~Fourtytwo~
(Multi-Perspektive)
Zwei Wochen später saß ich in der Jurafakultät in einer Vorlesung. Ganz wohl war mir bei allem zwar nicht, da ich mir nie sicher sein konnte, was passieren könnte, aber Ly meinte, dass es wichtig wäre trotz allem an einem geregelten Tagesablauf teilzunehmen. Er meinte, es würde nichts bringen, wenn ich mich aus Angst versteckte.
Ich war so dankbar, dass Ly, Owen und Blake mich unterstützten und mir jederzeit mit Rat und Tat zur Seite standen. Hätte ich all das allein durchleben müssen, wäre ich längst daran verzweifelt. Die Stimmen in meinem Kopf gehörten mittlerweile zu meinem normalen Alltag. Ich schaffte es größtenteils sie sogar auszublenden, um nicht völlig den Verstand zu verlieren. Jedoch waren sie nicht rund um die Uhr da und ich wusste nie, was sie wirklich mitbekamen.
Das Praktikum würde ich nicht weitermachen können, was aber weniger an der Krankheit lag, sondern mehr daran, weil irgendwer in meinem Innern der Firma von Nate geschadet hatte. Viele der Angestellten wurden langfristig freigestellt, da Yonathan es nicht übers Herz brachte, so viele von ihnen zu entlassen. Es war zwar ein enormer finanzieller Verlust, da er die Angestellten monatlich bezahlen musste, aber irgendwie zeigte es auch, was für ein Gegenteil Nate zu seinem Vater war.
Obwohl er bereits dabei war, alles wieder herzurichten, würde es noch einige Zeit brauchen, um auf den letzten Stand der Firma zu kommen. Er verlor etliche Geschäftspartner und somit auch die Aufträge für die Sicherheitsanlagen, die er ohne all die gelöschten Codes ohnehin nicht erstellen konnte. Es tat mir im Herzen weh, zu wissen, dass ich es gewissermaßen zu verantworten hatte, auch wenn er mir so oft sagte, dass es nicht meine Schuld wäre. Ich sah es allerdings etwas anders, denn es war mein Gesicht, das diesen Schaden angerichtet hat.
Allerdings konnte ich bisher mit keinen der Persönlichkeiten reden, beziehungsweise schaffte es ins Co-Bewusstsein zu gelangen, indem ich bewusst einen Wechsel hatte. Ich wusste nicht, wie Ly und die anderen es machten. Leider konnten sie mir auch keine Anleitung dafür geben.
Die Erinnerungslücken wurden häufiger, allerdings blieb es meist dabei, dass es nur wenige Minuten waren, die mir fehlten. Oft war es so, dass ich mich nicht daran erinnerte, worüber ich zuvor mit jemanden geredet hatte. Für Cynthia war es anfangs ziemlich verwirrend, weshalb ich ihr nach einigen Tagen davon erzählt hatte. Ebenso mussten wir Tyson darüber informieren, der nach einem längeren Gespräch zum Glück verstand, dass ich ihn nicht böswillig betäubt hatte und daraufhin mein Personenschützer blieb.
Vor einigen Tagen war ich zum ersten Mal bei einer Therapie. Nachdem ich mit Yonathan darüber gesprochen hatte, dass ich mich damit wohler fühlen würde, suchte er sofort eine Therapeutin, die sich auf Persönlichkeitsstörungen spezialisierte. Einmal in der Woche hatte ich eine Einzelsitzung und einmal begleitete mich Nate, damit wir lernten, auch zusammen mit der Krankheit umzugehen.
Für ihn war es auch unheimlich schwer eine körperliche Veränderung wahrzunehmen, sobald doch jemand anderes übernahm, zumal es jedes Mal nur eine so kurze Zeit war. Dr. Moreno sagte, dass es völlig normal wäre, da die Persönlichkeiten zum Schutz dienten und es nicht für jeden sofort offensichtlich sein sollte.
„Wusstest du, dass Justin Claire den Laufpass gegeben hat? Nach nur zwei Woche", riss Cynthia mich aus den Gedanken, während ich einen Schreibblock und einige Stifte bereitlegte.
„Zac meinte, Claire wäre viel zu anhänglich gewesen", erwiderte ich.
„Wäre für mich kein Grund. Das zeigt doch, dass der Partner Interesse an der anderen Person hat", meinte sie und rümpfte dabei die Nase.
