~Fourtyone~

Lautes Stimmengewirr weckte mich aus einem viel zu kurzen Schlaf, weshalb ich mich genervt zur Seite drehte. Ich hatte gerade mal drei Stunden geschlafen!

Dennoch rappelte ich mich nur wenige Sekunden später auf und beschloss mich anzuziehen. Während ich mich im Bad frisch machte, hörte ich von unten immer wieder die Russen diskutieren. Ich hatte die letzten Stunden genug von irgendwelchen Konflikten und Diskussionen, weshalb ich beschloss, dass eine Runde um den Block mir helfen würde, meinen Kopf freizubekommen.

Ich zog mir umständlich eine Jogginghose und Pullover an, legte die Armschlinge wieder um und verließ das Schlafzimmer. Als ich die Treppe nach unten ging, bemerkte ich Demjan und Maxim, die mit Kirill, oder wem auch immer, am Esstisch saßen. Dieser sah ziemlich mitgenommen aus, was aber auch kein Wunder war, da er genauso wenig Schlaf wie ich bekommen hatte.

Ich brauchte eine Pause von den allen!

Als ich unten ankam und ein Glas Wasser trinken wollte, schoss die Tür plötzlich auf. Mit verwundertem Blick sah ich, wie Stenja und Aljoscha außer Atem eintraten. Beide sahen aus, als wären sie vom Trailerpark hierher gerannt. Unerwartet glitt auch der Fahrstuhl auf und eine ebenso abgehetzte Sky betrat mein Penthouse. Ich sah die Wut in ihrem Blick, als sie auf Stenja losstürmte.

Was hatten die Idioten dieses Mal angestellt?

„Stenja, wage es dir und ich verspreche dir, ich kastrier dich als erstes!", schrie Sky ihn rasend vor Wut an, als er unmittelbar auf mich zukam. Sein Blick fixierte mich, als wollte er mir mittels Gedankenübertragung etwas mitteilen. Auf die Erklärung für dieses schräge Verhalten war ich gespannt, doch bevor er irgendwas sagen konnte, sprang Sky auf seinen Rücken und hinderte ihn daran weiter auf mich zuzukommen.

„Du bist ein verlogener, dummer, ignoranter Bastard", schrie sie, weshalb ich beide verwundert ansah.

Womit hatte er sie so wütend gemacht?

„Sky, komm von mir runter!", knurrte er und versuchte, sie von sich zu schütteln, doch sie umschloss mit ihren Armen und Beinen seinen Körper. Sie zerrte an ihm herum, während er sich mit aller Kraft versuchte, sich von ihr zu befreien, ohne sie dabei zu verletzen. Aljoscha kam ihm zu Hilfe und zerrte an dem kleinen blonden Wesen, dass sich partout nicht abschütteln ließ.

„Kann mir mal einer erklären, was hier los ist?", fragte ich mit strenger Stimme. Ich kam mir vor wie im Irrenhaus!

„Willst du es ihm selbst sagen?", richtete Stenja sein Wort an Sky, indem er sein Kopf zu ihr nach hinten drehte.

„Es gibt nichts, was ich zu sagen hätte", wütete sie und umschloss ihre Arme um seinen Hals, um dann zuzudrücken.

„Malyschka, lass endlich los!", knurrte er, doch Sky schüttelte ihren Kopf und drückte mit ihren zierlichen Armen noch fester an seinem Hals. Die anderen drei am Tisch beobachteten die Szene ebenso belustigt wie ich und schlossen sogar dumme Wetten ab.

„$100 dafür, dass Sky gewinnt", lachte Demjan, woraufhin Maxim einschlug und auf Stenja wettete.

„Mein Kopf platzt gleich", stöhnte Kirill, der sich mit der Stirn voran auf die Tischplatte legte. An dem wehleidigen Ton erkannte ich, dass es Ly war, der offenbar die Nachwirkungen von seinem Alkoholexzess der letzter Nacht allein durchleben musste.

