~Three~
Wütend stampfte ich die Treppe nach oben und ging umgehend in mein Zimmer. Die Tür ließ ich laut ins Schloss fallen, ehe ich mich frustriert auf das Bett geworfen hatte. Zum ersten Mal, seit ich aus dem Club raus war, erlaubte ich mir den Tränen freien Lauf zu lassen.
Wie konnte mein Leben in nur so kurzer Zeit eine solche Wendung nehmen? Vorbei die Zeiten, in denen ich meine Tante verfluchte und einsam in der kleinen Kammer, die sich mein Zimmer nannte, mein Leben überdachte.
Mittlerweile wünschte ich mir sogar nichts mehr, als genau dort zu sein. Die einzigen Probleme waren das fehlende Geld und die Ausweglosigkeit aus diesem nutzlosen Leben.
Nun musste ich mich mit Menschenhändlern, vollkommen durchgeknallten Russen und einem viel zu gut aussehenden Sadisten auseinandersetzen. Zudem kam noch ein Halbbruder dazu, der durch mich an Informationen kommen wollte und dafür über Leichen gegangen wäre.
Wieso konnte ich nicht wie andere 21-jährige sein und nur solche Probleme haben wie zum Beispiel: Was ziehe ich heute an?
Ich nahm mein Handy erneut und wollte Mikhail antworten, um eventuell ein wenig Zeit hinauszuzögern. Doch als ich meinen Nachrichtenverlauf öffnete, war seine Drohung weg. Es gab nichts, was noch darauf hinweisen würde, dass er mir überhaupt geschrieben hatte.
Hatte ich es mir eingebildet? Mittlerweile glaubte ich schon, ich wäre paranoid. Um mir selbst vor Augen zu halten, dass ich mir nichts einbildete holte ich den USB-Stick aus meiner Hosentasche. Ich hatte keine Ahnung, wie ich es anstellen sollte unbemerkt in Yonathans Büro zu kommen und dort Daten von seinem PC zu klauen. Doch wenn ich es nicht schaffte, verlor ich die einzige Person, die in dieser schlimmen Zeit für mich da war.
Ich musste es also irgendwie durchziehen.
Daher verließ ich mein Zimmer, ging die Treppe nach unten und begab mich in die offene Küche, um von dort aus mir zuerst einen Überblick zu verschaffen. Ich nahm mir ein Glas und setzte mich auf einen der Barhocker. Das Foyer beobachtend trank ich einen Schluck und lauschte angestrengt den Stimmen aus Nates Büro. Ich war entschlossen es durchzuziehen, um Stenjas Leben zu beschützen. Ich brauchte nur einen Plan, der Raya und Yonathan aus dem Büro lockte und beide lange genug fern hielt, bis alle Daten auf dem Stick waren.
Ebenso durfte Yonathan keinen Verdacht schöpfen, dass etwas nicht stimmte, was das Ganze um einiges komplizierter machte.
Nach fünfzehn Minuten saß ich noch immer auf derselben Stelle und starrte auch weiterhin ins Foyer. Es tat sich absolut nichts und jedes Szenario das ich gedanklich durchging endete damit, dass ich aufflog. Zudem hinderte mich mein schlechtes Gewissen. Nate in den Rücken zu fallen tat beim bloßen Gedanken weh. Auch wenn ich mich von ihm distanziert hatte, bedeutete das nicht, dass ich ihm schaden wollte.
Mein Handy vibrierte und erschrak mich so sehr, dass ich heftig zusammenzuckte. Auch ohne aufs Display zu sehen, wusste ich, dass es nur eine Person sein konnte. Pure Angst erfasste mich und ließ mein Brustkorb schmerzhaft zusammenziehen. Mit zittriger Hand nahm ich den Anruf entgegen und bereute es in derselben Sekunde.
„Malyschka, egal, was er verlangt, tue es nicht!"
Ein Krachen ertönte, gefolgt von einem schmerzverzerrtem Stöhnen, das mir das Blut in den Adern gefrieren ließ.