„Sie ist niedlich, wenn sie das macht", hörte ich eine der Stimmen sagen.
„Ich glaube, viele Männer in unserem Alter sehen das anders."
„Ja, weil die nur eins im Kopf haben. Ein Grund mehr, warum ich auch jemanden älteres möchte. Die kennen wenigstens die Wörter „Zuneigung" und „Fürsorge", sagte sie.
Ich wusste, dass aus ihr nur die Frustration sprach. Denn Justin war einer der Typen, der auf der Party eine Line von ihrem Schenkel gezogen hat. Sie lechzte ihm bereits seit Anfang des Semesters hinterher, umso schlimmer war es für sie, als er mit Claire etwas anfing.
„Ich kenne die Wörter auch. Ich sagte doch, ich kümmere mich um dich, solange du noch nicht den Richtigen gefunden hast", antwortete ich mit einem verspielten Grinsen, ehe ich mit den Fingern durch ihre kurzen schwarzen Haare strich. „Also, was benötigst du?"
Sie fing an zu lachen und schüttelte meine Hand von sich. „Ich hätte gerne einen Mädelsabend mit meinen besten Freundinnen."
„Wen meint sie", fragte eine der Stimmen.
„Ich dachte, wir wären ihre beste Freundin!"
„Oh Gott, sie tauscht uns ein!", wimmerte eine andere Stimme hysterisch.
„Ja, dich Heulsuse würde ich auch eintauschen, wenn ich es könnte", erwiderte eine andere Stimme.
„Du bist so gemein!"
„Wen meinst du mit Freundinnen?", fragte ich Cynthia irritiert. Unweigerlich machte ich mir jedoch auch Gedanken darüber, warum die Stimmen in meinem Kopf so fies waren.
„Na die Skys", sagte sie lachend und stupste mich mit der Schulter an.
„Haha, sehr witzig", verdrehte ich belustigt meine Augen. Der Professor begann mit der Vorlesung, weshalb wir beide konzentriert nach vorne schauten. Cynthia schrieb alles mit, was möglich war, denn falls ich mich an eine Vorlesung mal nicht erinnern konnte, hatte ich zumindest ihre Mitschriften. Ich selbst schrieb auch einiges auf, allerdings wusste ich, dass bei einem Wechsel keiner der anderen Persönlichkeiten es ebenso tun würden.
„Dieses Rechtsgefasel ist soo langweilig."
„Ich frag mich auch, wie sie auf die Idee kam, freiwillig Jura zu studieren."
„Wieso müsst ihr eigentlich immer auf alles und jeden herumhacken?"
„Wo habe ich jetzt auf irgendwen rumgehackt? Ich werde ja wohl noch meine Meinung äußern dürfen!"
„Hailey, wieso gehst du nicht mit irgendwelchen Puppen spielen?"
„Hailey", wisperte ich und schrieb den Namen an den Rand des Blattes.
„Was?", flüsterte Cynthia und schaute auf meine Notizen.
„Eine heißt Hailey", erklärte ich. „Sie scheint ziemlich sensibel zu sein."
„Siehst, selbst Sky findet dich weich."
„Das ist nicht wahr", weinte die liebliche Stimme. Sofort bekam ich ein schlechtes Gewissen, weil ich ihre Gefühle offenbar verletzt hatte. Doch ich konnte nichts tun, da ich mit keinem von ihnen reden konnte.
„Ich bin emotional", hielt die Stimme weinend dagegen. „Und das ist nichts schlechtes."
„Gerade geil ist es auch nicht, wie du immer direkt am Flennen bist."
Ich blinzelte einmal und merkte, dass der Professor vorne ein völlig anderes Thema mit den Studenten besprach, als noch vor einigen Sekunden. Verwirrt überlegte ich, wie lange ich wohl nicht anwesend war, als mein Blick auf meine Hand fiel, in der ich im Gegensatz zu vorher einen Fineliner hielt.
Sie lag auf meine Mitschriften. Doch über meinen Notizen war nur noch eine Zeichnung von einem traurigen Mädchen und verdeckte all meine geschriebenen Wörter.
