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~*~ Nat ~*~   – Zur gleichen Zeit

Ich war einmal ein netter Typ gewesen. Wirklich. Einer von den Guten. Aber das war Vergangenheit. In meinem Inneren war ich nun so dunkel wie schmieriges Öl, das sich nicht mehr abwaschen lässt, egal was man versucht. Da half kein Therapeut, kein Reden mit meiner Schwester Sarah oder ihrem Freund und meinem besten Kumpel Johnny, die es immer wieder versuchten. Ich machte es ihnen nicht zum Vorwurf, nicht aufgeben zu wollen, da sie in ihren Erinnerungen noch immer den guten Nat vor sich sahen. Der Nat, der gerne in einem Verein mit anderen Jungs Fußball spielte, backte, das Frühstück machte und andere aufheiterte, wenn es ihnen scheiße ging. Aber das war vorbei. Ich redete nicht mehr viel – machte schon gar keine Scherze -, hatte keine Hobbys, zog mich immer weiter in mich zurück und wollte nur meine Ruhe. Willkommen im Schneckenhaus.

Seit einem Monat waren wir drei – Sarah, Johnny und ich – in Amerika, genauer gesagt in San Francisco, und hatten unsere Zelte im Domizil von Kelsey aufgeschlagen. Das Haus war der Hammer, lag unglaublich gut entlang der schicken South Bay und bot vom Obergeschoss aus einen einzigartigen Blick auf die in der Ferne liegenden Golden Gate Bridge. Kelsey war eine gute Freundin der beiden, die auch mit mir befreundet sein wollte. Sogar ziemlich vehement, egal wie oft ich murrte und versuchte, ihr verständlich zu machen, nicht der Richtige zu sein, um Spaß zu haben.

Bisher hatten Sarah und Johnny gut als Puffer fungiert und mit ihr Zeit verbracht, aber die beiden waren seit heute mit ihrer Zwei-Mann-Band >Hallelujah's Rising< auf einer Musiktour durch den Bundesstaat und ich ahnte Böses. Solche Mini-Touren würden sie in der nächsten Zeit öfter unternehmen, da das Label der Shaw-Morrison-Group sie unter die Fittiche genommen hatte, deren Besitzer Kelseys Onkel war. Zwar betonten die beiden, nur für eine gewisse Zeit in den Musikhimmel zu schnuppern, weil sie eine andere Ausbildung und Jobs für ihre Zukunft planten, aber momentan genossen sie es.