„Stenja", hauchte ich erstickt.
„Der Boss meinte, ich solle mehr Druck aufbauen, damit du deine Aufgabe endlich erfüllst", sagte eine mir fremde Stimme. Ein weiteres Krachen durchbrach die Stille, ehe ich Stenja keuchen hörte. „Wenn du deinen Russen lebend zurück haben willst, machst du in den nächsten zehn Minuten, was dir aufgetragen wurde!"
„Sky, hör nicht auf ihn!", rief Stenja. Allerdings konnte ich deutlich hören, wie kraftlos er war. Ich wollte mir nicht vorstellen, wie lange er schon meinetwegen Qualen erleiden musste.
„Zehn Minuten. Schaffst du es nicht, hat dein Liebling eine Kugel zwischen den Augen. Die Zeit läuft, Tick Tack", redet der Unbekannte auf mich ein.
„Ich mach es, aber tun Sie ihm nicht mehr weh", flehe ich mit brüchiger Stimme.
„Sky, nein! Du wirst ni–", wütete Stenja. Der Anruf endete, bevor er ausgesprochen hatte. Nach Luft schnappend stand ich auf und war entschlossener denn je.
Zwar hatte ich weiterhin keinen ausgereiften Plan, aber ich konnte nicht noch mehr Zeit vergeuden, in der Stenja gequält wurde. Ich musste es irgendwie so angehen, dass Yonathan keinen Verdacht schöpfte oder noch schlimmer mich auf frischer Tat ertappte. Daher verwarf ich den Gedanken ihn aus dem Büro zu locken, denn so war die Chance erwischt zu werden viel höher.
Ich lief in mein Zimmer, nahm mein MacBook und startete es. Meine Idee Nate mit einem technischen Problem abzulenken, schien mir in dem Moment die einzige Möglichkeit. Also öffnete ich die Einstellungen und löschte das Betriebssystem, ehe ich mit dem nun nutzlosen Gerät nach unten ging.
An seinem Büro angekommen, hörte ich die Stimme von Raya, die mich innerlich die Augen verdrehen ließ. Die Tatsache, dass sie ebenso da war, machte alles nur komplizierter. Dennoch klopfte ich entschlossen an die Tür. Ich wartete kurz bis ich eintrat und in Yonathans verblüfftes Gesicht sah.
„Ich bräuchte kurz deine Hilfe", informierte ich ihn, woraufhin er seine schwarzen Augenbrauen überrascht hob. Mein Herz schlug schnell in meiner Brust. Die Sekunden vergingen wie in Zeitlupe. Angst erfasste mich eiskalt. Ein Zittern entstand tief in meiner Brust.
„Raya, lässt du uns kurz allein?", bat er seine Cousine, die sich daraufhin ein Lächeln abzwang und an mir vorbeiging. Mir entging ihr prüfender Blick nicht, weshalb ich mich auch unbemerkt kleiner machte. Sie schüchterte mich mit ihrer bloßen Anwesenheit ein. Ihre natürliche Schönheit stellte jeden in den Schatten.
„Was kann ich denn für dich tun?", fragte Yonathan und lenkte somit meine Aufmerksamkeit auf ihn.
„Ich habe irgendwie das MacBook platt gemacht." Mit gesenktem Blick gehe ich bis vor seinem Schreibtisch und stelle den Laptop auf diesen ab.
„Wie hast du das geschafft?" Er stand auf und kam um den Tisch herum, um einen Blick auf den schwarzen Bildschirm zu werfen.
„Ich wollte nur ein Update machen", log ich. Unauffällig sah ich zu seinem Rechner und suchte den USB-Anschluss, in den ich den Stick stecken musste. Yonathan tippte währenddessen auf der Tastatur herum und war vollkommen abgelenkt. „Bekommst du das wieder hin?"
„Keine Ahnung, wie du das geschafft hast, aber ich müsste das Betriebssystem neu installieren", sagte er nachdenklich. „Das dauert allerdings ein wenig."
