~Thirtysix~
„Ich sollte ihm folgen", sagte ich entnervt, nachdem die Tür ins Schloss fiel. „Er scheint aktuell ja nicht ganz er selbst zu sein."
„Gute Idee", stimmte Sky mir zu. Ich konnte es ihr ansehen, dass sie damit nicht glücklich war, aber letztlich wollte sie vermutlich auch nicht, dass Schlimmeres passiert. „Ich sollte mit Tante Beth reden."
Bei dem Gedanken, wollte ich sie noch weniger allein lassen. Auch wenn sie ihre Tante weitaus besser kannte als ich, bekam ich ein ungutes Gefühl.
„Sicher, dass du zurecht kommst?" Ich ging mit vorsichtigen Schritten auf sie zu und musterte sie abschätzig.
„Ja, du musst auf Kirill aufpassen. Ich schaffe das schon allein", antwortete sie nickend.
„Ich kann Stenja herschicken", bat ich ihr an. Es war erst früher Abend. Der Blauhaarige wäre vermutlich froh, wenn er rauskam. „Ich weiß, wie sehr du ihn vermisst hast."
„Nur wenn Aljoscha mitkommt", schmunzelte sie. Am liebsten hätte ich mit den Augen gerollt. Ich würde nie verstehen, wie Sky es mit den beiden zeitgleich aushalten konnte. Einer war schon anstrengend, aber zusammen konnten sie einem den letzten Nerv rauben.
„Er wäre der Letzte, der Nein sagen würde", erwiderte ich, gab ihr einen Kuss auf die Haare und spürte, wie sie ihre Arme um meine Mitte schlang.
„Danke", hauchte sie an meiner Brust. Ich musste darüber schmunzeln.
„Wofür?"
„Dafür, dass du mich nicht aufgibst." Ein kleiner Stich zog durch meine Brust, als ihre Worte mein Verstand erreichten.
„Niemals, Princess. Ich werde immer da sein, versprochen", erwiderte ich ihre Umarmung und hoffte, dass sie irgendwann das in sich sah, was ich sehen konnte. Ich konnte ihr leises Schniefen wahrnehmen, was es mir nicht leichter machte zu gehen. Aber ich musste. Sonst würde ich Kirill nicht mehr finden und wer wusste schon, was in seinem Kopf abging? „Wenn das alles vorbei ist, kannst du dir überlegen, ob du zurückkommen möchtest. King ist nicht wirklich begeistert, sich mit mir zufrieden geben zu müssen."
„Das würde ich sehr gerne." Ich spürte, wie ein Teil meiner Anspannung von den Schulter fiel und löste mich von ihr.
„Okay. Rede mit deiner Tante und danach schicke ich Stenja und Aljoscha her. Die Chaoten sind sicher froh, dir auf die Nerven gehen zu können und Demjan kann endlich mal durchatmen und bekommt eine Pause von ihnen."
„Geh jetzt!", drängte sie, da auch sie merkte, dass ich eigentlich nicht gehen wollte. „Ich komm klar."
Mit diesen Worten ging ich. Unmittelbar an der kalten Luft, atmete ich tief ein. Auf der einen Seite fiel mir ein Stein vom Herzen, da sie mir und meine Fehler unwiderruflich verzieh, aber wir waren noch immer zu keinem Ergebnis gekommen. Ich hoffte, dass uns der Ortungschip mehr Aufschluss geben konnte, als Kirills Versuch Sky zu provozieren.
Ich ging zügig zwischen die Trailer hindurch bis ich den Park verließ und auf die andere Straßenseite der belebten Gegend von Mattapan wechselte. Obwohl ich mir nicht sicher war, wo Kirill hingegangen sein konnte, sagte mir mein Unterbewusstsein, dass er nur an einem Ort sein konnte. In dem Club, wo so ziemlich alles schon vor über dreißig Jahren anfing.
Kurze Zeit später betrat ich das dunkle Etablissement. Laute Musik und stickige Luft strömte mir entgegen, weshalb ich am liebsten sofort wieder gegangen wäre. Lichter flackerten unaufhörlich im Takt der Musik und erschwerten mir die Sicht.
