1. Adam Lambert - „Mad World"
https://youtu.be/PJBEnFzV1WU
~*~ Ava ~*~
Herbstanfang, Gegenwart
Wie lebt man ein Leben, das einmal perfekt erschien und nun in Scherben vor einem liegt?
Ich wusste es nicht. Wollte es nicht wissen. Gleichzeitig hatte ich Angst, es nie zu erfahren, oder es doch zu tun. Dieses Wissen konnte mich jedoch nicht aus meinem derzeitigen Zustand herausreißen, der sich wie ein Wachkoma anfühlte – ein belangloses, angenehm taubes Dahindriften. Und ich hatte keine Ahnung, ob ich das überstehen würde.
In dem einen Moment war noch alles in Ordnung gewesen: Familie und Liebe ein Teil meines Lebens, die Zukunft so reich und voller Möglichkeiten vor mir. Nur einen Wimpernschlag später war alles anders. Noch immer konnte ich das Quietschen und die Schreie hören, wobei ich nicht wusste, ob diese von mir gekommen waren. Zu einer anderen Zeit, in einem anderen Leben.
Nun war alles weg und es gab bloß noch Schmerz, Trauer und Einsamkeit. Letzteres hatte ich mir selbst ausgesucht und dabei würde es auch bleiben. Mir war bewusst, wie unfair es meinen Eltern und meiner Familie gegenüber war. Auch wenn man weiß, dass etwas falsch ist, kann man es oft nicht ändern. Genauso erging es mir, seit es passiert war, jeden Tag, und es halfen kein gutes Zureden, keine Therapien, die ich besucht hatte, oder Pillen, die ich einwerfen sollte, um mich aus der Depression zu reißen, die jetzt mein Leben war.
Es half auch eindeutig nicht, wie ein Idiot auf der kalten Tribüne zu sitzen und auf die Laufbahn zu starren. Besonders, wenn ein einsamer Läufer Bahn um Bahn lief und jede weitere Runde meine Kehle verengte, mich immer weiter erstickte. Obwohl ich wusste, wie falsch es war, grub ich die Fingernägel in meinen linken Handballen, kratzte über den Schorf am Handgelenk und hörte erst auf, als ich eine warme Flüssigkeit spüren konnte. Beinahe erleichtert seufzte ich, als mir der brennende Schmerz Tränen in die Augen trieb, gleichzeitig jedoch den grausamen Druck in meinem Inneren entweichen ließ, ihn erträglicher machte, als könnte ich erst jetzt wieder richtig atmen.
Der Wind blies stärker, rollte vom Meer ausgehend über die Küste und das Universitätsgelände der Stadt San Francisco. Mir wehten die hüftlangen, rabenschwarzen Haare in die Augen, was sie kurz tränen ließ. Was natürlich bloß am Wind lag.
Nachdem ich mir die Strähnen und die feuchte Spur von der Wange weggewischt hatte, sah ich aus dem Augenwinkel, dass ich auf der Tribüne nicht so alleine rumsaß, wie ich gedacht hatte. In der untersten Reihe, am anderen Ende der Tribüne, saß ein Typ, mit den Ellbogen auf die Knie gestützt, sein Gesicht ebenfalls der leeren Rasenfläche zugewandt, die von der Laufbahn eingesäumt wurde. Dabei hatte er das Kinn auf seine verschränkten Finger gelegt und ich konnte nur sein Profil sehen. Vermutlich einer aus den verschiedenen Sportteams an der Uni, der im Geiste seine Spieltaktik oder Siegesrufe durchging.
Neid durchstieß meine Wut und Traurigkeit – ein Gefühl, das ich noch weniger leiden konnte als die anderen beiden. Aber diese drei gingen oft Hand in Hand wie Geschwister, die man nicht trennen konnte.
Da ich nicht länger alleine war, hatte ich keine Lust, sitzen zu bleiben und Trübsal zu blasen; das konnte ich auch in meinem Zimmer. Außerdem sollte ich langsam meine Sachen aus den Kartons auspacken, da in zwei Tagen mit Anfang September mein erstes Unisemester begann - der Start in mein neues Leben. Ob ich nun Freude dabei empfand oder nicht.