Er schaute mir direkt in die Augen und ich spürte regelrecht, wie mir der Schweiß auf der Stirn stand.
„Kein Problem, ich warte geduldig", antwortete ich, ging um den Schreibtisch herum und ließ mich auf seinen Stuhl nieder. Sein Mundwinkel zuckte, während er mich beobachtete, wie ich es mir völlig unverfroren gemütlich machte. Meine Augenbraue hob ich ebenso, um ihn zu provozieren. Er schüttelte belustigt seinen Kopf und setzte sich auf einen der Sessel vor dem Schreibtisch.
Mein Blick schweifte erneut zu seinem PC, wo ich den Anschluss auch recht zügig fand. Nun musste ich den Stick nur unbemerkt dort reinstecken. Nochmals sah ich zu Yonathan, der jedoch konzentriert auf den Laptop schaute und sich offenbar direkt an die Arbeit machte. Mit rasendem Herzen nahm ich den USB-Stick. Unauffällig wischte ich einen Kugelschreiber vom Tisch, ehe ich mich vorbeugte und vortäuschte diesen wieder aufzuheben. Dabei steckte ich mit schnellen Bewegungen den Stick in den PC.
„Alles gut?", fragte Nate.
„Ja." Unsicher sah ich mich im Büro um, bis mein Blick auf einen der Monitore vor mir fiel. Dort ploppte tatsächlich ein kleines Fenster mit einem Ladebalken auf. 2% ... 3% ...
Warum dauerte das so lange?! Wie sollte ich Yonathan so lange ablenken?
„Hast du Stenja schon erreicht?", fragte er, ohne mich dabei anzusehen. Meine Brust zog sich schuldbewusst zusammen.
„Nein, leider nicht", log ich abermals.
„Du weißt also nichts davon, dass er von einer anderen Organisation festgehalten wird?" Scham nahm meinen gesamten Körper ein, weshalb ich nur schwer schlucken und meinen Kopf schütteln konnte. „Ich glaube dir diese Unschuldsmiene nicht!"
„Was meinst du damit, er wird festgehalten?", fragte ich, bemüht unwissend zu klingen.
„Findest du es nicht seltsam, dass du den ganzen Tag weg warst und schon bricht Chaos aus? Mit wem hast du heute gesprochen und was weißt du?"
„Ich weiß gar nichts! Wie geht es Stenja?"
Yonathan stellte den Laptop weg und stand auf, weshalb ich nervös auf dem Stuhl herum rutschte und auf den Ladebalken sah.
32% ...
„Ich kann es dir nicht sagen, weil keiner der Bratva weiß, was die Typen von Stenja wollen. Es wurde weder eine Forderung gestellt, noch wurde ein Deal vorgeschlagen. Also sage mir, was du weißt!"
Er beugte sich bedrohlich über den Tisch, weshalb ich mich eilig vorlehnte, damit er den Bildschirm nicht sehen konnte.
„Ich weiß gar nichts!", zischte ich wütend. „Ich habe nur mit meiner Tante geredet und erfahren, wie Kirill ihr ohne jegliches Mitgefühl weggenommen wurde."
„Was juckt mich Kirill? Ich will wissen, wer der Typ ist, der meine Familie bedroht!"
„Kirill gehört nicht zu deiner Familie?", fragte ich. Provozierend kreuzte ich meine Arme vor der Brust und unterbrach für keine Sekunde den Blickkontakt.
„Nein, wie du soeben selbst gesagt hast, ist er der Sohn deiner Tante und somit dein Cousin. Ich will wissen, mit wem du heute geredet hast", grollte Nate wütend und lehnte sich noch weiter vor, bis er kurz vor meinem Gesicht war.
„Mit einem Richard", gab ich klein bei. „Er kannte Artjom und hatte mir von der Beziehung von ihm und meiner Mutter erzählt."
Yonathan setzte sich ebenso zurück, legte sein Knöchel auf sein Knie und schaute mich auffordernd an.
