~Thirtyfive~

In Gedanken versunken starrte ich Kirill hinterher, wie er einfach selbstverständlich hinter die Tür verschwand, wo Skys Bett war. Das, was ich vor einigen Minuten selbst miterlebt hatte, ließ mich nicht los. Wenn es für einen Außenstehenden schon völlig verwirrend war, wie musste sich Kirill fühlen?

Und was meinte Kilian damit, er wäre weg? Wo konnte eine Persönlichkeit in einem Kopf schon hin? Ich bezweifelte, dass er sich sagte, er hätte kein Bock mehr auf den Mist und an den nächsten Strand flüchtete. Oder, was auch immer es in der inneren Welt gab.

„Denkst du, es ist möglich, dass einzelne Persönlichkeiten innerhalb des Systems für immer verschwinden? So als würden sie sterben?", fragte Sky und ich verstand ihre Sorge.

Wir alle kannten Kirill nur als Kirill. Wenn er nicht zurückkam, wer übernahm dann die Rolle als Host? Wer würde dann überwiegend vorne sein?

„Ja, ich glaube schon. So wie neue Persönlichkeiten entstehen, können sich andere auch auflösen. Aber nicht Kirill. Er ist schließlich zum Schutz entstanden", antwortete ich und hoffte, ich würde mit der Theorie richtig liegen. Er konnte nicht einfach abhauen! Nicht, wo ich anfing ihn langsam zu mögen!

„Entstehen nicht alle Persönlichkeiten zu einem bestimmten Schutz? Also immer, wenn er etwas negatives erlebt?"

Damit hatte Sky vermutlich recht. Die Frage war auch, wo die Persönlichkeiten alle plötzlich herkamen. Sie konnten nicht alle gleichzeitig entstanden sein, als Kirill vor Skys Tante stand. Oder doch?

Oder waren sie schon lange Teil des Systems ohne von Kirill und Kilian entdeckt worden zu sein?

„Schon, aber Kirill war so viele Jahre allein der Host. Du hast gesehen wie aufgeschmissen die anderen waren. Daher denke ich nicht, dass er einfach verduftet und das System im Stich lässt." Sie nickte kaum merklich und auch wenn sie versuchte, es zu verbergen, ich konnte die Sorge in ihrem Gesicht sehen.

Ich fragte mich, wie lange es wohl dauern würde, bis irgendwer wieder nach vorne kam. Verging die Zeit in der inneren Welt genauso wie in der realen Welt?

„Dann warten wir, bis er wieder aufwacht", sagte sie entschlossen. Sie ging zurück auf die Couch, hob die Decke und setzte sich. Stille breitete sich aus. Es gab zu viel, was zwischen uns stand.

„Es tut mir leid, wie ich dich behandelt habe", sagte ich aufrichtig. Sie hob den Kopf und ein zweifelnder Ausdruck entstand auf ihrem Gesicht.

„Wie denn?"

„Gestern, als ich dich rausgeworfen habe. Das was ich gesagt habe, war nicht okay, aber ich war einfach so wütend", erklärte ich und ging auf sie zu. Mit einem fragenden Blick deutete ich neben sie. Sie rutschte zur Seite und machte mir Platz.

„Erzähle mir von der Nacht", bat sie.

„Du hast vor mir gestanden und mich mit so viel Hass in den Augen angesehen. In deinem Blick war nichts, was mir vertraut vorkam. Ich habe geglaubt, dass du mir alles nur vorgespielt hast. Jeden Kuss, jede Berührung, jede Zärtlichkeit", erklärte ich. Sie sah mich traurig an. In ihren Augen glänzten die ersten Tränen.

„Wie hätte ich dich so täuschen sollen?", fragte sie hauchend.

„Ich weiß es nicht. Aber in dem Moment war ich einfach nur so verletzt und wütend. Ich wollte nicht glauben, dass du es wirklich tust."

„Du hättest es verhindern müssen", sagte sie, weshalb ich freudlos auflachte.

„Wie denn? Wie hätte ich mich wehren sollen, wenn ich geglaubt hatte, dass das vor mir du bist?"

„Was, wenn ich es war?", fragte sie. „Ich kann mich noch immer an nichts in der Nacht erinnern."

„Ich ... weiß es nicht. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, würde ich nicht sagen, dass du es warst. Aber mein Hirn glaubt, was es gesehen hat. Nämlich dich", antwortete ich. „Das alles fickt gewaltig meinen Kopf."

„Wenn ich mich wenigstens an irgendwas erinnern könnte", schluchzte sie.

„Letztendlich", begann ich und drehte meinen Oberkörper zu ihr. „Ist es nicht von Bedeutung, ob du es unterbewusst warst, oder ein Zwilling, oder sogar eine andere Persönlichkeit."

„Wieso? Es kann dir nicht egal sein, wer dir das alles angetan hat", flüsterte sie. Ich strich eine ihrer blonden Strähnen beiseite und musterte nachdenklich ihre Haare. Anschließend ihr Gesicht. Ihre schönen Augen. Die vollen Lippen. Ihre niedliche Nase.