„Nimm sie von mir runter, sonst garantiere ich für nichts mehr", brüllte er nun auch Aljoscha an. Es herrschte eine kaum auszuhaltende Lautstärke, während die drei sich anschrieen, als hätten sie komplett den Verstand verloren.

Aljoscha packte Sky, die sich nun mit den Beinen an Stenja klammerte, der sich daraufhin endlich aus ihrem Griff winden konnte.

„Ich hasse euch! Ich hasse euch so sehr!", kreischte Sky und strampelte wild mit den Beinen, wobei sie Stenja mehrmals trat.

„Ruhe jetzt!", grollte ich und übertönte dabei die drei Streitenden, die mich überrascht ansahen. „Was zur Hölle ist in euch gefahren?!"

Besorgt sah ich Sky an, die ihren Kopf senkte und nun zu schluchzen begann. Sie atmete schnell und riss sich von Aljoscha los, der sie noch immer festhielt.

„Versprich mir, dass sich nichts ändert!", sagte sie verzweifelt an mich gerichtet. Ihre Verzweiflung durchschnitt den ganzen Raum und ließ einen Knoten in meinem Magen entstehen.

„Können wir kurz unter vier Augen reden?", fragte Stenja an mich gewandt, woraufhin Sky auf ihn einschlug.

„Wieso tust du das, Stenja?! Ich habe dir vertraut!", schrie sie, während Tränen ihr gesamtes Gesicht überströmten.

„Nein, ich will mit Sky reden", bestimmte ich und ging auf sie zu, um sie irgendwie zu beruhigen. Sofort klammerte sie sich Hilfe suchend an mich, weshalb ich wegen des Schmerzes in der Schulter aufkeuchte.

„Ich habe nichts getan. I-ich ... weiß nicht, wieso die das behaupten", stammelte sie aufgelöst. Ich hob meinen Kopf und sah Stenja überrascht an.

Sie erinnerte sich an irgendwas nicht. Es hätte mich eigentlich nicht mehr schocken sollen, aber dennoch traf mich das wie ein Blitz. Aber ich war dank Kirill bereits bestens darauf vorbereitet und wusste, wie ich mit der Situation umgehen musste.

„Ich glaube dir, Sky. Was auch immer vorgefallen ist, ich weiß, dass du das nicht warst", sagte ich ruhig und nahm ihr Gesicht in meine Hände. Sie atmete hektisch, genauso wie ihre Augen wild hin und her schauten, als wäre sie orientierungslos. „Es ist alles gut."

„Wieso tut er das?", wimmerte sie, woraufhin ich Stenja mit einem Kopfnicken deutete, dass er und Aljoscha gehen sollte. Offenbar regte es Sky zu sehr auf. Die Tür fiel zu, als die beiden tatsächlich gingen.

„Sie sind weg. Keiner sagt irgendwem, irgendwas", sprach ich noch immer ruhig auf sie ein. Langsam beruhigte sie sich in meinem
Arm, weshalb ich meine angestaute Luft ausstieß.

„Du machst das super, Daddy", lobte Ly mich und zeigte mir den Daumen nach oben. „Ich wusste, ich konnte ihm irgendwas beibringen."

Er sprach zu Demjan und Maxim, die Sky ebenso anstarrten, als wäre sie ein seltenes Fossil im Museum. Plötzlich löste sie sich ruckartig von mir und schaute Ly mit großen Augen an.

„Hilf mir!", sagte sie innerlich komplett zerrissen. Es tat mir unendlich weh, sie so aufgelöst zu sehen und ich wollte, dass sie wusste, dass niemand in diesem Raum sie verurteilte.

„Was hast du denn, Schönheit?", fragte Ly in seiner gewohnten Arroganz. Er stand auf, wobei es aussah, als würde ihn jede Bewegung all seine Kraft kosten. „Wie wäre es, wenn du dich erstmal hinsetzt und uns in Ruhe erzählst, was war."

Er nahm ihre Hand in seine und führte sie zu dem Tisch, an dem Demjan und Maxim noch immer wie versteinert vor ihrem Frühstück saßen. „Ihr verpisst euch jetzt. Ist Familienintern."

