4. 2.


Nat – Gegenwart

Seit der Szene im Flur vor einigen Tagen hatte ich Ava nicht mehr gesehen. Auch nicht Barbie und Ken, wobei mich bloß Letzteres freute. An diesem Nachmittag stand für mich Therapie auf dem Plan. Wie zuhause in Österreich, besuchte ich sie hier regelmäßig, um den Schmerz im Bein einzudämmen, den ich bei starker Belastung oder beim Wetterumschwung spürte. Vielleicht würde mit der Zeit auch die Steifheit im Knie verschwinden.

Zwar hatte ich wenig Zuversicht und mir wäre es auch egal gewesen, da ich an dieser Misere selbst schuld war. Warum sollte ich auch versuchen mich besser zu fühlen, weniger Schmerzen zu haben, obwohl andere wegen mir gestorben oder verletzt worden waren? Meine Situation war nur gerecht. Doch Sarah würde das anders sehen und mir ganz schön in den Hintern treten. Das konnte sie sogar richtig gut, obwohl sie so klein war. Außerdem wollte ich sie nicht noch mehr beunruhigen, deshalb machte ich weiter – ihr zuliebe.

Mit Kelseys Hilfe hatte ich rasch eine Physiotherapeutin namens Anne in der Nähe gefunden. Anne war okay, zumindest nachdem ich ihr verklickert hatte, nicht der gesprächige Typ zu sein und ich lieber schweigend die Therapie über mich ergehen lassen wollte. Das hatte ich ihr gesagt, nachdem sie in der ersten Stunde nach einem zehnminütigen Redeschwall kurz Luft geholt hatte. Seitdem sah sie mich immer etwas pikiert an, während sie nach außen hin freundlich blieb. Ihren Gesprächsvorlieben nach zu urteilen, hätte sie vielleicht eher Friseurin oder Lehrerin werden sollen. Oder mit Kelsey zusammenwohnen – die beiden würden sich blendend verstehen.

Mürrisch wie immer, wenn ich zur Stunde musste, öffnete ich die weiße Eingangstür des Gebäudes, in der sich die Gemeinschaftspraxis befand. Licht flackerte mithilfe eines Bewegungsmelders klinisch weiß auf und beschien einen hellen Gang, der mit einem hellgrauen Teppich ausgelegt war. Sofort schlug mir der typische Geruch nach altem Turnsaal entgegen, gewürzt mit Desinfektionsmittel und einem Hauch Chlor, da es im Erdgeschoss auch ein Schwimmbecken für Wassertherapien gab.

Bisher hatte ich zum Glück nur einmal das Vergnügen gehabt. Man fühlte sich dann doch etwas unmännlich, wenn man auf den Rücken gedreht lag und eine Frau einen durch das Wasser gleiten ließ. Gut, dass mich Johnny so nicht hatte sehen können. Ich war kein Macho, aber das war mir doch zu heftig, beziehungsweise die Sprüche zu blöd, die darauf unweigerlich folgen würden. Immerhin gab es gegen Ende auch noch Übungen im Wasser, die das Bein geschmeidiger und die Muskeln lockerer machen sollten. Das hatten sie trotz meiner Skepsis tatsächlich bewirkt. Dennoch, diese Erfahrung musste ich nicht unbedingt so schnell wiederholen.

Meine Hand drückte die Klinke zur Männergarderobe auf, gleichzeitig wurde die Tür daneben wild aufgerissen und eine wütend aussehende Ava stand plötzlich vor mir. Sie wirkte wie auf der Flucht. Ihre Wangen waren leicht gerötet und ihre fast hüftlangen, offenen Haare zerzaust, als hätte sie sich in großer Hast umgezogen. Rasch fing sie sich in ihrer Hektik ab und stemmte die Beine fest in den Boden, woraufhin sie zitternd zum Stehen kann. Dennoch hatte ich bereits nach ihrem Ellbogen gegriffen, um sie gegebenenfalls aufzufangen.

Als hätte sie sich an mir verbrannt, schüttelte sie meine Hand schnell wieder ab, obwohl die Wärme ihrer Haut auf meinen Fingerkuppen zurückblieb. Kurz wunderte ich mich, sie hier zu treffen, doch dann erinnerte ich mich daran, dass sie wie ich leicht humpelte, obwohl sie es besser verbergen konnte. Wenn man jedoch an so etwas Einschneidendem wie an einem schmerzenden Bein litt, bemerkte man diese Anzeichen bei anderen. Trotzdem war es überraschend, sie in der gleichen Praxis anzutreffen.

»Hallo. Tut mir leid. Habe ich dich erschreckt?«, fragte ich in die angespannte Stille hinein, in der ihr Duft nach süßer Blumenwiese meine Sinne berauschte.

»Hi. Alles ... alles klar, kein Problem.«

Statt mich anzusehen, starrte sie Löcher in den Teppich, zupfte am Saum ihres Rockes, sichtlich unwohl, mit mir in dem ansonsten leeren Flur herumzustehen.

Okay, das war dann wohl alles, stellte ich nüchtern fest, da sie bereits weitergehen wollte. Um die Situation nicht noch peinlicher zu machen, drehte ich mich ebenfalls zur Garderobentür um, doch dann hielt sie mich zurück.

»Warte, Nathan. Richtig?«

»Ja. Schuldig im Sinne der Anklage.«

Wow, wo kam denn dieser Mist her? Ebenfalls irritiert von meinem Spruch kniff sie ihre Augen zusammen. Ich fühlte mich nicht weniger verwirrt - ich stammelte nur Blödsinn, wenn ich nervös war. Aber ich dachte, diese Art von Gefühl wäre längst verlorengegangen, wie der Rest von mir.