Mir war klar, wie erdrückend und undankbar ich war. Dieses Leiden ging mir genauso auf die Nerven wie wohl jedem anderen auch, doch ich konnte partout nicht aus meiner Haut.
Seufzend stand ich auf und schnappte beim Davongehen meinen schwarzen Rucksack, der mit Sicherheitsnadeln verziert war, um zumindest kleine Akzente in all dem Schwarz zu setzen. Auf diese hatte meine dreijährige Nichte bestanden, auch wenn ich sie nicht alleine damit hatte herumhantieren lassen. Sie war von ihrem Projekt >Rucksack verzieren< nicht abzubringen gewesen, egal wie lange und oft ich »Nein« gesagt hatte oder wie mies ich sonst zu allen gewesen war. Aber es war eben meine Nichte Sookie und gegen ihre süßen, blonden Locken und ihr einnehmendes Lächeln konnte man einfach nicht bestehen. Oder ihrem Geschrei, wenn sie etwas nicht bekam und sich hysterisch auf dem Boden wälzte.
Der Wind strich erneut durch meine Haare und gab meine Sicht durch den dunklen Vorhang frei, wodurch ich beim Vorbeigehen einen raschen Blick auf den Typen werfen konnte, der nicht aufsah. Er musste definitiv ein Sportler sein, das verrieten mir sein Körperbau und das enge Shirt, das um seinen Brustkorb und die Oberarme spannte. Er sah jedoch nicht zu aufgeblasen aus, weshalb ich ihn nicht zu den übertrainierten Quarterbacks zählte. Seine Haare schätzte ich blond, was schwer zu sagen war, da er sie kurz geschoren trug. Und seine Augen waren ... Ungelenk stolperte ich, behielt gerade noch mein Gleichgewicht, als ich dieselbe Sehnsucht und diesen tiefen Schmerz in seinen Augen las. Die gleichen Qualen, die ich selbst kannte, die mir jeden Tag aus dem Spiegel entgegenschrien.
Er blickte auf und für einen Moment fühlte ich mich wie in einem Vakuum, als würde die Zeit stillstehen und alles verschlucken, was um mich herum passierte. Was vollkommener Schwachsinn war und mich daran erinnerte, vielleicht doch bald wieder meinen Psychiater aufzusuchen. Nicht zum Reden, aber für neue Medikamente.
Der Bann, der mich eben überkommen hatte, brach jäh ab, als er den Mund aufmachte. »Hi. Alles in Ordnung mit dir?«
Er hatte einen ungewöhnlichen Akzent, den ich nicht zuordnen konnte, der jedoch deutlich machte, dass er nicht aus Amerika stammte. Was mir am meisten zu schaffen machte, war nicht diese unbeantwortete Frage seiner Herkunft, sondern dass es mich interessierte. Mich hatte schon lange nichts mehr interessiert.
»Hallo? Hast du dir was verknackst?«, fragte er erneut und dieses Mal trat sein Akzent noch deutlicher hervor, als würde dieser stärker durchkommen, wenn er sich sorgte.
Europäisch, aus dem deutschsprachigen Raum vielleicht? Weiter kam ich mit meinen Überlegungen nicht, denn er machte Anstalten aufzustehen. Was ich auf jeden Fall vermeiden wollte. Schnell schüttelte ich mit zusammengepressten Lippen den Kopf und schleppte mich fort Richtung Parkplatz, während ich bemerkte, wie mir die Hitze ins Gesicht stieg. Etwas, das ich eigentlich seit damals abgelegt hatte.
Nachdem ich einige Schritte davongehastet war, hörte ich ihn noch einmal nachfragen, ob mit mir alles okay wäre. Zu mehr als einem Wink mit der Hand, der alles hätte bedeuten können, war ich nicht in der Lage, und stakste davon. Das Knirschen der Sitzfläche der Holztribüne ließ mich erleichtert aufatmen. Das sichere Zeichen dafür, dass er sich wieder gesetzt hatte und mir nicht folgen würde. Zum Glück läutete in diesem Moment mein Handy und holte mich aus meinen Gedanken über diesen Typen, den ich hoffentlich nicht so schnell wiedersehen würde.
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