4.1.


Ava – Gegenwart

Ausgerechnet Kimy Kinksy saß im selben Kurs wie ich, dröhnte es in meinem Schädel wieder und wieder. Kimy war mir nach dem Einkaufstüten-Fiasko vor wenigen Tagen ein weiteres Mal im Treppenhaus begegnet, wobei sie mich grimmig angeguckt hatte, als hätte sie saure Milch getrunken. Oder als wäre ich ein schimmeliger Pilz, was auch nicht besser war. Irgendwie hatte sie mich auf dem Kieker und ich wusste nicht warum. Lag es wirklich nur daran, weil ich mit Lourdes zusammenwohnte und die beiden sich nicht ausstehen konnten? Nach den Blicken zu urteilen – eindeutig.

Außerdem war Kimy nicht das einzige bekannte Gesicht in der letzten Vorlesung gewesen. Obwohl ich versucht hatte, mir nichts anmerken zu lassen, hatte ich einige Reihen hinter mir den attraktiven Typen vom Sportplatz gesehen. Der, vor dem ich beinahe so glorreich wie Don Quijote der Länge nach hingeknallt wäre. Zwar hoffte ich, von ihm nicht wiedererkannt worden zu sein, das bohrende Gefühl im Nacken, von hinten beobachtet zu werden, ließ diesen Wunsch wie Seifenblasen in sich zerplatzen.

Gedankenverloren ging ich weiter, als ich plötzlich einen heftigen Stoß gegen die linke Schulter bekam, der mich gefährlich stolpern ließ. Nicht schon wieder – verdammtes Bein!

Schmerz drückte kurz, aber heftig auf meinen rechten Oberschenkel, während ich mich ohne zu stürzen gerade noch abfing. Er verebbte schnell wieder, da die Erleichterung um einiges größer war. Irritiert wanderte mein Blick auf der Suche nach dem Übeltäter umher und blieb an dem Biest haften. Der Name passte wirklich perfekt. Kimy lehnte einige Schritte weiter an der Wand. Dabei grinste sie höhnisch zu mir rüber, bevor sie sich ihrem Spielgefährten widmete, als würde sie das alles nichts angehen. Meine Finger wollten sich zur Faust ballen, dort rüber marschieren und ihr eine scheuern.

Ja klar, ich und eine Schlägerei. Stattdessen fischte ich mein penetrant klingelndes Handy hervor und ging ran, da ich Lourdes Namen stehen sah, anstatt dem meiner Cousine. »Lust auf ungesundes Mensa-Futter?«

Bei dem Gedanken an frittierte Speisen, die mich fünf Jahre früher ins Grab brachten, hatte ich mir heute Morgen Gemüsesticks und Hummus in einer Tupperdose eingepackt. Dennoch könnten wir uns dort treffen und gemeinsam abhängen. Mein Blick glitt erneut zu Kimy und ihrem Typen, wie sie sich mit schmatzenden Geräuschen gegenseitig auffraßen, was jegliches Hungergefühl erstickte.

Bekommen die überhaupt noch genügend Luft dabei oder haben die Kiemen?

»Ava?«, ertönte es aus dem Handy.

Ich weiß nicht, was mich in diesem Moment ritt – vermutlich der Zorn, weil sie mich schon zwei Mal über den Haufen gelaufen hatte -, denn ich antwortete genervt und dabei so laut, wodurch mich die Umstehenden hören konnten: »Tut mir leid, kann nicht, mir ist übel. Ich muss mir nur kurz die Augen ausstechen und mein Hirn anzünden, um diese gespeicherten Bilder von meiner Festplatte zu löschen. Daher leider nein, der Appetit ist mir gerade eben gründlich vergangen.«

»Was ist passiert?«, fragte Lourdes sofort und obwohl ich wusste, es war besser lieber die Klappe zu halten, sprudelte es aus mir raus wie bei einem gebrochenen Damm. »Ach, so ein Kampf mit sabbernden Zungen. Wobei ich noch nicht weiß, wer gewinnt oder wer dabei erwürgt wird. Da versucht nur gerade jemand vor mir im Gang einen anderen zu inhalieren. Wusstest du eigentlich, wie weit man dem Gegenüber die Zunge reinschieben kann? Faszinierend. Ich fühle mich wie bei Jackass. Ich sage nur: Kinder - das ist gefährlich und nicht fürs Nachahmen zuhause geeignet.«

Neben mir ertönten ein paar Lacher, da ich anscheinend nicht die Einzige war, die sich von den beiden gestört fühlte. Ich hätte mich von meiner Wut nicht hinreißen lassen, sondern weiterhin die Eisprinzessin bleiben sollen, wie ich einige Male gegen Ende der High-School genannt worden war. Sofort überkam mich ein schlechtes Gewissen, und ich bereute meine Worte. Das tat ich noch viel stärker, als Kimy aka Biest sich wirbelnd umdrehte und mich mit zusammengekniffenen Augen fixierte.

