~Twelve~

Zwei Tage waren vergangen. Meine Schulter wurde auf Yonathans Anweisungen hin am Tag danach untersucht. Beim Ausrenken und anschließendem Einrenken wurden zum Glück keine Sehnen oder Bänder verletzt, ebenso waren auch die Muskeln und Knochen unversehrt geblieben. Ich sollte meine Schulter nur einige Tage schonen. Die Schwellung war auch schon zurückgegangen, nur das Hämatom erinnerte noch an die Verletzung.

Somit konnte ich mit einem Tag Verspätung meinen Neuanfang an der neuen Universität starten. Ich sah es locker, denn ich wechselte schließlich auch mitten im Semester. Was war da schon ein Tag mehr oder weniger?

Jedoch konnte ich nicht abstreiten, dass mich die Situation ziemlich nervös machte. An meiner vorherigen Uni hatte es immerhin kein allzu gutes Ende genommen, weshalb ich gezwungen war zu wechseln. Trotz meinen Vorbereitungen fühlte ich mich nicht gewappnet und das merkte auch Yonathan, als wir uns am Morgen in der offenen Wohnküche begegneten.

„Die Uni bietet auch Onlineseminare an", sagte er in seinem perfekt sitzenden Anzug, während er sich einen Kaffee zubereitete.

„Ich pack das schon", erwiderte ich und öffnete den Kühlschrank, um Milch für mein Müsli herauszuholen. „Außerdem wäre es nur aufgeschoben. Früher oder später muss ich zurück unter anderen Menschen. Mir geht's gut, wirklich."

Skeptisch sah Nate von mir zur Schüssel, während sein Schmunzeln immer breiter wurde. Verwirrt blickte ich ebenso auf mein Frühstück und stellte fest, dass ich statt Milch Orangensaft auf mein Müsli gekippt hatte.

„Zusätzliche Vitamine", zuckte ich mit den Schultern und schob mir einen vollen Löffel in den Mund. Mit verzogenem Gesicht, weil die Kombination wirklich widerlich war, sah ich zu ihm auf und brachte ihn damit zum Lachen.

„Ja, du hast alles unter Kontrolle", zwinkerte er mir zu. Er trank den letzten Schluck von seinem Kaffee und entfernte sich daraufhin von mir. „Aber falls irgendwas ist, melde dich."

„Es wird nichts sein. Und wenn, habe ich Ty." Mit einem Nicken, das seine Enttäuschung nicht verstecken konnte, verließ er das Penthouse. Ich hatte noch ein wenig Zeit, bis mein Babysitter mich abholte und zur Uni begleitete. Das ungenießbare Müsli landete im Müllzerkleinerer und stattdessen trank ich nur meinen Cappuccino.

Danach holte ich meine Tasche, in der sich meine Unterlagen, einige Stifte und mein MacBook befanden. Ich wollte das Penthouse verlassen, in dem ich mich ununterbrochen beobachtet fühlte. Von Mikhail hatte ich zwar seit zwei Tage nichts gehört, aber ich wusste, dass er jederzeit zusah, was Nate und ich taten. Unsere Gespräche belauschte und in unseren Gesichtern genau forschte, ob wir ihm etwas verheimlichten. Es fiel mir unheimlich schwer den Schein zu wahren, umso froher war ich, dieser Beobachtung endlich zu entkommen.

Ich gab den Code, der auch fürs Betreten der Wohnung verwendet wurde, ein und stand vor verschlossener Tür. Ein rotes Licht blinkte an der Alarmanlage und versperrte mir den Weg. Verwundert gab ich die acht Ziffern erneut ein, aber nichts passierte.

„Der Code ändert sich alle 60 Sekunden", ertönte die Stimme von Raya hinter mir. „Yonathan hat dafür extra eine Authentifikationsapp erstellt."

„Er hat was?", fragte ich verblüfft. Und wieso zum Teufel war ich wieder die Einzige, die davon nichts erfuhr?

Sofort nahm ich mein Handy und wählte die Nummer von Nate, immerhin sagte er, ich solle mich melden, wenn etwas ist. Nach nur wenigen Sekunden nahm er den Anruf entgegen.

„Wann wolltest du mir sagen, dass ich dein Penthouse nicht verlassen kann?", forderte ich mit strenger Stimme eine Antwort.

„Tyson holt und bringt dich."

„Ich bin kein beschissenes Baby, Nate!", fauchte ich ins Handy. „Ich dachte, wir hätten das geklärt." Wie konnte ich auch glauben, dass er mich tatsächlich wie andere auf Augenhöhe behandelte?