„Wow, ich wusste nicht, dass du so gut malen kannst", raunte Cynthia, als sie ebenso auf mein Blatt starrte. Die Zeichnung war mit so vielen Details versehen. Jedes Haar, jede Wimper und jede feine Linie wurde mit Liebe gezeichnet. Das Mädchen hatte schulterlange Haare und ein jugendliches Gesicht. Über den Wangen und der spitzen Nase hatte sie Sommersprossen gemalt. Sie war niedlich, wären ihre mandelförmigen Augen nicht mit solch einer Traurigkeit gekennzeichnet.
„Kann ich auch nicht", erwiderte ich und bewunderte das Kunstwerk vor mir. „Hätte sie nicht wenigstens ein neues Blatt nehmen können?"
„Du kannst meine Notizen haben", bat Cynthia an und fand es offenbar ziemlich amüsant.
Als die Vorlesung zu Ende war, hatte ich den Tag ohne weitere Ausfälle überstanden, was mich jedes Mal erleichtert aufatmen ließ.
„Was hältst du denn von einem Mädelsabend? Wir könnten doch bei dir zu Hause erst ein wenig für die Prüfungen lernen und uns dann mit Süßes vollstopfen, während wir eine Serie gucken", schlug Cynthia vor, als wir gemeinsam den gepflasterten Weg über das Universitätsgelände lang schlenderten. Sie hakte sich wie jedes Mal unter meinen Arm und schenkte mir mit dieser Geste so viel Kraft.
„Oh, Ähm. Also bei mir ist eher schlecht", antwortete ich. In Nates Penthouse lebten noch immer die Russen. Nicht mal für die war genügend Platz vorhanden, denn sie breiteten sich schlimmer aus, als Parasiten. Zudem wollte ich Cynthia es ersparen, auf einen von den Irren zu treffen. „Yonathans Familie ist noch immer da und die sorgen schon genug für Chaos."
„Wir bleiben einfach in deinem Zimmer", meinte sie schulterzuckend. Sie wusste nicht, dass es die Russen herzlich wenig kümmerte, ob wir uns im Zimmer versteckten oder nicht. Nicht mal ich war vor ihnen sicher, denn sie spazierten bei mir ein und aus wie sie lustig waren.
„Glaub mir, so eine Tür hält die nicht davon ab, mir auf die Nerven zu gehen."
Sie zog einen Schmollmund und sah mich mit einem Welpenblick an, den ich einfach nicht widerstehen konnte. Frustriert warf ich meinen Kopf in den Nacken.
„Sie ist zu cute!"
„Dafür hat Sky den Stock schon fast so weit im Hintern wie Yonathan."
„Ich habe zuerst eine Sitzung bei Dr. Moreno mit Yonathan", erzählte ich. „Ich schreibe dir danach. Ich weiß nie, mit welcher Stimmung ich die Praxis verlasse."
„Na gut, rufe an, falls irgendwas ist und du moralische Unterstützung brauchst", bat sie an und umarmte mich fest, ehe wir uns trennten.
Tyson wartete bereits an dem schwarzen SUV, dennoch sah ich Cynthia hinterher bis sie hinter der Mauer verschwand. Anschließend ging ich auf mein Babysitter zu, der mir die Tür öffnete.
„Miss MacKenzie", begrüßte er mich förmlich, weil er wusste, dass es mich zur Weißglut brachte.
„Ich sollte dringend mit Yonathan über deine Bezahlung reden, Ty", mahnte ich gespielt ernst und stieg ein.
„Tuen Sie sich keinen Zwang an, Miss MacKenzie", zwinkerte er und schloss die Tür, um dann um das Auto herum zu gehen und ebenso einzusteigen. Er wusste, dass ich es hasste, wenn er so gleichgültig war!
„Du bist wirklich nervig", sagte ich, als er den Motor startete und den Wagen ins Rollen brachte.
„Damit kann ich leben. Sie wissen doch, man bekommt immer das, was man sät." Er sah ernst auf die Straße, weshalb ich beschloss aus dem Fenster neben mir zu schauen. Tyson war noch nie ein Mann mit vielen Worten. Ich war es gewohnt mit ihm die Fahrt im Stillen zu verbringen, aber irgendwie mochte ich genau das auch an ihm.