57% ...
„Er war ihr Kunde. Richard sagte, Artjom wäre regelrecht besessen von meiner Mutter gewesen. Dann wurde sie von jemand anderen schwanger. Danach hat er weder sie noch deinen Onkel je wieder gesehen."
„Sie hat dieses Kind bekommen", schlussfolgerte Yonathan und schaute konzentriert in mein Gesicht.
„Ich weiß es nicht", flüsterte ich und versuchte, das Gespräch mit Mikhail aus meinem Gedächtnis zu verdrängen. Ich hasste es Nate anzulügen, aber er war so kurz davor zu erfahren, was wirklich hinter seinem Rücken abging. Das musste ich irgendwie verhindern.
84% ...
„Du weißt es", erwiderte er. „Stenja ist nicht wegen der Bruderschaft in Gefangenschaft, sondern wegen dir."
„Nate", seufzte ich. „Du musst mir glauben, ich weiß wirklich nichts. Du musst Stenja da rausholen, bitte."
„Du hast keine Ahnung, wie gern ich gerade die Antworten auf meine Fragen aus dir heraus foltern möchte", knurrte er bedrohlich, weshalb ich zurückschreckte.
„Denkst du, ich würde Stenja nicht helfen, wenn ich es könnte?", schrie ich verzweifelt und konnte nicht verhindern, dass Tränen in meinen Augen entstanden.
98% ...
Yonathan starrt mich eindringlich an, ehe er seufzte und seine feindselige Haltung aufgab.
„Tut mir leid. Ich wollte dich nicht verdächtigen, aber irgendwas geschieht hier und ich weiß einfach nicht, was es ist. Natürlich würdest du Stenja niemals in solche Gefahr bringen, ohne mit mir zu reden."
Mein schlechtes Gewissen raubte mir jegliche Luft zum Atmen. Ich schnappte erstickt nach Luft und hätte mich am liebsten in seine mich immer schützenden Arme geworfen, um ihm alles zu erzählen. Ich hatte das Gefühl das nicht allein zu bewältigen.
„Ich kann nicht", schluchzte ich, sah erneut auf den Ladebalken der endlich 100% erreicht hatte und stand ungeschickt auf. Dabei fiel erneut ein Stift zu Boden, den ich gleich darauf aufhob und den Stick dabei aus dem Rechner entfernte.
Als ich das Büro verlassen wollte, griff Yonathan völlig unvorbereitet meine Hand. Erschrocken drehte ich mich zu ihm herum. Panik, dass er mich durchschaut hatte nahm mich ein, weshalb ich meinen Kopf gesenkt hielt.
„Sky, wenn du irgendwas weißt, musst du es mir sagen." Seine blauen Augen bohrten sich in meine, weshalb ich meine Lider schloss und den einzigen Gedanken aussprach, der mir derzeit im Kopf kreiste.
„Ich vermisse dich."
Es war nicht schlau, ihm das in diesem Moment zu sagen, aber es war die Wahrheit. Ich fühlte mich so unendlich einsam. Ich war bei weitem nicht stark genug, um allein mit dieser Last zurechtzukommen und zum ersten Mal merkte ich, wie abhängig ich von einer schützenden Person war.
Ich war keine unabhängige Frau, denn im Herzen war ich noch immer dasselbe kleine Mädchen, dass nach Liebe und Anerkennung lechzte.
Überraschend zog Yonathan mich in seine Arme und drückte mich fest an seine muskulöse Brust.
„Ich bin da. Immer wenn du mich brauchst, Sky."
Ein Wimmern entkam meinen Lippen. Ich krallte meine Finger in sein Hemd und suchte den Schutz, den er mir immer bereit war zu geben.
„Dabei kannst du mir nicht helfen", schluchzte ich und löste mich von seiner Umarmung, um sein Büro zu verlassen.
Ich würde mich niemals von dieser Schuld, die ich in dem Moment verspürte erholen.
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