Sarah hatte vor, später etwas in Webdesign, Gestaltung und Werbung zu machen, wohingegen Johnny aufgrund seiner Kindheit eine Ausbildung als Erzieher machen wollte, um später besonders im Bereich Jugend-Sozialbetreuung in Kinderheimen oder der Fürsorge zu arbeiten. Momentan lebten sie ihren Traum, den ich ihnen so wenig wie möglich vermiesen wollte. Daher hatte ich sie gestern Nachmittag breit lächelnd verabschiedet, Sarah mehrmals versichert, alles wäre in bester Ordnung und sie diese Zeit genießen und sich auf keinen Fall um mich sorgen sollte.
Zum Abschied hatte ich Sarah umarmt und ihr ins Ohr geflüstert: »Passt auf euch auf und meldet euch.«
Ihre Antwort war ein lächelndes Zwinkern gewesen und ich wusste, wie sehr sie sich freute, da wieder ein wenig meines besorgten Wesens durch die dunkle Fassade geschienen hatte. »Mache ich, großer Bruder.«
Als Nächster war Johnny an der Reihe gewesen, dem ich freundschaftlich auf den Rücken geklopft hatte. »Gib ja Acht auf sie und wehe, ich höre etwas Negatives ... Du weißt schon, ich will es zwar nicht, aber meine angedrohten Prügel werden dann immer noch zum Einsatz kommen.«
Sein wölfisches Grinsen wäre für mich Antwort genug gewesen, doch er wollte es dennoch genauer ausführen: »Keine Sorge, ich werde sie behüten wie meinen Augapfel und alle ihre Wünsche erfüllen. Ehrlich, damit meine ich jeden einzelnen.«
Typisch Johnny, er musste immer übertreiben, aber er tat es mit so einem gewinnenden Lächeln, bei dem man ihm nicht böse sein konnte. Ich wusste nicht, wie er das tat, doch er schaffte es jedes Mal. So wie kleine Kinder, die etwas anstellten, wie das ganze Wohnzimmer mit Schokoladeneis zu bekleckern oder weiße Wände mit Buntstiften zu bemalen. Aber wenn sie einen dann mit diesen unschuldigen Augen angrinsten, war alles vergessen.
Ich hatte daher bloß den Kopf geschüttelt und ebenfalls grinsend geantwortet: »So genau will ich das nicht wissen, Mann. Sie ist meine kleine Schwester. Wenn du nicht die Klappe hältst, kannst du die Prügel auch gleich beziehen.«
Schelmisch hatte es in Johnnys Augen gefunkelt. »Ach, du weißt doch, ich steh auf Schläge.«
»Idiot«, war es von mir und von ihm postwendend zurückgekommen: »Selbst.«
»Jungs, ich stehe wie immer neben euch, wenn ihr über mich redet. Hört auf damit, auch wenn ihr dabei ja wirklich süß seid. Aber es reicht, wir müssen los.«
»Ja, okay«, hatte Johnny geantwortet und war schlagartig wieder ernst geworden. Im Vorbeigehen hatte er mir auf die Schulter geklopft, nach Sarahs Hand gegriffen, um zum Wagen zu gehen. Nach einem kurzen Lächeln von ihr waren sie in ihren Tourbus gestiegen - ein teils verrosteter, blauer VW Polo mit etlichen Stickern beklebt, die Kelsey gesponsert hatte, um eben diese Rostflecken zu verbergen – und waren losgefahren. Kelsey hatte ihnen ein Leasingauto besorgen wollen, was die beiden vehement abgelehnt hatten, weshalb Kelsey ihnen nur auf diese Weise helfen konnte. Ich hatte ihnen noch lange hinterher gesehen, auch noch, nachdem sie längst aus meinem Blick verschwunden waren.

Es war wohl ganz gut, dass sie jetzt unterwegs waren, mich nicht ständig sorgenvoll musterten, und nicht mitansehen mussten, wie ich immer mehr in die Dunkelheit abrutschte. Sie konnten mir nicht helfen, warum also sollte ich sie dabei zusehen und leiden lassen? Es alleine mit mir auszutragen, war das Einzige, das ich machen konnte, um sie zu beschützen.
Denn ich hatte mich vollkommen verloren, war ein anderer Mensch geworden, einer, den ich selbst nicht mehr im Spiegel erkannte. Nur die beiden wollten es nicht wahrhaben. Doch früher oder später würden sie es ebenfalls erkennen und mich, bei Gott, dann endlich in Ruhe lassen. Damit ich alleine vor mich hinvegetieren und das Sein über mich ergehen lassen konnte, das man Leben nennt.

Die erste äußerliche Veränderung hatte ich gestern Abend durchgezogen, nachdem sie weg waren: Ich hatte meine blonden Locken abrasiert, die Sarah oder meine Mum und Großmutter immer geliebt hatten. Jedoch erinnerten mich diese Haare im Spiegel daran, wer ich einmal gewesen war und nie wieder sein würde. In mir war etwas zerbrochen und es war an der Zeit, dies auch andere sehen zu lassen.
Und sie hatten mich gesehen – zumindest Kelsey. Denn wie ich bisher mitbekommen hatte, kannte sie das Wort Privatsphäre nicht, oder hatte es schon vor langer Zeit aus ihrem Vokabular gestrichen. Gestern Abend war sie einfach so in das zu meinem Zimmer gehörige Bad marschiert, um sich mit verschränkten Armen an den Türrahmen zu lehnen. Ich war gerade mit dem Abrasieren auf drei Millimeter Haarkürze fertig geworden und räumte die letzten Reste säuberlich weg.

