~One~
„Hallo Schwesterherz." Mir entwich jegliches Blut aus dem Gesicht, als ich den Mann vor mir erkannte.
„Du wirkst überrascht", lachte er und trat dabei näher an mich heran. „Unsere letzte Begegnung ist noch nicht allzu lange her. Ich muss gestehen, ich hatte etwa denselben Gesichtsausdruck, wie du als ich erfahren habe, wer du bist."
Sein abartiges Grinsen widerte mich genauso an, wie vor einigen Wochen, als ich in seiner Lagerhalle angekettet und von etlichen Männern, wie ein Objekt auf einer Versteigerung betrachtet wurde.
„Das ist unmöglich", sagte ich mit brüchiger Stimme. Mir wurde bewusst, dass mein Halbbruder der Menschenhändler war, der mich auf der Auktion an Yonathan versteigert hatte.
„Nichts ist unmöglich, Schwesterchen. Überraschend, ja." Sein Grinsen wurde breiter und die Übelkeit in meinem Bauch nahm zu.
„Was willst du von mir?"
„Wir sollten uns kennenlernen, wenn wir schon das Glück haben, uns nach so langer Zeit gegenüberzustehen. Ich heiße Mikhail." Meinem Mund entkam ein abfälliges Schnauben. Was dachte er sich? Dass wir gegenseitig unsere Kindheitserinnerungen austauschten?
„Kein Bedarf, danke", erwiderte ich. Ich wollte an ihm vorbei und aus dem Waschraum flüchten, allerdings stellte er sich mir in den Weg.
„Das war kein Angebot, dass du so einfach ablehnen kannst", knurrte er ungeduldig. „Ich weiß, wonach du strebst und ich kann dir dabei helfen. Im Gegenzug verlange ich allerdings auch etwas von dir."
„Von dir will ich ganz sicher keine Hilfe!" Unmittelbar nachdem ich den Satz beendet hatte, hatte ich auch schon den Lauf seiner Waffe vor meinem Gesicht.
„Nicht so voreilig, Schwesterchen. Wie wäre es, wenn du dir mein Angebot erstmal anhören würdest und dann entscheidest." Ich senkte meine Lider und atmete tief ein. Die Waffe beunruhigte mich nicht einmal halb so viel, wie sie vermutlich sollte. In letzter Zeit hatte ich genügend von diesen auf mich gerichtet, dass es beinahe normal wirkte bedroht zu werden.
„Eine Wahl habe ich wohl nicht", erwiderte ich abfällig mit dem Blick auf die Waffe. Sein raues Lachen ertönte und er ließ diese sinken.
„Sorry, ist eine Angewohnheit, alles mit diesen Mitteln zu klären." Mikhail steckte seine Pistole vollständig weg und versuchte mit einem Lächeln die Situation aufzulockern. Der Typ hatte wirklich einen gewaltigen Dachschaden!
„Scheint gang und gäbe bei euch Russen zu sein", stimmte ich nickend zu. Sein Lachen wurde lauter, als ein Klopfen an der Tür uns beide erschreckte. Mit seinem Finger signalisierte er, dass ich ruhig sein sollte.
„Skylar? Ist alles in Ordnung bei Ihnen?" Ich erkannte die Stimme von Tyson sofort und hätte am liebsten geschrien. Das erkannte auch Mikhail, weshalb er seine Hand fest auf meinen Mund presste und seine Waffe fest in meine Seite bohrte.
„Antworte ihm", knurrte er und nahm die Hand weg, damit ich reden konnte.
„J-ja alles gut. Ich brauche nur einen Moment." Mikhail signalisierte mir mit einem Blick, dass ich nicht überzeugend genug war und stieß den Lauf der Waffe auffordernd oberhalb meines Beckens. Ein leises Keuchen entwich meinen Lippen.
„Sicher? Könnten Sie wenigstens kurz vor die Tür kommen, damit ich mich versichern kann?"
Tyson war hartnäckig und er war natürlich ausgebildet genug, um zu erkennen, sobald eine Situation komisch war. Er hatte in seinem Agentenmodus bereits gecheckt, dass etwas faul war. Mikhail schüttelte jedoch mit seinem Kopf. Er war ebenfalls nicht dumm genug, mich nach draußen zu Tyson gehen zu lassen.
„Nein wirklich. Ist alles gut. Ich bin gleich fertig", sagte ich so normal, wie ich konnte.
„Geh da rein", flüsterte Mikhail und deutete mit seinem Kopf auf eine der Kabinen. Mit der Waffe noch immer in meiner Seite dirigierte er mich vorwärts, bis er mich in einer der WC-Kabinen schubste. Mit einer Bewegung verschloss er die Tür und drehte uns so, dass er sich auf den Toilettendeckel hocken konnte, sodass seine Füße auf dem Deckel waren.