„Familienintern?", stotterte Sky, wehrte sich allerdings nicht, als er ihr einen Stuhl vorschob und sie an den Schultern auf diesen herunter drückte. Demjan und Maxim standen auf und taten tatsächlich was Ly von ihnen verlangte.

„Du solltest erstmal etwas essen. Deine Haut sieht viel zu blass aus, Schönheit."

„Yonathan?", drehte Sky sich zu mir herum, da ich das Geschehen nur wortlos beobachtete.

„Ich bin da", sagte ich und setzte mich neben sie. „Alles gut."

Ly schob eine Tasse zu ihr mit heißem Kaffee und setzte sich ihr gegenüber. Er nahm eines der Brötchen und fing an es zu beschmieren. „Also, was ist los in deinem hübschen Köpfchen."

„Da sind diese Stimmen", antwortete sie ängstlich. „Die reden alle durcheinander und machen mich verrückt!"

„Ordnung ist wichtig, Schönheit. Reden die gerade auch?", fragte er weiter. In meinem ganzen Leben war ich nie so froh, den Körper von Kirill in meiner Wohnung zu haben!

„Nein. Nur vorhin bei Stenja, als ich auf seinem–" Sie brach ab und sah mich verunsichert an. Mein Herz zog sich zusammen, aber ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen.

„Worüber haben sie denn geredet?", fragte er weiter und ging nicht darauf ein, was Sky mit Stenja getan hatte.

„Sie haben sich gestritten, wer heißer ist", nuschelte sie. Ihr Kopf wurde in Sekundenschnelle so rot wie die Tomaten auf dem Tisch. Ich legte meine Hand auf ihr Bein und drückte es sanft, um ihr irgendwie Sicherheit zu geben.

„Aljoscha oder Stenja?", hakte er belustigt nach.

„Nein Yonathan." Unsicher sah sie zu mir und schien gedanklich völlig wegzutreten.

„Hey, Schönheit", schnippste Ly vor ihrem Gesicht. „Bleib bei mir."

„Sie wollten Stenja küssen. Andere sagten, dass es nicht ginge wegen Yonathan", sagte sie ehrlich. Sie vergrub plötzlich ihr Gesicht in ihre Hände und weinte los. Ihr Körper zitterte, weshalb ich hilflos Ly ansah. „Was stimmt nur nicht mit mir?"

„Mit dir ist alles in bester Ordnung", beruhigte Ly sie. „Es ist nicht selten, dass manche Persönlichkeiten andere Vorlieben und Geschmäcker haben, als du selbst."

Ich atmete tief ein und versuchte meine Gefühle unter Kontrolle zu bringen. Es reizte mich bis aufs Blut, aber ich verstand auch, dass sie in dem Moment keinerlei Gewalt über ihr Handeln hatte. Ly sah mich mahnend an, denn Sky brauchte nun Rückendeckung.

„Also hat Stenja eine andere Persönlichkeit getriggert?", fragte ich ruhig.

„Trigger sind nicht immer Dinge, die wir mit schlechten Erfahrungen verbinden. Manchmal möchten Persönlichkeiten anders Handeln als die Person die vorne ist", erklärte Ly, ehe er sich Sky wieder widmete. „Erinnerst du dich, was passiert ist?"

„Nein, ich habe mit Stenja rumgealbert. Dann plötzlich hat er mich angesehen, als wäre ich irre geworden. Er hat behauptet ich hätte ihn–" Wieder sah sie unsicher zu mir. Ich schenkte ihr ein sanftes Lächeln, um ihr nicht zu zeigen, wie sehr es mich verletzte. „Geküsst."

Es dann doch aus ihrem Mund zu hören, tat mehr weh, als ich dachte. Auch wenn mir bewusst war, dass es in dem Moment nicht sie war.

„Bitte. Du musst mir glauben. Ich wollte das ganz bestimmt nicht! Ich– Sei nicht böse."