Ich hörte ihn über die Nebengeräusche seines Auto hinweg seufzen. „Schau auf dein Handy, da ist eine App installiert mit meinem Firmenlogo. Damit kommst du jederzeit rein und raus. Ich habe nur vergessen es dir zu sagen."

Yonathan vergaß nie etwas. Er hatte gehofft, es mir nicht sagen zu müssen und geglaubt, ich würde nicht auf die Idee kommen allein das Penthouse verlassen zu wollen.

„Lügner", nuschelte ich und wischte auf meinem Display, bis ich die App mit den verschnörkelten Buchstaben KS fand. Ich öffnete sie und mir wurden sofort acht grüne Zahlen angezeigt. Daneben war ein Kreis, wie eine Uhr, die von Sekunde zu Sekunde abnahm, bis die Zahlen rot blinkten. Als die Minute abgelaufen war, erschienen neue Zahlen.

„Tue mir nur einen Gefallen und verlasse das Gebäude nicht ohne Tyson. Dafür wird er schließlich bezahlt", hörte ich Yonathan leise durch das Handy sprechen, da ich mir nicht die Mühe gemacht hatte, den Lautsprecher einzustellen.

„Okay", erwiderte ich und beendete das Gespräch, ehe ich den Code eingab und das Penthouse verlassen konnte. Sofort blickte mir Dawson entgegen. Er trug wie auch Max einen Anzug, stand mit geradem Rücken vor mir und wirkte, als wollte er mich ohne Umschweife ins Penthouse zurückdrängen.

„Miss MacKenzie", nickte er höflich, ohne sich von der Stelle zu bewegen. Skeptisch neigte ich meinen Kopf und schaute ihn für einige Sekunden abwartend an. Offenbar hatte er nicht die Absicht mich nicht durchzulassen.

„Skylar reicht vollkommen", sagte ich freundlich und setzte einen Schritt nach vorne. Dawson bewegte sich daraufhin rückwärts und schien mir den Weg ohne jegliche Diskussion freizugeben.

„Schönen Tag, Miss", verabschiedete er sich. Ich ging an ihm vorbei, rechnete allerdings damit, dass er mich doch am Arm packen und zurück zerren würde. Als das jedoch nicht passierte, sah ich mulmig über meine Schulter. Dawson stand wieder in seiner vorherigen Position vor der Tür, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen.

Konnte mich mal jemand kneifen?

Fast kam es mir wie ein Traum vor, denn niemals im Leben hätte ich damit gerechnet, dass ich trotz meines Verrates an Yonathan mich frei bewegen durfte. Wenn ich Tyson dabei ausblendete, der genau in dem Moment auf mich zukam, als ich um die Ecke bog.

„Guten Morgen, Skylar. Ich dachte, ich hole Sie ab und nicht andersherum", scherzte er gutgelaunt. Ich sah ihn mir genauer an, denn anders als die letzten beiden Male trug er heute eine einfache Jeans, ein weißes T-Shirt und eine schwarze Lederjacke. Er wirkte beinahe viel zu legere, um als ein Personenschützer durchzugehen.

„Da müssen Sie schon früher aufstehen, Ty", erwiderte ich schmunzelnd. Wir gingen gemeinsam zu den Fahrstühlen, Tyson drückte auf den Rufknopf, woraufhin ich die Anzeige beobachtete, die das Stockwerk ankündigte, indem der Aufzug war.

„Wie Sie wünschen, Ma'am." Mit einem genervten Seitenblick sah ich zu ihm rüber und erkannte das leichte Zucken seines Mundwinkels. Er amüsierte sich über mich, weil er wusste, dass ich diese Höflichkeiten genauso wenig mochte, wie er Spitznamen. Bevor ich ihn jedoch zurechtweisen konnte, öffneten sich die Fahrstuhltüren. Tyson überließ mir mit einer Handbewegung den Vortritt, ehe er zu mir in den Aufzug stieg und wir mit diesem nach unten fuhren.

„Wie wird das überhaupt ablaufen? Werden Sie mich bei jedem Schritt verfolgen und in jedem Seminar direkt hinter mir stehen?"

„Das ist mir leider nicht gestattet. Aber auf dem Gelände darf ich mich frei bewegen, also werde ich aus der Ferne darauf achten, dass Ihnen nichts zustößt", erklärte er, als er plötzlich eine Waffe unter seiner Jacke aus einem Holster hervorholte. Mit geweiteten Augen starrte ich auf seine Hände, wie er das Magazin aus dem Griff löste.