„Falls dein Babysitter wirklich gleich reinkommt, versichere ihn irgendwie, dass du allein bist und alles gut ist", sagte Mikhail mit gedämpfter Stimme. Ich nickte und betrachtete geistesabwesend die Waffe in seiner Hand, die er locker herunterhängen ließ. Mir kam der Gedanke, sie ihm vielleicht entreißen zu können, denn er würde damit genauso wenig rechnen, wie ich selbst.
Schnell verwarf ich den absolut dämlichen Gedankenblitz. Als hätte ich jemals die Eier dafür gehabt!
Plötzlich öffnete sich die Tür zur Damentoilette und Mikhail deutete mit seinem Zeigefinger an den Lippen, dass ich mich ruhig verhalten sollte.
„Skylar, ich muss mich vergewissern, dass bei Ihnen alles in Ordnung ist", ertönte Tysons Stimme.
„Mir ist nur schlecht nach all den Informationen", sagte ich. Es war nicht einmal eine Lüge, denn mir war wirklich zum Kotzen zumute. „5 Minuten, Ty."
Das Geräusch der Klospülung ließ mich zusammenzucken. Gleich darauf kam lediglich ein Räuspern von Tyson.
„Okay, verstehe schon." Ihm war es wohl unangenehm in solch einer Situation zu stören und mir war es ebenso unangenehm, da er nun vermutlich die besten Bilder im Kopf hatte. „Ich warte vor der Tür."
Damit verschwand er und Mikhail erhob sich lässig von dem Toilettendeckel. „An deiner Überzeugungskraft arbeiten wir noch."
„Fick dich", knurrte ich.
„So gefällst du mir, Schwesterchen."
„Sag einfach, was du von mir verlangst", sagte ich und folgte ihm aus der Kabine raus.
„Macht. Mehr nicht", antwortete er und lehnte sich dabei an eines der Waschbecken. „Und du bist diejenige, die mir diese beschaffen wird."
„Klar, lass uns zusammen die Weltherrschaft an uns reißen", gluckste ich amüsiert. Mikhail sah mich mit ernster Miene an und schien es nicht annähernd so lustig zu finden, wie ich.
Denselben Humor, hatten wir schon mal nicht.
„Schluss mit den Späßen. Du besorgst mir verschlüsselte Codes und im Gegensatz dazu, werde ich deinem Liebling nichts tun."
„Ich habe mich von Yonathan getrennt", sagte ich so ausdruckslos, wie es mir möglich war. Ich hatte die Hoffnung, dass ihn diese Information mit seinem Plan ins Straucheln brachte.
„Ich rede nicht von Yonathan. Mir ist sehr wohl bewusst, wie ihr zueinander steht, daher sollte es für dich auch ein leichtes sein, die Codes von seinem PC zu klauen und mir zu überreichen. Und das Beste an allem, er würde niemals vermuten, dass du es warst", erklärte er mir.
„Wen meinst du mit meinem »Liebling«? Diese Frage ist die Einzige, die in meinem Kopf schwirrte, ohne auf seine Anforderung einzugehen.
Ein Grinsen zierte seine Lippen, als er sein Smarthpone hervorholte und mir eine Aufnahme von Stenja zeigte. Er stand umgeben von bewaffneten Männern in einer Lagerhalle. Meine Reaktion verriet mich augenblicklich, sodass Abstreiten absolut keinen Sinn machte.
„Ich kann dir keine Codes beschaffen. Ich habe keinerlei Ahnung von Technik. Yonathan wird diese nicht offen herumliegen haben." Meine Verzweiflung war deutlich aus meiner Stimme herauszuhören. Nicht nur, weil er von mir verlangte Yonathan zu hintergehen, auch weil er Stenja im selben Atemzug bedrohte.
„Darüber brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Du musst lediglich einen Stick in den Computer stecken, alles andere wird von der Ferne erledigt."
„Was tust du mit ihm?", fragte ich und nahm das Handy, um Stenja genauer zu betrachten. Allein der Gedanke, ihm könnte etwas meinetwegen geschehen, brach mir das Herz.
„Siehst du den roten Punkt? Das ist mein bester Scharfschütze. Sobald du ablehnst, drückt dieser ab", erklärte Mikhail. Diese Zwickmühle trieb mir die Tränen in die Augen. Auf keinen Fall wollte ich Stenja weiterhin in der Schusslinie sehen, aber Yonathan hintergehen konnte ich ebenso wenig.
„Betrachte es doch mal so. Yonathan wollte sowieso nie in die Fußstapfen seines Vaters treten. Du tust ihm einen großen Gefallen, wenn du die Geschäfte der Bratva zerstörst."
„Ich kann das nicht", schluchzte ich, innerlich zerrissen, was ich tun sollte. Ich konnte Stenja nicht in Gefahr bringen, aber Nate hatte es ebenso wenig verdient, von mir so betrogen zu werden.