„Doch, weil ich weiß, dass du – die, die du jetzt bist, mich liebt. Du würdest mir niemals schaden wollen. Das ist alles, was wichtig ist."

„Du glaubst nicht daran, dass es ein Zwilling beziehungsweise Doppelgänger war", stellte sie überrascht fest und entfernte sich von mir.

„Eine eins zu eins Kopie von dir?", fragte ich und zeigte ihr mit gehobenen Augenbrauen, was ich davon hielt. „Wie wahrscheinlich ist das?"

„Wahrscheinlicher als eine gespaltene Persönlichkeit", erwiderte sie. Ich erkannte, dass es sie nervte, weil ich trotz allem, was Kirill versucht hatte, den Gedanken nicht loswurde, dass es Sky war.

„Wäre es eine Doppelgängerin gewesen, wäre mir irgendein Unterschied aufgefallen, aber ich weiß, dass das in der Firma zu hundert Prozent du warst", hielt ich daran fest. Sie stand auf, ging zu der Küchenzeile und nahm sich ein Glas, ehe sie dieses mit Wasser füllte.

„Und wenn es irgendwas anderes sein könnte? Dass Mikhail mich mit irgendwas manipuliert hat?"

„Sky, wir sind in keinem Sci-Fiction Film, wo man Menschen wie Roboter steuern kann", sagte ich schmunzelnd.

„Dann war es eine Doppelgängerin", sagte sie überzeugt und überkreuzte ihre Arme vor der Brust.

„Wir finden es heraus", versuchte ich sie zu beruhigen. Ich stand auf und griff in meine Hosentasche. Das rote mit Samt überzogene Kästchen in der Hand. „Ich habe etwas, was uns vielleicht helfen könnte."

Ich ging auf Sky zu und sah, wie sie mich misstrauisch musterte. Unmittelbar vor ihr, öffnete ich das Schmuckkästchen und nahm das kleine Herz mit den funkelnden Steinen heraus.

„Ich möchte, dass du diese Kette immer trägst", sagte ich. Sie nahm das Herz zwischen ihre Finger und schaute es sich einige Sekunden an.

„Wieso schenkst du mir eine Halskette?", fragte sie verwirrt.

„Da ist ein Ortungschip drin", erklärte ich ehrlich. „Wenn es wirklich eine Doppelgängerin gibt, können wir es damit herausfinden."

„Gar nicht mal so dumm", stimmte sie nickend zu. Ich nahm ihr die Kette ab und deutete ihr, dass sie sich umdrehen sollte. Sie tat es auch umgehend und hob ihre langen Haare, damit ich sie ihr um den Hals legen konnte. Ich verschloss die filigrane Kette in ihrem Nacken und betrachtete ihren schmalen, langen Hals, ehe ich mich vorlehnte und ihr einen sanften Kuss auf den Nacken hauchte.

Ich konnte die Gänsehaut auf ihrer Haut erkennen, weshalb sie sich schnell zu mir herumdrehte und mich unschlüssig ansah. Sie sah mich mit ihren großen Augen an. Die Verletzlichkeit deutlich in ihnen erkennbar. Meine Hand fand wie von selbst ihre Wange. Jeder Faser meines Körper wollte sie küssen – sie spüren und ihren süßen Duft inhalieren.

„Mein Gott, was ist los mit diesem Körper?", ertönte die Stimme von Kirill, weshalb ich genervt meine Augen verdrehte. Hätte er nicht noch fünf weitere Minuten seinen Kopf sortieren können?

„Ich liebe dich", hauchte Sky leise, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste meinen Mundwinkel. Eine wohlige Wärme breitete sich in meinem Brustkorb aus. Zumindest bis erneut die Stimme von Kirill in meine Ohren drang.

„Wie kann man kein Fett am Körper und so definierte Muskeln haben?", fragte Kirill, kam nur in Hose bekleidet zu uns und tätschelte seinen Sixpack, als wäre er selbst davon angetan.

„Wieso gehst du nicht zurück und holst dir darauf erstmal einen runter?", fragte ich mit zynischen Unterton.

„Oder ziehst dir etwas an", ergänze Sky und sah beschämt weg.

Kirill sah uns abschätzig an und wirkte wie auch vorhin, als würde er eher in seinem Kopf Unterhaltungen führen, als im realen Leben. Allerdings schien die Persönlichkeit dazu gelernt zu haben, da sie nicht jeden Gedanken laut aussprach.

„Scheiße, ich habe Hunger des Todes", stöhnte er plötzlich und lief an uns vorbei. Er öffnete den Kühlschrank, holte sämtliche Lebensmittel hervor und machte sich ein gigantisches Sandwich.

„Hi", sagte Sky und stellte sich unmittelbar neben ihn. Da er kein Shirt mehr trug, konnte man erkennen, wie er sich anspannte. „Sag mal, habt ihr schon herausgefunden, wo Kirill ist? Ich vermisse ihn irgendwie."

Er drehte sich halb zu Sky herum und schmunzelte sie an. „Ich bin doch hier, Kroschka."