„Sky, ich bin nicht böse", versicherte ich ihr.

„Weil ich dir egal bin?", fragte sie unerwartet schroff. Ihre Emotionen schienen von einem Extremen ins Nächste zu schleudern. „Wie kann es dir am Arsch vorbei gehen, wenn ich dich hintergehe?"

„Du hintergehst mich nicht", erklärte ich. „Ich wusste, dass so etwas passieren kann, wenn sich herausstellt, dass du mehrere Persönlichkeiten hast."

„Und das ist für dich völlig okay!? Du nimmst es einfach so hin?", schrie sie. „Wie soll man so überhaupt eine Beziehung führen, wenn man sich nie sicher sein kann, dass jemand anderes übernimmt, betrügt und lügt?"

Die Frage richtete sie mehr an Ly, denn ich selbst hatte natürlich keine Ahnung.

„Du betrügst ihn ja nicht. Du bist Sky und alle anderen sind die anderen. Ich denke, Yonathan hat schon kapiert, dass zu unterscheiden", sagte Ly. „Wenn man sich auf so jemanden wie uns einlässt, muss einem bewusst sein, dass man nicht mit einer Person zusammen ist, sondern mit vielen."

„Es ist aber mein Körper, der dann diese Dinge tut!", schrie sie ihn an, weshalb ich ihre Hand griff und versuchte, es ihr aus meiner Sicht zu schildern, wie ich es empfand.

„Es ist aber dein Herz, dass mich liebt und das ist alles, was zählt. Du bist nicht die anderen in deinem Kopf."

„Wie soll das funktionieren?", fragte sie wieder traurig an Ly. „Ich würde es nicht ertragen, zu wissen, dass andere ihr eigenes Ding machen und Yonathan damit wehtun."

„Anfangs wird es sicher schwierig, aber du musst lernen alle Persönlichkeiten zu akzeptieren und auch deren Bedürfnisse zu verstehen. Es ist wichtig, dass jeder von ihnen die Möglichkeit hat Yonathan kennenzulernen und selbst zu entscheiden, ob sie im Co-Bewusstsein in der Beziehung integriert sein wollen. Allen anderen musst du klar machen, dass sie sich rauszuhalten haben."

Sie wirkte verwirrt, verzweifelt und gedanklich komplett zerstreut.

„Weißt du, wie viele es sind?", fragte Ly, woraufhin sie den Kopf schüttelte. „Du solltest zuerst damit anfangen, sie selbst kennenzulernen. Versuche in dich hineinzugehen und sie bewusst wahrzunehmen", gab er ihr einen Rat.

„Ich brauche Abstand", murmelte sie und stand wie in Trance auf. „Ich kann das nicht. Nicht so."

Sie ging einfach zur Tür und wollte das Penthouse verlassen, weshalb Ly und ich uns besorgt ansahen.

„Sky!" Ich lief zu ihr, nahm ihre Hand und wollte sie daran hindern allein rauszugehen. Keiner wusste, ob sie wieder wechseln würde und was die Persönlichkeit dann anstellen würde.

„Ich will nur an die frische Luft!", schrie sie.

„Ich bleibe bei ihr", bat Ly an und joggte auf sie zu. „Du solltest vielleicht selbst erstmal darüber nachdenken, was es für dich bedeutet."

Was sollte es für mich bedeuten? Ich führte offenbar keine Beziehung mit einer Frau, sondern mit vielen, so wie er es bereits sagte.

Und so schräg es auch klang, aber ich war neugierig. Neugierig zu erfahren, wie die anderen Persönlichkeiten waren.

Damit war ich wohl noch verrückter als die beiden ...

_______

Bitte bedenkt, dass es alles rein fiktiv ist!

Natürlich passiert das alles nicht von heute auf morgen und Menschen mit dieser Erkrankung arbeiten viele Jahre daran irgendwie ein ruhiges Leben mit den Persönlichkeiten zu führen.

Allerdings hab ich natürlich nicht die Zeit dafür, weshalb es auch ziemlich schnell vorangeht 😂

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top