»Wie war das?«

Schau mal einer an, vielleicht würde ich doch noch ›Schlägerei‹ auf meiner Bucket-Liste abhaken können, wenngleich ich das nie vorgehabt hatte. In diesem Moment erinnerte sie mich so sehr an meine ex-beste Freundin Steph, an ihren Terror und ihre Gemeinheiten, wodurch sich meine Fingernägel schmerzhaft in meinen Handballen kratzten und die Wunden aufrissen. Schlagartig war ich an das Ende meiner High-School-Zeit zurückerinnert worden, in der ich am Schluss begriffen hatte, dass Angriff die beste Verteidigung war. Genau das wollte ich auch jetzt tun. Nicht körperlich, sondern einen verbalen Konter ausstoßen.

Gerade legte ich mir eine patzige Antwort zurecht, da streifte mich etwas am Arm. Sanft und sachte. Jemand stand plötzlich neben mir, doch ich erschrak nicht, sondern fühlte Wärme in mir hochkommen. Denn auf der Stelle erkannte ich diese Stimme, sowie den Akzent, als er ganz unschuldig statt mir erwiderte: »Ach nichts, sie hat bloß mit mir geredet. Das nenne ich mal einen fetten Korb, wenn ich sie zum Essen einlade und so eine Antwort bekomme. Ziemlich scheiße für das Selbstvertrauen, das kann ich dir versichern.«

Gutmütig zuckte Nathan – wie ich seit der Vorlesung wusste - mit den Schultern, und der Geruch von sauberer Wäsche und einem Hauch Rasierwasser schlüpfte in meine Nase. Unverwandt blickte er zu Kimy hinüber, was wie eine Herausforderung wirkte, seine Worte anzuzweifeln. Sie schien etwas verwirrt. Tja, mir ging es nicht anders.

Kimy fing sich jedoch rasch wieder und strich durch ihre sandfarbene Mähne, als sie uns musterte. »Ist das so?«

Ich öffnete den Mund, um ihr doch noch eine unfreundliche Antwort zu geben, dass ich mich von ihr nicht länger piesacken ließ und sie das nächste Mal besser achtgeben sollte, wo sie hinlief, anstatt mich ständig anzurempeln. Aber erneut war ich zu langsam.

»Absolut. Sieht so aus, als ob ich hier Pech habe. Echt schade drum, ich wäre wirklich gerne mit dir essen gegangen«, erwiderte Nathan locker und sah mich an.

Statt bloß zu starren, wie ich es eigentlich tun wollte, ignorierte ich die Hitze in meinen Wangen und lächelte eine Spur erhaben, um meiner Rolle als herzlose Korbverteilerin gerecht zu werden. Zumindest hoffte ich, es sah wie ein Lächeln aus und nicht wie eine undefinierbare Fratze. Aber es hatte so lange keinen Grund dazu gegeben, weshalb es sich nun merkwürdig anfühlte, die Mundwinkel zu heben. Einen Moment blieb sein Blick noch an mir haften, und dort, wo ich in seinen braunen Augen beim letzten Mal nur Schmerz hatte sehen können, erschien ein kleiner Funke Amüsement.

So schnell, wie das alles passiert war, ging es auch wieder vorbei, als er sich mit der Hand über Nacken und Haarstoppeln fuhr und schließlich mit einem kleinen Zwinkern davon marschierte. Was mir endgültig die Sprache verschlug, wie auch Kimy, die ihm ebenso erstaunt nachschaute, um kurz darauf mit ihrer Flamme abzuschwirren.

Das war ... interessant gewesen. Warum hatte er mir geholfen? Er kannte mich nicht. Außerdem hatte er es geschafft, dass ich mir dabei nicht minder oder wie ein Krüppel vorgekommen war. Meine Mum war leider eine Meisterin darin. Er nicht – im Gegenteil.

Grübelnd begab ich mich hinkend zu meinem nächsten Kurs und rieb fast wie geistesabwesend mein Handgelenk. Eine Gänsehaut hatte sich auf meinen Armen gebildet und ich wusste nicht, was das alles zu bedeuten hatte.


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