Ich grübelte über die Zeichnung nach und die Unterhaltung, die ich nebenbei in meinem Kopf aufgeschnappt hatte. Das Mädchen schien nicht glücklich zu sein, was mich plötzlich sehr traurig stimmte. Niemand meiner Persönlichkeiten sollte unglücklich sein, auch wenn ich sie nicht kannte. Oder gerade weil ich sie nicht kannte. Ich hätte ihr gern geholfen.
Ich umklammerte mit der Hand den Griff an der Tür, als in meinem Kopf ein dumpfes Gefühl entspannt. Es war als wäre mir schwindelig, oder eher schwammig. Ich konnte nichts mehr wirklich greifen.
Hailey
Ein Gefühl von nach vorne fallen überkam mich plötzlich, weshalb ich meine Augen fest zusammenkniff. Allerdings blieb ein Sturz aus und ich öffnete verwirrt ein Auge. Ich sah aus einem Autofenster auf eine dicht befahrene, mehrspurige Straße. Ich wollte überhaupt nicht nach vorne, weshalb ich umso irritierter war. Es war jedes Mal seltsam sich an einem komplett anderen Ort und in einer völlig anderen Situation wiederzufinden.
Bis eben saß ich noch in meinem Zimmer in der inneren Welt und malte. Musik strömte durch den Kopfhören in meine Ohren. Ich flüchtete vor Stella und Mirija, die es beide nicht lassen konnten mich herablassend zu behandeln, nur weil ich jünger und emotionaler war.
Verängstigt drehte ich meinen Kopf und sah einen finster dreinblickenden Mann, der mein Puls panisch in die Höhe trieb. Er hatte schwarze Sachen an und ich erkannte die Waffe, die unter seiner Jacke war, ebenso ängstigte mich die Narbe in seinem Gesicht. Sofort presste ich mich seitlich an die Tür.
Wurden wir entführt? Wollte er uns umbringen?
Meine Hand war noch immer am Türgriff, weshalb ich mit zittrigen Fingern und den Blick nach links versuchte, an den Öffner zu kommen. Ich wollte einfach aus diesem Wagen raus. Egal, ob dieser gerade fuhr oder nicht!
Die Tür ließ sich zu meinem Entsetzen nicht öffnen und ein piependes Warnsignal leuchtete im Tacho auf, wodurch der gruselige Mann nun Bescheid wusste, was ich vorhatte.
Mist, Mist, Mist, Mist!
„Was tun Sie?", fragte er mit solch tiefer Stimme, die mir eine Gänsehaut bereitete. Und zwar keine von der guten Sorte. Tränen stiegen unweigerlich in meine Augen und ich zerrte nun gewaltsam an dem Türöffner.
„Ich will sofort hier raus!", weinte ich unbeherrscht.
„Beruhigen Sie sich bitte", sagte der Mann und platzierte seine Hand auf meine Schulter, wodurch mir ein markerschütterndes Schreien entkam. Die Panik stieg immer mehr, weshalb ich nur noch flach und schnell atmete.
„Es ist alles in Ordnung", versuchte er mich zu beruhigen. Ich schüttelte vehement meinen Kopf, presste mich an die Tür und weinte, während ich versuchte diese beschissene Tür aufzubekommen.
„Bitte, ich muss hier raus."
Mit großen Augen beobachtete ich, wie er den Wagen an den Straßenrand lenkte und tatsächlich hielt. Vielleicht mochte er so hysterische Mädchen nicht in seinem Auto. Sofort als der Wagen stand, entsperrte sich die Verriegelung und ich riss die Tür auf.
„Sky, was haben Sie vor?"
Ich ignorierte ihn vollständig, sprang aus dem Auto und lief trotz der hupenden Autos über die dicht befahrene Straße, um einfach so schnell wie möglich vor diesem Mann zu entkommen.
Quietschende Reifen und lautes Hupen sorgten dafür, dass ich stoppte. Ein roter Van rauschte unmittelbar auf mich zu. Meine Hände fanden die Motorhaube und der Wagen kam unmittelbar vor mir zu Stehen. Er stieß mich an der Hüfte, jedoch taumelte ich dadurch nur drei Schritte zurück.
„Sky!" Ich sah zu der Seite, von der ich kam und sah, wie der Mann zwischen den nun stehenden Autos hindurchrannte. Genau auf mich zu.
Wieder erfasste mich blanke Angst und ich lief weiter, bis ich die Straße vollständig überquert hatte. Tränen nahmen mir die Sicht, doch ich rannte weiter. Ein Stechen in meiner Seite ließ mich das Gesicht schmerzverzerrt verziehen.