Das letzte Mal, als Männer mit Waffen die Universität an der ich studierte betreten hatten, eskalierte es vollständig. Unschuldige Kommilitonen wurden verletzt, bedroht und getötet. Nur der Gedanke daran ließ einen eiskalten Schauer über meinen Rücken herunter rieseln.

„Sie sind also in keiner Gefahr", sagte Tyson und schob dabei das Magazin mit einem Klicken zurück in die Waffe. Ich zuckte von dem Geräusch zusammen, als im selben Moment auch der Fahrstuhl mit einem Ping zum Stehen kam.

„Können wir uns darauf einigen, dass ihr Spielzeug gut versteckt unter Ihrer Jacke bleibt?", hielt ich ihn am Arm davon ab, den Aufzug zu verlassen. Demonstrativ schob er die Waffe zurück in den Holster und legte die Jacke darüber.

„Natürlich, Ma'am."

Ich rollte mit den Augen und ging dann voraus in die große Eingangshalle. Meine Schritte hallten laut von dem hellen Marmorboden mit dem Mosaikmuster wider, während ich beeindruckt an dem prunkvollen Springbrunnen in der Mitte der Lobby vorbeiging. Zum ersten Mal sah ich, wo ich die letzten Wochen überhaupt lebte, da ich bisher nur Yonathans Penthouse und die Tiefgarage von diesem Gebäude gesehen hatte.

Neben einer Sitzecke mit rotgepolsterten Möbeln, befand sich eine Rezeption aus dunkelbraunem Holz. Dahinter stand ein Portier im mittleren Alter und dunkler Hautfarbe. Er trug eine dunkelblaue Uniform, die zwei Reihen goldener Knöpfe zierte. Sein Lächeln wirkte echt, während er all die vorbeilaufenden Menschen begrüßte.

„Guten Morgen, Mr. Pearce", nickte er Tyson zu, ehe er bei meinem Anblick kurz stutzte. „Sie müssen Miss MacKenzie sein."

„Skylar. Und Sie sind?", ließ ich mich sofort von dem freundlichen Portier in ein Gespräch verwickeln. Seine dunklen Haare waren an den Seiten bereits leicht grau und um seinen Augen bildeten sich viele kleine Lachfältchen ab, die ihn umso sympathischer machten.

„Terence Daviss, Miss", stellte er sich höflich vor. „Ich bin die Augen und Ohren in diesem Gebäude. Lassen Sie mich wissen, wenn Sie etwas benötigen."

Ich lächelte und verabschiedete mich mit einem Nicken, als Tyson und ich auf die goldenen Türen zugingen, vor denen ich bereits Männer in schwarzen Anzügen sah. Ohne deren Gesichter zu sehen, wusste ich, dass sie dort nicht standen, weil sie die Sonne genossen. Sie waren von Yonathan angeheuert, um meine Sicherheit zu garantieren.

Ich trat vor die Tür und wurde umgehend von der eisigen Novemberluft umhüllt, sodass kleine Rauchwolken bei jedem Atemzug vor meinem Gesicht entstanden. Die letzten Wochen zogen viel zu schnell an mir vorbei, sodass ich es überhaupt nicht mitbekam, dass der Winter Boston schon erreicht hatte.

Vor dem gewaltigem Hochhaus herrschte schon so früh am Morgen ein wildes Treiben. Geschäftsleute waren mit abgehetzten Schritten unterwegs, Kinder rannten mit lauten Lachen zum Bus, eine Frau joggte mit Kopfhörern an uns vorbei, ein Mann sprintete auf die überfüllte Straße vor uns und rief ein Taxi. Nur die fünf Männer vor dem Wolkenkratzer standen vollkommen ungerührt und starrten geradeaus.

„Es wäre witziger, wenn die solche Uniformen wie die Wachen in England anhätten, die die Queen bewachen", merkte ich mit belustigten Unterton an. Der Gedanke gefiel mir, allerdings bezweifelte ich, dass die Männer dann genauso ungerührt und stumm stehen bleiben würden, wenn man sie herausforderte.

„Das sind keine Witzfiguren, sondern ausgebildete Bodyguards", sagte Tyson dicht an meinem Rücken, während er mich bestimmend durch das morgendliche Chaos auf dem Bürgersteig weiterschob.

Er hatte wirklich keinen Sinn für Humor.