Im Club waren zum Glück nicht so viele Leute, da es dafür noch zu früh am Abend war. Ich entdeckte eine Bar, hinter der zwei Frauen Getränke mixten. Auf einer Bühne stand ein DJ, der sich selbst und seine schreckliche Elektromusik mehr feierte, als es die Anwesenden taten.
Ich ging weiter, da ich wusste, dass der Club nicht nur für Feiernde war, die lediglich nur etwas trinken und tanzen wollten. Als ich im hinteren Bereich ankam, erkannte ich einen schwarzen Vorhang. Dahinter befand sich eine Tabledancebar, zumindest deuteten das die Graffitis von leicht bekleideten Frauen an der Wand an. Ich wusste es besser, denn ich war mir den Geschäften, die mein Onkel früher hier führte durchaus bewusst.
Wieso Ly? Hätte du nicht ein x-beliebiges Mädchen in einem x-beliebigen Lokal anflirten können?
Ich rollte genervt mit den Augen, ehe ich den Bereich betrat, indem die Lichter nicht mehr so wild flackerten, dafür deutlich dunkler waren. Auch die Musik war leiser und wurde nicht von elektronischen Bässen dominiert. Es gab viele runde Tische mit halbrunden Sitzgarnituren. In der Mitte jeweils eine glänzende Stange. Auch hier waren nicht sehr viele Gäste. An den Stangen tanzten nur drei Frauen für einige durchschnittliche Männer. Auf einer schwarzen Bühne eine, die von einem älteren Mann mit dicken Bauch umgarnt wurde.
Eine lange Bar am Ende leuchtete im roten Licht und mir fiel sofort die Person mit der dunklen Kleidung am Tresen auf. Frauen, die nicht mehr als Unterwäsche trugen, liefen an mir vorbei. Auf den Lippen ein anzügliches Lächeln. Ich ignorierte es und ging zur Bar.
„Musste es ausgerechnet dieser Schuppen sein?", fragte ich, als ich mich neben Ly setzte. Ich konnte mir denken, wie es Kirill gefunden hätte, wenn er noch irgendwo anwesend war. Er mochte Nutten beinahe so sehr, wie Kilian generell Frauen hasste.
„Dich hat keiner darum gebeten, mir zu folgen." Er nahm sein Glas mit bernsteinfarbener Flüssigkeit und nahm einen Schluck. Mit verwunderten Blick musterte ich ihn. Offenbar tranken die Persönlichkeiten sogar unterschiedlich, denn von Kirill wusste ich, dass er nur eine bestimmte Sorte Wodka trank.
„Ich habe aber irgendwie nicht das Gefühl, dass du allein zurechtkommst", erwiderte ich.
„Wieso? Weil Kirill sonst allein agiert hat? Denkst du, wir anderen haben kein Recht darauf zu leben?" Er klang angepisst und zeigte mir mit einem Seitenblick deutlich, was er von mir hielt. „Er kann uns nicht länger unterdrücken. Wir sind alle ein Teil von ihm mit eigenen Gedanken, Interessen und Vorlieben."
„Wo ist Kirill jetzt?", fragte ich vorsichtig, woraufhin er freudlos auflachte.
„Du willst es nicht kapieren, oder?" Er leerte das Glas, ließ es mit zu viel Kraft zurück auf den Tresen knallen und drehte sich auf dem Hocker in meine Richtung.
„Was?"
„Er hat uns alle viel zu lange weggesperrt, indem er selbst nicht wahrhaben wollte, dass es uns gibt. Sein Pensum ist langsam aufgebraucht. Auch eine Persönlichkeit wie Kirill brauch einmal eine Pause. Also finde dich damit ab, dass du dich vorerst mit uns vergnügen musst."
Ich verstand absolut gar nichts von dem, was er mir da erzählte. Kirill konnte nicht einfach verschwinden und sich auf die faule Haut legen!
„Es würde mich deutlich weniger stören, wenn ich wüsste, dass ihr auch ohne ihn überlebt", sagte ich.