Ich bog an einer Straßenecke ab, rempelte einen Mann an und lief nach einer knappen Entschuldigung weiter. Besorgte Blicke lagen auf mir. Offenbar war es nicht üblich, dass ein junges Mädchen so aufgelöst und in Angst versetzt durch Boston rannte.
Ich sah über meine Schulter und konnte den furchteinflößenden Mann nirgends sehen, weshalb ich mich an einer Hauswand anlehnte und meinen hektischen Atem versuchte, unter Kontrolle zu bekommen. Mit langsamen Schritten bog ich in eine Seitenstraße und hielt mir die Rippen, die noch immer schmerzten, als würden Nadelstichen diese malträtieren. Ebenso tat meine Hüfte weh, vermutlich würde dort schon bald ein blauer Fleck zu sehen sein.
Ein Schluchzen drang aus meiner Brust und Erleichterung durchströmte mich, als ich meine Augen schloss.
Das hätte wesentlich schlimmer ausgehen können!
Ich fragte mich, wo die anderen in der inneren Welt schon wieder waren und wieso sie mich nicht unterstützten. Wobei, die machten sich sicherlich lustig über mich. Stella lachte sich bestimmt schlapp, wenn sie mich so aufgelöst sah.
Ich atmete nochmals tief durch, öffnete meine Augen und machte den ersten Schritt, als ich so plötzlich an der Schulter gepackt wurde, dass mir die Luft wegblieb. Meiner Kehle entkam ein schriller Schrei. Sofort presste sich ein viel größerer Körper an meinen.
Ich schnappte nach Luft und wollte um Hilfe schreien, als eine Hand mich daran hinderte. „Bitte beruhigen Sie sich! Ich tue Ihnen nichts! Ich beschütze Sie!", sagte er mit tiefer Stimme. Kopfschüttelnd weinte ich unaufhörlich, weshalb er mich losließ.
„Ich kenne Sie nicht!" Er stand vor mir, hob seine Hände und entfernte sich einige Schritte. Wieder war Flucht mein einziger Instinkt, doch bevor ich den Plan umsetzen konnte, schoss sein Arm hervor und hinderte mich daran, an ihm vorbeizukommen.
„Ich bin Ihr Personenschützer. Sie nenne mich Ty", sagte er und versuchte, mir auf die Sprünge zu helfen. Ich erinnerte mich dennoch nicht und die Angst in mir war bereits zu fest manifestiert.
„Lassen Sie mich in Ruhe!", schrie ich wieder. Passanten wurden bereits aufmerksam, schauten uns besorgt an, bis sogar ein junger Mann auf uns zukam.
„Bedrängt dieser Mann Sie, Miss?", fragte er an mich gerichtet. Er sah, wie aufgelöst ich war, weshalb ich hektisch nickte. „Ich rufe die Polizei, wenn Sie sie nicht in Ruhe lassen!"
„Rufen Sie, wen Sie wollen", knurrte der Mann vor mir und jagte mir nur noch mehr Angst ein. „Es passiert nichts, was Sie etwas angehen würde!"
„Bitte, Sie müssen mir helfen!", kreischte ich, als er sich mit dem Handy in der Hand abwandte.
„Sky! Erinnern Sie sich an Yonathan?", fragte er plötzlich, weshalb ich mit traurigen Augen zu ihm aufsah.
„Nate?", hauchte ich fragend. Er nickte und sah mich voller Sorge im Blick an. „Nicht persönlich."
„Vertrauen Sie ihm?", hakte er weiter nach. Dieses Mal nickte ich. „Rufen Sie ihn an."
Sofort tastete ich mit zittrigen Fingern nach meinem Handy. Es entsperrte sich mit der Gesichtserkennung, wodurch ich erleichtert durchatmete. Den PIN hätte ich zur Not nicht gewusst.
Ich durchsuchte die Kontaktliste, bis ich die Nummer von Nate fand und diese wählte.
„Sky", ging er nach nur wenigen Sekunden ans Handy.
„I-ich habe solche Angst", weinte ich und brachte vor Tränen kaum ein Wort raus. „Dieser Mann."