Am Straßenrand hielten und fuhren im schnellen Rhythmus Taxis an uns vorbei. Sirenen waren aus der Ferne zu hören und lautes Hupen ertönte jedes Mal, wenn jemand an der Ampel nicht schnell genug losfuhr. Es war der belebteste Teil von Boston und ich merkte schnell, dass ich dem Großstadtleben nicht viel abgewinnen konnte.

In dem Stadtteil, wo ich herkam, war um diese Uhrzeit Totenstille. Die meisten schliefen noch ihren Rausch aus, andere gingen ganz entspannt zur Arbeit. Die Geschäfte öffneten erst gegen neun Uhr, somit waren selbst die Straßen wie leergefegt.

An einem schwarzen SUV stoppten wir und Tyson öffnete mir die hintere Tür, was ich jedoch ignorierte und stattdessen die Beifahrertür aufzog. Ich konnte das Zucken in seinem Kiefer sehen, dennoch sagte er nichts und ließ mich einsteigen, ehe er beide Türen schloss. Es war schon bestrafend genug, dass ich überhaupt den kurzen Weg bis zur Uni gefahren wurde, da wollte ich nicht wie ein Kleinkind auf dem Rücksitz sitzen.

Während der Fahrt umgab uns völlige Stille, da nicht mal das Autoradio eingeschaltet war. Meine Nervosität stieg mit jedem Meter, den wir hinter uns ließen, weshalb mir nicht einmal zum Reden zumute war. Stattdessen öffnete ich mit meinem Handy meinen Studienplan, obwohl ich diesen auswendig konnte. Im ersten Block hatte ich Einführung in Rechtswissenschaften, danach den Grundkurs für Bürgerrechte. Den dritten Block hatte ich frei, daher hatte ich mir vorgenommen, mir die Bibliothek der Universität anzusehen. Als letztes stand dann noch Datenschutz und IT-Recht an.

Das letzte Fach würde das sein, womit ich in Yonathans Firma am meisten konfrontiert werden würde. Denn da hatte ich jeden Tag zwei Stunden nach der Uni und den gesamten Donnerstag ein bezahltes Praktikum. Natürlich ein völlig überbezahltes Praktikum, aber ich wollte mich wohl kaum beschweren. Auch wenn es Nates Firma war und ich nur seinetwegen dieses Platz bekommen hatte, wollte ich das Praktikum bestmöglich absolvieren.

Der Wagen kam zum Stehen und ich betrachtete die riesige Fakultät vor mir. Die Studiengebühren waren enorm hoch, aber ein Blick genügte, um zu verstehen, warum. Vor dem alten Gebäude mit dem eindrucksvollen Ford Memorial Tower, tummelten viele Studenten, die selbst aus der Entfernung nur so vor Geld strotzten. Die vielen teuren Luxusautos taten das übrige, um zu erkennen, dass man hier nur landete wenn man entweder reiche, oder einflussreiche Eltern hatte.

„Immerhin hat er Sie nicht direkt nach Havard geschickt", sagte Tyson neben mir und schien meinen argwöhnischen Blick zu deuten. Natürlich war Harvard ebenso auf der Liste von Nate, aber dort hätten mich keine zehn Pferde hinbekommen! Nicht, weil ich etwas gegen das College hatte, aber Harvard war eine Nummer zu groß für mich. Dort studierten die Besten der Besten. Über 70% der Studierenden hatten aufgrund herausragender Leistungen Stipendien erhalten. Die meisten hatten ihre gesamte Schullaufzeit darauf hingearbeitet dort studieren zu dürfen, wohingegen ich absolut nichts nachweisen konnte.

„Das staatliche College von Boston gefiel mir eindeutig besser", brummte ich. Dort waren die Studierenden aus mittelständischen Familien, was weitaus angenehmer war, als sich zwischen all diesen Elite Rich Kids zu mischen.

„Sie schaffen das schon", versuchte Tyson mir Mut zuzusprechen. Ich öffnete die Tür und stieg aus, wobei ich die ersten neugierige Blicke auf mir spürte. „Falls nicht, bin ich in der Nähe."

Das beruhigte mich nicht sonderlich. Vermutlich war ich die Einzige an der Uni, die einen Babysitter besaß und das musste er mir nicht bei jeder Gelegenheit unter die Nase reiben.

„Bis später, Ty", sagte ich genervt und schlug die Tür fester zu als nötig.

Ein Zurück gab es nun nicht mehr.

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