken.

Sie suchten sich einen Platz in der Mitte des Saals, wo bereits einige andere ihrer Clique saßen, da sie sich abklatschten und laut zu tratschen begannen, damit es alle hören konnten. Mich hätte diese Meute nicht interessiert, aber das Mädchen vom Sportplatz wirkte so angespannt, wodurch ich nicht anders konnte, als ihren Blicken zu folgen. Dabei wurde ich Zeuge einer ausgewachsenen Knutscherei und eines Gesabbers, was man oft nicht mal im bezahlten Fernsehen zu sehen bekam. Barbie saß rittlings auf seinem Schoß – keine Ahnung, wie sie das bei den engen Sitzen und dem kurzen Rock hinbekam – und leckte sein Gesicht von oben bis unten ab.

Von wegen prüdes Amerika! Das musste ich mir dann doch nicht geben und sah zurück in die erste Reihe. In der Zwischenzeit hatte das Mädchen ihren Blick auf einen Block vor sich gesenkt und die langen Haare nach vorne gelegt. Vielleicht ist das ihr Exfreund?, ging es mir durch den Kopf.

Endlich traf der Professor ein, was den Softporno im Saal zum Glück beendete, bevor es zu einer richtigen Sauerei kommen konnte.

Nach ein paar kurzen Späßen zur Auflockerung begann er eine Anwesenheitsliste vorzulesen. Kurz bevor mein Name an der Reihe war, rief er »Ava Shaw« auf und das schwarz gekleidete Mädchen meldete sich. Obwohl ich mir bei dem Namen Ava eher eine hübsche Blondine vorstellen würde, passte er dennoch irgendwie zu ihr. So wie die roten Chucks und die hellgrauen Augen zu dem Gesamtbild, das irgendwie zusammenpasste, aber gleichzeitig auch nicht. Hübsch war sie allemal, nur eben auf die dunkle, nachdenkliche Art. Was ich hundert Mal einer adrett gekleideten, hellen Barbie vorzog. Ich konnte mir keinen Reim auf Ava machen und hätte fast meinen eigenen Namen verpasst, als ich etwas lauter »Nathan Steger« hörte. Wobei der Professor meinen Namen richtig mit ›ae‹ aussprach. Ungerührt meldete ich mich und rutschte anschließend wieder bequemer auf meinem Sessel zurück.

Das war – wenngleich banal - definitiv einer der Vorteile in Amerika, wenn die Eltern auf die irrwitzige Idee kamen, ihren österreichischen Kindern einen englischstämmigen Namen zu verpassen. Wie oft hatten mich die Kinder oder sogar Lehrer früher Natan gerufen, also mit einem normalen ›a‹. Auch Sarah konnte als Kleinkind nicht meinen Namen aussprechen und nannte mich für eine Zeit lang immer nur Nati. Was sie sich zum Glück wieder abgewöhnt hatte. Über die Namensproblematik musste ich mir hier keine Gedanken mehr machen. Doch dafür hatte ich andere Probleme, die ich nicht so leicht würde abschütteln können.

***

Nach der Stunde eilten die Studenten aus dem Saal, als hätte jemand Feuer gerufen, und ich reihte mich in den Strom der Studenten ein, die nach draußen trieben. Ava trottete hinter ihnen her, wie ich aus dem Augenwinkel erkannt hatte, und ich weiß nicht, was mich ritt, aber ich schlenderte ebenfalls langsamer aus der Tür und später durch den Gang, um sie weiterhin zu beobachten. Was nicht weiter auffiel, da ich mein verletztes Bein seit dem Unfall etwas nachschleifte und sowieso nicht schnell gehen konnte.

Im selben Augenblick rannte Barbie, rascher als ich es mit diesen hochhackigen Dingern - die man auch Schuhe nannte - für möglich gehalten hatte, an mir vorbei. Im Schlepptau ihren Sabber-Freund. Dabei sah ich, wie sie absichtlich einen Schwenk nach rechts machte und mit ihrer Schulter Ava rempelte, die erschrocken hochsah und ins Straucheln geriet. Was zum Teufel ...?

Bevor ich wusste, was ich tat, hatte ich die Fäuste geballt und war schnell näher getreten. Ich war kein Typ, der Schlägereien anzettelte, eine Frau würde ich schon gar nicht anrühren. Aber wenn Ava mit dieser Barbie eine Konfrontation einging, wäre ich ganz klar auf ihrer Seite. Anscheinend war ein Teil meines alten Ichs, der sich gegen Ungerechtigkeiten auflehnte und helfen wollte, noch immer da. Irgendwo tief in mir vergraben.

Doch entgegen aller Erwartung schwieg Ava, schob bloß ihren Rucksack höher, um in ihre Tasche zu greifen und ein bimmelndes Handy hervorzuholen. Während sie ranging, blieb ihr Blick an Barbie und Ken haften, die einige Schritte weiter auf der linken Wand des Flurs lehnten und wieder mit dem Gesabber angefangen hatten. Das war mein Zeichen, doch nicht gebraucht zu werden und in Richtung Aula zu verschwinden.

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