»Was geht denn bei dir ab, Hübscher? Hast du einen Hitzeschlag bekommen oder machst du jetzt einen auf Vin Diesel? Versteh mich nicht falsch, du bist echt gut gebaut«, hatte sie gesagt, während ihr Blick eindringlich über mich hinweggestrichen war, um ihre Aussage noch weiter zu bekräftigen, »aber an Diesel reichst du leider nicht heran. Da hilft es auch nichts, dir wie er die Haare fast abzurasieren.«
Zur Antwort hatte ich unbeteiligt mit den Schultern gezuckt, als wäre es keine große Sache, obwohl es genau das war. Zumindest für mich. Wahrscheinlich auch für Sarah, bestimmt für meine verstorbene Mum und Großmutter – aber die waren beide nicht mehr da, also wen kümmerte es?
»Neuer Wohnort, neuer Haarschnitt. Macht man doch so. Außerdem müsste es gerade dir gut gefallen, immerhin ist deine rechte Seite auch geschoren. Wenn du dich beim Rest ebenfalls trauen würdest, könnten wir im Partnerlook gehen. Oder gefällt es dir nicht?«
Daraufhin hatte sie mich als erneute Anspielung auf Vin Diesel »Ach, Vinny, Vinny, Vinny«, genannt, weshalb ich kurz den Mund verzogen, mir aber sonst nichts hatte anmerken lassen.
Sie war näher getreten. »Ich find's, ehrlich gesagt, erschreckend gut. Aber du hast auch mit den ganzen Locken als blonder Engel nicht schlecht ausgesehen. Damit wirkst du jetzt viel härter, unnahbarer. Gibt dir so einen verruchten Touch«, plapperte sie weiter, tippte dabei mit dem Zeigefinger auf ihre Hüfte. Plötzlich bekam sie große Augen und streckte den Finger in die Luft empor. Dabei sah sie ein klein wenig aus wie Wickie aus der gleichnamigen Zeichentrickserie. Früher hätte ich diesen Gedanken laut geäußert und gelacht. Jetzt nicht mehr. Vermutlich hätte sie mir sowieso keine Zeit dafür gelassen, denn Kelsey fuhr unbeirrt fort: »Ah, deshalb mussten die Haare fallen! Du schlimmer Finger! Du willst wohl die Mädels, die auf böse Buben stehen, ansprechen. Sehr subtil, muss ich sagen.«
Mit ihren schlanken Fingern hatte sie über meine Stoppelhaare gestrichen, schließlich zufrieden genickt und ein Grinsen war auf ihrem Gesicht erschienen. »Zugegeben, fühlt sich richtig sexy an. Wenn ich nicht Frauen bevorzugen würde, hättest du gute Chancen, Vinny.«
Ich hatte geseufzt. Tief, sehr tief. »Witzig. Wie lange willst du das mit dem neuen Namen nun durchziehen?«
»Hm, bis es mir zu langweilig wird, was nie im Leben passiert. Oder einfach nur so lange, bis du wieder Engelshaare trägst. Und dann kann ich dich ja wie den Erzengel – Michael – nennen. Schön wie eine Heldenstatue, aber unnahbar wie ein Engel. Wahnsinn. Das wird ein Spaß!«, hatte sie lachend geantwortet, nur um im nächsten Moment aus dem Raum zu verschwinden und mich grummelnd und nachdenklich zurückzulassen. Seitdem dachte ich ständig nach und es nahm gar kein Ende mehr. Würde es das je?