„Welcher Mann? Wo bist du?", fragte er besorgt. Ich hörte ein Stuhl hart über den Boden schleifen und dann schnelle Schritte. „Sag mir, was passiert ist."
„Mr. Kingsley, ich bin's Tyson", sagte der Mann vor mir. Er kam wieder ein Schritt auf mich zu, weshalb ich quickend wimmerte. „Sie erkennt mich nicht."
„Er soll weggehen!", weinte ich. „Er lässt mich nicht in Ruhe."
„Ich bin gleich bei dir, Princess. Du brauchst keine Angst haben", redete Nate beruhigend auf mich ein. Ich konnte Straßenlärm auf der anderen Seite der Leitung hören. „Tyson wird dir nichts tun. Er sorgt für deine Sicherheit."
„Polizei! Gehen Sie von der Frau weg!" Zwei Polizisten kamen auf uns zu und hatten ihre Waffen auf den Mann vor mir gerichtet.
„Was ist los bei euch?", fragte Nate und klang dabei ziemlich aufgeregt.
„Jemand hat die Polizei verständigt, weil er mich nicht losgelassen hat", erklärte ich ehrlich. „Er hat mich gegen meinen Willen angefasst."
„Hände hinter den Kopf und auf die Knie", brüllte einer der Polizisten den fürchterlichen Mann vor mir an. Er tat, was sie verlangten und ich atmete erleichtert durch, als der andere Polizist seine Hände mit Handschellen fixierte.
„Sie sind vorläufig festgenommen!" Sie halfen ihm aufzustehen, als in dem Moment der Anruf beendet wurde und Nate zu uns stieß. Sofort kam er auf mich zu, nahm mein Gesicht in seine Hände, weshalb ich mich schnell aus seinem Griff befreite.
Ich hasste Berührungen jeglicher Art!
„Kennen Sie die Frau?", fragte der Polizist. Der andere hielt den Mann an Ort und Stelle. Er sah überhaupt nicht verängstigt aus und schien es eher als belastend zu finden, dass er verhaftet wurde.
„Lassen Sie ihn los", erwiderte Nate, weshalb ich an seinem Anzug zerrte und ihm zu verstehen gab, dass er das nicht tun durfte. „Mr. Pearce ist der Personenschützer von Miss MacKenzie."
„Wir brauchen eine ausführliche Aussage von allen Beteiligten, ehe wir Mr. Pearce freilassen können", erklärte der Polizist. Nate seufzte genervt, sah mich kurz an und ging auf die beiden Polizisten zu. Ich konnte nicht hören, was sie redeten, aber es war mir auch nicht wichtig.
Ich presste mich an die kalte Hauswand und wollte nur von hier weg. Nach einigen Minuten nahmen sie den Mann mit und Nate und ich blieben in der Seitenstraße allein zurück. Wieder nahm er mein Gesicht in seine Hände und wieder schüttelte ich ihn von mir.
„Bitte fasse mich nicht an."
„Okay, mache ich nicht", entgegnete er und nahm ebenso ein paar wenige Schritte Abstand. „Wie heißt du?" Mit großen Augen sah ich ihn an.
Hatte der alte Mann etwa Demenz?
„Sky", antwortete ich wie in einem Automatismus. Ich hielt es für das Beste, wenn die Leute nichts von uns anderen wussten und uns nicht auseinanderhalten konnten. Wir hatten immerhin eine Schutzfunktion gegenüber Sky.
„Ich weiß, dass du nicht Sky bist", sagte er und sah mir tief in die Augen. „Mir kannst du vertrauen. Ich würde Sky niemals etwas antun."
Ich haderte mit mir selbst, denn ich wollte ihm vertrauen. Wollte ihm meinen richtigen Namen sagen und vor allem wollte ich, dass er mich als eigenständigen Menschen sah. Ich war gerne ein Teil von Sky, aber ich wollte auch gern als eigene Persönlichkeit wahrgenommen werden. Wenigstens von einem Menschen.
„H-hailey", stotterte ich letztlich und hätte es am liebsten sofort zurückgenommen.
„Freut mich, Hailey", sagte er und lächelte mich liebevoll an. Seine blauen Augen erzeugten ein warmes Gefühl in meinem Bauch.
Doch bevor ich etwas erwidern konnte, fühlte mein Körper sich an, als würde ich nach hinten und zeitgleich nach vorne fallen.
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