»Was ich sagen wollte«, begann sie vorsichtig und sprach dann schnell weiter, als wollte sie es einfach hinter sich bringen: »ist, danke. Dafür, dass du mir neulich geholfen hast. Das hättest du nicht tun müssen.«

»Kein Ding. Gern geschehen.«

»Warum ... hast du mir geholfen?«

Keine Ahnung, weil ich nicht anders konnte? Weil du mich faszinierst und ich mich eigentlich von dir fernhalten sollte? Stattdessen zuckte ich bloß nonchalant mit den Schultern und antwortete: »Weil es das Richtige war. Ich habe gesehen, wie sie dich absichtlich angerempelt hat. Das war echt mies. Du hättest ihr noch einiges mehr an den Kopf werfen können, so wie sich die beiden aufgeführt haben. Ich bewundere deine Stärke.«

»Meine was?«, lachte sie, da sie sich anscheinend nur auf den letzten Satz konzentrierte und große Augen bekam.

»Ich weiß nicht, ob andere auch so cool reagiert und stattdessen nicht einen richtigen Streit vom Zaun gerissen hätten. Aber ich finde, du bist ruhig geblieben und hast Größe bewiesen.«

»Ich habe sie vor all den anderen schlechtgemacht. Das nenne ich nicht wirklich ruhig bleiben.«

Ava kratzte sich wie abwesend am linken Handgelenk und sah dabei tatsächlich zerknirscht aus. Ihr schlechtes Gewissen war beinahe spürbar und mein Mund fand die Worte wie von selbst, damit sie sich wieder besser fühlte.

»Doch, das bist du. Die anderen haben zuvor schon ganz andere Dinge über die beiden gesagt, die du nicht gehört hast. Deine waren definitiv jugendfreier«, erwiderte ich und seit langem schlich sich ein echtes, wenngleich auch kleines Lächeln auf meine Lippen, als sie verstand und ebenfalls ein süßes Grinsen aufsetzte, das so gar nicht zu ihrer ansonsten äußeren, harten Schale passte.

»Nun, ich kann jetzt nicht behaupten, dass sie nichts dafürkönnen. Das nenne ich reine Gerechtigkeit. Jeder bekommt, was ...«, begann Ava und als sie ihren Satz mit »... er sät« beendete, rutschte mir gleichzeitig unabsichtlich »... er verdient", über die Lippen.

Erstarrt blickten wir uns stumm in die Augen, in ihren zuerst ein verwirrter, dann ein verstehender Ausdruck. Obwohl es mir bisher nicht klar gewesen war, hatten wir nicht nur unsere körperliche Einschränkung gemein, sondern teilten noch etwas Anderes: ein dunkles Geheimnis.

Aus Sekunden wurden Minuten, oder auch nicht, ich konnte es nicht mehr sagen. Schließlich war sie die Erste, die ihre Stimme wiederfand. »Also ... ich ... ich muss jetzt los. Mach's gut. Bye.«

Damit ließ sie mich mit meinen Gedanken in der Garderobe zurück. Um ihr nicht noch länger hinterher zu starren, wandte ich mich ab und begann mich umzuziehen. Gerade damit fertig, läutete mein Handy. Es war meine Großmutter. Nein, nicht meine verstorbene Großmutter, die mich und Sarah großgezogen hatte, sondern meine neue, die wir erst vor kurzem kennengelernt hatten.

»Hallo Nathan. Schön dich zu erwischen. Ich habe es auch bei Sarah probiert, aber ich konnte sie nicht erreichen.«

»Hallo Malie«, antwortete ich, weil ich das Wort Oma nicht über die Lippen bekam. »Ja, sie ist momentan auf Musik-Tour. Du weißt doch noch, sie spielt Gitarre und tritt gemeinsam mit Johnny als Band Hallelujah's Rising auf. Sie hatte wohl keinen Empfang, aber sie ruft dich bestimmt zurück. Kann ich dir auch helfen?«

Meine freundliche Antwort – ich hatte nach unserem ersten Treffen einiges wiedergutzumachen - nahm sie als Anlass, um die nächsten Minuten von ihrem letzten Bridgeabend und der Einkaufstour mit ihrem Mann in einer großen Mall in der Großstadt zu berichten.

»Jedenfalls wollte ich euch wieder zu uns einladen. Dieses Mal übers Wochenende. Wie wäre es mit dem Columbus Day im Oktober? Ich weiß, es ist kein richtiger Feiertag, aber wir können ihn ja zu einem machen, mit gutem Essen, Trinken und dergleichen«, schloss sie ihren Monolog mit dem eigentlichen Grund ihres Anrufs. Am Ende folgte ein herzhafter Lacher, dem man nichts abschlagen konnte. Daher war die einzige Antwort: ein »Ja«, wenngleich es mir schwer über die Lippen kam.

Anschließend plauderte ich kurz mit ihr, da ich wirklich versuchen wollte, eine richtige Beziehung aufzubauen. Doch so was brauchte Zeit und konnte man nicht erzwingen, schon gar nicht mit mir. Doch Malie tat alles dafür, um uns besser kennenzulernen und unsere verwandtschaftlichen Bande zu festigen.

Würde sie das auch noch wollen, wenn sie wüsste, was ich unserer Familie und mir angetan hatte? Ich bezweifelte es. Obwohl ich ihr lassen musste, doch eine ziemlich hartnäckige Person zu sein. Das war mir bereits bei unserem ersten Treffen bewusst geworden.


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