Ich zog meine Stirn zweifelnd in Falten. Er redete wie Kirill, verhielt sich wie Kirill, aber irgendwie war es nicht Kirill.

„Wirklich?" Sky schien ihm ebenso kein Wort zu glauben.

„Wer sollte ich sonst sein?", fragte er und nahm den ersten Bissen von seinem Sandwich. Er nahm sein Essen und setzte sich auf die Couch. „Wieso seht ihr mich an, als wäre ich ein Geist?"

„Weiß nicht, vielleicht weil du vorhin noch mit etlichen Persönlichkeiten gestritten hast", platzte es aus Sky heraus. Kirill sah sie nur ausdruckslos an und aß entspannt weiter.

„Vergesst das einfach. Da sind die Synapsen nur irgendwie durchgebrannt", meinte er ausweichend. „Also, habt ihr alles geklärt?"

„Die Frage ist, ob du alles geklärt hast", erwiderte ich noch immer skeptisch.

„Mit wem?", fragte er und brachte mich damit zum Verzweifeln. Wem wollte er auf einmal etwas vormachen?

„Wer bist du?", hakte Sky nochmal nach und trat dicht an ihn heran.

„Kroschka, hör auf mir auf die Eier zu gehen", zischte er genervt.

„Vielleicht ist er wirklich Kirill", drehte sie sich zu mir herum.

„Wer auch sonst?", knurrte er und stand auf. Ich glaubte noch immer nicht daran, dass er es wirklich war, weshalb ich mich ihm in den Weg stellte.

„Wir wollen mit Kirill reden!"

„Sag mal, sind bei dir die Gehirnzellen abgestorben?!", blaffte er mich an. „Und ihr meint, ich wäre verrückt! Dabei benehmt ihr euch, wie zurückgebliebene Idioten."

„Er hat keine Ahnung, was vorhin passiert ist", meinte Sky und kam wieder näher. „Wer war vorne als du aufgewacht bist? Das war definitiv ein anderer."

„Gott, ihr fickt meinen Kopf schlimmer als die Gestalten da drin!", meinte er genervt.

„Wir können eben nicht hinter deine Stirn gucken! Sag uns doch einfach, wo Kirill ist!", wurde Sky lauter. Plötzlich änderte sich seine Mimik und er sah mit ernsten Zügen auf sie herab.

„Hörst du nicht auf mit der Scheiße, schneide ich dir deine verfickte Zunge raus und schiebe sie dir soweit in den Rachen, bis du elendig dran erstickst!"

Ich konnte sehen, wie Sky vor Wut schäumte. Sie ballte ihre kleinen Hände zu Fäusten und bevor ich einmal blinzeln konnte, hatte sie ihm einen Kinnhaken verpasst.

„Sorry, Schönheit. Er meint das nicht so", sagte er plötzlich mit ruhiger, beinahe sanfter Stimme. „Fuck, das tat weh!" Er öffnete den Mund und ließ seinen Kiefer einmal knacken.

„Bekommt eure Scheiße in den Griff! Und vor allem sagt Kilian, er soll aufhören mir zu drohen!"

Sie ließ ihn einfach stehen und warf sich noch immer vor Zorn schäumend auf die Couch.

„Du machst mich so scharf", sagte er ohne jeglichen Anstand.

„Okay, das reicht. Kilian, oder wer auch immer, hat dir bereits gesagt, dass ihr zwei verwandt seid. Also vielleicht suchst du dir dann ein nettes Mädchen, mit der du nicht dasselbe Blut teilst", mischte ich mich zum ersten Mal ein. Ich wusste nicht, wie weit die Persönlichkeiten gingen, wenn sie vorne waren und inwieweit andere dagegen vorgehen konnten.

„Hast du nicht deine Cousine gefickt?", fragte er mich wieder ohne jegliches Schamgefühl. „Vielleicht habe ich es auch nur falsch verstanden." Er zuckte mit den Achseln und ging in das winzige Zimmer. Als er wiederkam zog er sich sein T-Shirt an und anschließend seine schwarze Jacke. Ich ließ seinen dummen Kommentar unbeantwortet.

„Was hast du vor?", fragte Sky und klang dabei besorgt.

„Ich werde mir jetzt die Birne wegballern, mir ein Mädchen suchen, dass nicht dasselbe Blut hat, wie der Körper und diese richtig heftig flachlegen."

Sky blinzelte ihn ungläubig an und auch ich war mir unsicher, ob das eine so gute Idee war. Nach wenigen Sekunden platzte aus Sky ein Lachen heraus.

„Wir müssen Stenja und Aljoscha unbedingt Ly vorstellen. Die drei würden sich gut verstehen", meinte sie, als Kirill schon aus der Tür heraus war.

Irgendwas sagte mir, dass das in einem Blutbad endete.

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Ich weiß, ihr wollt sicher endlich wissen, was nun wirklich an dem Abend geschehen ist und wer Nate wirklich angeschossen hat 🫣

Von was geht ihr denn aus? Was wäre euch vielleicht sogar lieber? 🤣 lasst mir gern mal eure Meinung dazu da, vllt bin ich danach nicht mehr so lost 😂❤️🫶🏻

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