„Es ist ja nicht so, dass er vollständig verschwunden ist und all seine Erinnerungen und Erfahrungen mitgenommen hat", meinte er genervt. Für ihn war es vielleicht alles völlig normal, aber für mich, war es unvorstellbar, was in seinem Kopf abging.
„Wie meinst du das?" Ich kam mir allmählich dumm vor, so viele Fragen zu stellen, aber nur so wurde ich aus ihm schlau. Und Ly schien im Gegensatz zu Kirill immerhin gesprächig zu sein.
„Jeder der vorne agiert teilt sein Erlebtes mit dem System. Zumindest Dinge, die wir teilen wollen. Begegnungen mit anderen Menschen. Kirill war über zwanzig Jahre fast ausschließlich vorne. Stell dir mal vor, wir wüssten von der ganzen Zeit gar nichts."
„Also seid ihr schon immer da gewesen", stellte ich nachdenklich fest. „Wieso habt ihr vorher nie gewechselt?"
„Es ist nicht so, dass wir uns gegenseitig vom Bildschirm kicken können", knurrte er. „Klar, sobald jemand getriggert wird, ist es für die Persönlichkeit leicht zu übernehmen, aber ansonsten kann eine Person auch gut mehrere Tage vorne bleiben."
„Aber dann müsst ihr vorher schon gewechselt haben. Kilian triggert jeglicher weiblicher Kontakt. Und wenn das so ist, wieso wusste Kirill dann nicht schon viel früher von ihm?"
„Herrje, brauchst du erst eine Zeichnung?", fragte er genervt. Er hob seine Hand und signalisierte der Frau hinter der Bar, dass er ein weiteres Getränk ordern wollte. Sie nahm das Glas und füllte es nochmals mit Whisky. „Ich habe weder die Nerven, noch die Buntstifte, um es dir noch deutlicher zu erklären."
Ich hatte mich geirrt. Ly war ein größerer Arsch als Kirill! Und das sollte was heißen!
Er trank seinen Whisky und wirkte so, als wollte er mich einfach ausblenden. Darin waren sie offenbar alle perfektioniert, da sie sich untereinander auch ignorieren konnten.
Ich ging nochmal all seine Worte durch, überlegte, was Kirill mir bereits erklärt hatte, als es plötzlich Klick machte.
„Kilian hat nie eine Erinnerung geteilt! Ihr wolltet nie von Kirill entdeckt werden."
„Blitzmerker. Willst du jetzt ein Lolli?", entgegnete er sarkastisch. Er war mir gegenüber extrem feindselig. Lag das an Sky, weil ich ihn zuvor seine Grenzen gezeigt hatte?
„Also haben die Wechsel stattgefunden, aber keiner von euch wollte, dass Kirill es erfuhr. Deswegen auch die Blackouts. Ihr könnt steuern, an was er sich erinnert und an was nicht."
Er leerte das Glas, stand auf und ließ mich einfach sitzen!
„Ly!" Ich ging ihm hinterher, als er sich ruckartig zu mir herumdrehte.
„Du gehst mir tierisch auf die Nerven! Ich bin froh, dass mal für ein paar Stunden keiner der beiden Psychopathen hinter mir steht, versucht mich von irgendwas abzuhalten und ich einfach tun und lassen kann, was ich will. Also, wieso musst du mir stattdessen auf den Sack gehen?"
Ich wich einen Schritt zurück und verstand, dass er einfach nur Freiraum wollte.
„Ich muss das alles verstehen. Wenn Sky vielleicht dasselbe durchmacht, kann ich ihr vielleicht helfen", erklärte ich und hoffte, dass er einlenkte, sobald er ihren Namen hörte. Und anscheinend hatte ich recht. Denn er packte mich plötzlich am gesunden Arm und zerrte mich hinter sich her.
Er nahm an einem der Tische platzt, woraufhin eine der leicht bekleideten Stripperinnen sich zu uns gesellte. Ich verstand noch immer nicht, worin für Ly der Reiz lag, ausgerechnet hier seinen Hunger stillen zu wollen, wenn er auch einfach Sex umsonst haben konnte.
Er war schließlich nicht unattraktiv und nicht ganz so unsympathisch wie Kirill. Zumindest, wenn er sich Mühe gab.