Gerade eben kam ich mir selbst beinahe lächerlich und wie ein verheultes Weichei vor, wie ich hier auf die Rasenfläche in der Mitte der Sportanlage blickte. Es war jämmerlich, so richtig schwach, trotzdem konnte ich nicht aufstehen, noch nicht einmal den Blick abwenden. Dabei rasten immer wieder die letzten Momente an meinem geistigen Auge vorbei: die letzten Sekunden, bevor ich meine Mum gefunden hatte; die letzten Sekunden, bevor ich mich bis zur Besinnungslosigkeit besoffen hatte; die letzten Sekunden, bevor ich von der beschissenen Fahrbahn abgekommen war. Es hätte weit schlimmer ausgehen, ich hätte tot sein können, trotzdem saß ich hier und jammerte rum wie ein Mädchen.
Was ist nur aus mir geworden? Wie konnte das passieren?

Das Wissen, noch zu leben, half mir nicht über die Schmerzen hinweg, die ich in meinem linken Bein verspürte, nachdem es sich verdreht und einen mehrmaligen, offenen Bruch erlitten hatte. Oder über die Tatsache, dass ich meine Mum, Oma, Sarah und alle anderen enttäuscht hatte, schon vor dieser Sache mit dem Autounfall. Oder über den Wunsch, wie früher über diesen Rasen laufen zu können, um meiner Leidenschaft, dem Fußballspielen, nachzugehen – die Schmerzen würden das nicht zulassen, nie wieder. Dieser Sport war für mich Geschichte, zumindest auf professioneller Ebene in einem guten Verein.

Plötzlich riss mich eine Gestalt, die vor mir stolperte, aus meinen tristen Gedanken. Kurz befürchtete ich, sie würde komplett der Länge nach auf die Nase fallen, aber sie fing sich noch und blieb aufrecht stehen. Ich blickte in ihr Gesicht. Zwei hellgraue Augen starrten mich an, die mit dickem, schwarzem Lidstrich umrandet waren. Obwohl sie einen grimmigen Ausdruck zur Schau trug, der deutlich machte, man sollte sich von ihr fernhalten, hatte sie ein hübsches Gesicht mit feinen Zügen. Trotz dieser grässlichen, dunklen Augenschminke, die beinahe wie eine Kriegsbemalung wirkte; eine Verkleidung, eine abwehrende Maske. Erst jetzt bemerkte ich auch ihre fast ausschließlich schwarzen Klamotten, was meinen Eindruck verstärkte.

Und obwohl sie äußerlich eine harte Schale um sich gelegt hatte, war da etwas sehr Zerbrechliches an ihr, etwas, das mich ansprach. Nicht als Mann oder auf irgendeine abartige, sexuelle Weise. Sondern meine alte Seite, den guten Nat, der ich früher gewesen war. Der mit Menschen gesprochen hatte, höflich und freundlich gewesen war und hatte helfen wollen.

Aus dem alten Drang heraus fragte ich sie deshalb, wie es ihr ging, ob alles okay wäre oder sie sich wehgetan hätte. Da sie nichts erwiderte, mich bloß für einen Moment anstarrte wie ein verschrecktes Rehkitz, machte ich mir schließlich tatsächlich Sorgen um sie. Erst als ich mich hochhieven wollte und noch mal fragte, ob alles klar wäre, wurde sie aus ihren Gedanken geholt und ihre düstere Miene trat wieder in den Vordergrund. Mehr als ein grimmiges Nicken – kein »Nein, danke« oder irgendein Wort - und einen kurzen Wink mit der Hand bekam ich nicht von ihr.

Sie verwirrte und stellte mich vor ein Rätsel, obwohl es mir egal sein sollte. Dennoch war ich neugierig, warum sie derart ablehnend auftrat, wieso kurz Panik in ihren Augen aufgeflackert war, als ich ihr hatte helfen wollen. War sie schon immer so gewesen? Oder war sie so jemand wie ich, ein Mensch, der sich grundlegend verändert hatte?
Auch als sie schon lange aus meinem Blickfeld verschwunden war, kreisten meine Gedanken noch eine Zeit lang um dieses Mädchen, das für einen flüchtigen Moment wieder das Gute aus mir herausgekitzelt hatte.


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