„Es ist faszinierend, wie ausgerechnet du, die Familie schützen will, von der du verkauft und wie der letzte Dreck behandelt wurdest", sagte Mikhail nachdenklich. Seine Worte trafen mich. Zurecht, denn jedes einzelne entsprach der Wahrheit. „Jeder von ihnen hat dabei zugesehen und keiner hat gehandelt. Erst, als das schlimmste bereits passiert war. Schau mir in die Augen und sag mir, dass du keine Rache willst."
„Doch will ich, aber nicht Stenja gegenüber, sondern Demjan. Er soll leiden", erwiderte ich. Meine Stimme bestand aus purem Hass. All die Ereignisse kochten von neuem hoch. Die Demütigung und mein Vertrauen gegenüber Demjan, dass er mit Füßen trat.
„Dann besorge mir die Codes und ich verschaffe dir die Freiheit, nach der du dich sehnst." Mikhail war nur wenige Zentimeter entfernt und auch wenn ich vor ihm hätte Angst verspüren müssen, tat ich es nicht. Seine Absicht war böse und er war ebenso ein schlechter Mensch, wie all die anderen Russen.
„Halte nicht an dem fest, was dich nicht zu schätzen weiß, Schwesterchen." Überrascht von den Worten, drehte ich mich zu ihm herum. Noch immer verharrte er unmittelbar vor meinem Gesicht. Seine azurblauen Augen, die mich an meine eigenen erinnerten, schauten mich undurchdringlich an.
„W-was?"
„Während du dir hier den Kopf zerbrichst, wie du dich entscheiden sollst, um Yonathan zu schützen, hat er längst in eine anderen eine Abwechslung gefunden", erklärte Mikhail. Ungläubig blinzelte ich ihn nur an. Erneut nahm er sein Handy und öffnete vor meinen Augen eine App. Umgehend öffneten sich Kameraaufnahmen und schnell erkannte ich Yonathans Penthouse, dass auch ich als mein Zuhause bezeichnete.
Von jedem Raum gab es eine Aufnahme. Die Werkstatt, der Flur, die Bibliothek, Yonathans Büro, das Foyer und die Küche. Auch von den oberen Schlafräumen und dem Flur gab es Aufzeichnungen. Ausgenommen waren nur die Badezimmer und das blaue Zimmer. Dort hielt es Yonathan wohl für überflüssig überwacht zu werden. Jedoch konnte ich mich nicht lange auf diese Tatsache konzentrieren, da mein Blick auf das Wohnzimmer fiel.
Ich erkannte Yonathan auf der Couch. Für seine Verhältnisse war er mit der Jeans und dem dunklen Hemd sehr legere gekleidet. Die Ärmel seines Hemdes hatte er bis zu seinen Ellenbogen hochgeschoben, wodurch seine tätowierten Arme deutlich hervorstachen. Auch die obersten Knöpfe an seinem Hals waren offen und legte damit einen Teil seiner ebenso tätowierten Brust frei. Seine schwarzen Haare waren zerzaust. Nur von seinen Händen oder anderen konnte ich nicht beurteilen.
Doch, das war nicht, was mich so sehr störte. Es war die Frau neben ihm. Sie saß viel zu dicht neben Yonathan, sodass ihr nacktes Bein an seinem lag. Ich wusste sofort wer sie war, denn ich erkannte sie von einem Foto aus Yonathans Wohnzimmer. Sie hatte dieselben schwarzen Haare, wie er. Diese fielen in sanften Wellen über ihren makellosen Körper. Ihre weiblichen Kurven präsentierte sie deutlich in einem engen Kleid.
Beide wirkten so unfassbar vertraut, wie sie miteinander redeten. Immer wieder berührte sie ihn, während sie lachte. Ich liebte das Lächeln, dass sich um Yonathans Lippen schmiegte, aber ich hasste es, dass es seiner Cousine galt.
Meinem Herzen versetzte der Anblick einen schmerzhaften Stich. In mir stieg die Eifersucht, obwohl ich alles beendet und meine Freiheit von ihm verlangt hatte.
„Okay ich tue es", wisperte ich beinahe tonlos. Ein breites Grinsen entstand auf Mikhails Gesicht und verzerrte die Narbe auf seiner Wange.
„Ich wusste, du würdest dich richtig entscheiden." Er übergab mir einen kleinen silbernen USB-Stick. „Du musst den Stick an den PC in Yonathans Büro stecken. Es wird sich ein Fenster öffnen und du wartest, bis der Ladebalken 100% erreicht hat. Danach ziehst du den Stick ab und verschwindest unbemerkt aus dem Büro."
Als Antwort nickte ich nur, ehe Mikhail sich von mir abwandte.
„Ach und Skylar, solltest du mich in irgendeiner Weise hintergehen wollen, werde ich es wissen. Und dann wird der falsche Jakowlew sterben."
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