Die Tänzerin hatte rote Haare, leichte Sommersprossen und ein Körper, der so nur mittels OP hergestellt werden konnte. Ihr Gesicht hatte eine symmetrische Form, genauso wie der Rest ihres Körpers. Schmale Taille, runde Hüften und die Brüste, die eindeutig nicht von Mutter Natur stammten. Auf ihren gebräunten Schenkeln hatte sie Tattoos, ebenso wie auf anderen stellen ihrer Körpers. Wenn ich schätzen müsste, würde ich sagen, dass sie sogar älter als Kirill war und somit auch Ly viele Jahre voraus war.
Keine Frage, sie war hübsch und vermutlich war sie bei den Männern extrem beliebt, da sie mit ihrem warmen Lächeln und der Selbstsicherheit, die sie ausstrahlte, sicher Pluspunkte sammelte. Zumindest, wenn man als Kind schon Barbie heiß fand.
Sie beugte sich zu Ly herunter und redete mit ihm. Allerdings verstand ich nicht, um was es ging. Nur nebenbei merkte ich, wie Ly ihr Geld zusteckte. Ihr Blick wanderte zu mir und für einige Sekunden sah sie mich von oben bis unten an.
„Danke, ich verzichte", sagte ich, da sie mit ihren Blicken mich förmlich dazu aufforderte, ihr ebenfalls Geld zuzustecken.
„Dann nehme ich halt nur deinen Freund mit", zwinkerte sie und griff nach seiner Hand. Er stand daraufhin auf, weshalb ich frustriert zu ihm aufsah. Er hatte sie ernsthaft für einen privaten Lapdance bezahlt?
Wie sollte ich so mit ihm reden?!
„Warte", brummte ich genervt und nahm $100, um ihr diese hinzuhalten. Sie schaute auf den Geldschein und wirkte nicht so, als wäre sie damit zufrieden, weshalb ich augenrollend einen zweiten Schein nahm und ihr die $200 entgegenhielt.
„Dein Kumpel hat mir $500 für eine Stunde gegeben", grinste sie überlegen.
Das wäre sie nicht mal wert, wenn sie ihm einen blies und nebenbei noch Kunststücke aufführte!
„Komm schon, du willst wissen, wo Kirill ist? Was sind dir die Antworten auf deine Fragen wert?", zog Ly mich breit grinsend auf. „Als würde dich das bisschen Geld interessieren."
Ich schnaubte angesäuert, aber überreichte ihr anschließend das Doppelte. Solange Ly mit mir redete, war mir das Geld scheißegal.
„Also zwei Stunden?", fragte sie mit einem anmutigen Lächeln. Vermutlich verdiente sie nicht mal in einer ganzen Nacht so viel Geld, wie allein Ly ihr für einen Scheißtanz gegeben hat.
„Nein, der Rest ist dafür, dass alles, was in dem Séparée gesprochen wird, auch dort bleibt! Ich will kein Tanz, sondern nur mit ihm reden, während du dich auf seinem Schwanz rekelst", erklärte ich, woraufhin sie eine Schulter hochzog und das Geld nahm.
„Von mir aus." Sie ging vor und wir beide folgten ihr zu einem abgesperrten Bereich. Mit einem Blick deutete ich Ly, was ich davon hielt, dass er mich mit in seine Scheiße zog.
„Schau nicht so, Daddy", witzelte er schon genauso wie Kilian und legte seinen Arm um meine Schulter. Den pochenden Schmerz, den er damit verursachte, ignorierte ich. „Gucken ist schließlich nicht verboten."
„Hab ich nicht nötig. Ich bekomme zu Hause alles, was ich brauche", knurrte ich sauer. Allerdings bekam ich nur von ihm Antworten und offenbar wollte er mir die nur geben, wenn ich nach seiner Nase tanzte. Oder eine Nutte auf seinem Schwanz.
Kaum zu glauben, aber er nervte mich mehr, als Kirill es je konnte!
_______
Dürfte interessant werden, wenn die anderen Persönlichkeiten auch mal nach vorne dürfen 🤣
Hoffen wir mal, dass Kilian davon kein Wind bekommt 🫣😂
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top