~Eleven~
Ungläubig starrte ich ihn an. Glaubte er wirklich, ich würde jetzt schon reden? Da musste er sich schon mehr einfallen lassen!
„Nein", sagte ich entschlossen. Meine Schulter pochte unaufhörlich und sorgte dafür, dass ich keinen klaren Gedanken fassen konnte, aber ich würde trotzdem nicht aufgeben!
Yonathan konnte vernichtend sein, aber er würde mir niemals das Leben so schwer machen wie es Mikhail vermutlich tat, wenn er von meinen Verrat erfuhr. Er hatte Stenja in seiner Gewalt und er wäre bereit ihn zu töten. Dasselbe würde er auch mit Aljoscha machen, denn er wusste nun, dass dieser mir genauso wichtig war wie der blauhaarige Russe.
Ich beobachtete, wie Yonathan aufstand und machte mich bereits auf die nächste Runde gefasst.
„Ich liebe deine Sturheit, aber gerade könnte ich dir dafür den Kopf abreißen", grinste er breit. Völlig überfordert mit der Situation, weil er sich so seltsam verhielt, hielt ich das Kühlpack an meiner Schulter und stand auf. Meine Tränen waren getrocknet und schienen meinen Willen standhaft zu bleiben nur verstärkt zu haben.
„Versuch es, Nate! Schlag mich, würg mich, folter mich. Du wirst von mir nie erfahren, wer mein Bruder ist! Er wird dich zerstören und alles, wofür du lebst. Irgendwie verschafft es mir sogar Genugtuung zu wissen, dass er die Bruderschaft bis aufs Letzte auslöschen wird", forderte ich ihn heraus.
Mein Hass richtete sich nicht gegen ihn persönlich, aber gegen das, wofür er gerade bereit war mir wehzutun. Er wollte wissen, wer der Bratva schadete. Der Organisation, der Yonathan bewusst den Rücken gekehrt hatte. Bis jetzt.
Warum war es ihm so wichtig die Bruderschaft zu beschützen?
Offenbar hatte ich bei Nate einen wunden Punkt getroffen, denn er sah mich nur mit unergründlichen Blick an und mahlte mit den Kiefern. Seine Sehnen am Hals zuckten, als meine Worte seinen Verstand erreichten.
„Wieso plötzlich so still? Dachtest du wirklich, ich hätte mich auf all das nur wegen Stenja eingelassen? Deine Bruderschaft hat mich entführt, misshandelt, prostituiert und sogar verkauft! Ich will sehen, wie die Bratva fällt und dabei ist es mir egal, ob ich auch dich zum Stürzen bringen muss!"
„Nein, das ist nicht das, was du willst", erwiderte er mit zusammengebissenen Zähnen. „Du willst mir nur etwas vormachen."
„Mein Bruder wird all dem ein Ende setzen und dafür sorgen, dass ich meine Freiheit zurückbekomme. Die, die du mir genommen hast!", hauchte ich wütend. Ich sah, wie ich ihn mit meinen Worten verletzte, weil ich die Wahrheit aussprach, die Nate anscheinend verdrängte. Ich habe ihn geliebt, ihm vertraut und verehrt, aber er hat diese Gefühle mit Füßen getreten. Er hat mich belogen und meine Schwäche ausgenutzt. Das würde ihm kein zweites Mal gelingen!
Plötzlich brach aus Nate ein Lachen heraus, dass meine Brust zum vibrieren brachte. Er nahm sein Handy und ignorierte meinen säuerlichen Blick, als er sich weiter über mich amüsierte.
„Findest du es lustig, was du mir alles angetan hast?" Sofort war er vor mir, sah auf mich herab und kam mit seinem Gesicht direkt vor meines.
„Ganz und gar nicht! Aber es ist beeindruckend, wie er dich so schnell manipulieren konnte", flüsterte er. Ich ertrank in seinen ozeanblauen Augen, in denen ein regelrechter Sturm wütete. „Leider vergisst du, dass auch Teile deiner Familie der Bratva angehören."
„Blut ist dicker als Wasser, Kroschka", hörte ich aus dem Lautsprecher von Nates Handy jemanden sprechen.
„Elender Verräter", zischte ich Yonathan an. „Hallo Kirill. Oder sollte ich dich Kilian nennen?"
„Du kannst mich nennen, wie du willst, solange es dich daran erinnert, woher du kommst und wer du bist." Noch immer starrten Nate und ich uns einander an, als wären wir Erzfeinde. „Ich finde deine Gedankengänge überhaupt nicht so abwegig und Jascha sieht vermutlich aus wie ein begossener Pudel, weil er dir den Mist abkauft. Aber mich kannst du nicht täuschen. Du hast keinerlei Bindung zu deinem Halbbruder. Wieso solltest du ihm mehr vertrauen als uns? Ich kann Stenja befreien, oder du verfolgst deinen Plan und sorgst dafür, dass du ihn mit der gesamten Bratva vernichtest. Wie du eben so schön erläutert hast."
„Du lügst", erwiderte ich, weiterhin mit entschlossener Miene. „Euch zu vertrauen, hat mich noch nie weit gebracht!"
„Dein Bruder heißt Mikhail Beljajew, geboren als Michael MacKenzie und adoptiert von Irina Beljajew. Er führt einen Menschhändlerring, indem nicht nur du, sondern auch eure Mutter bereits verkauft wurde. Und so fügt sich das Bild, Kroschka."
Meine Gesichtszüge verrutschten, als Kirill mein einziges Druckmittel offenbarte – meinen gesamten Plan vereitelte.
„Wir können Stenja befreien mit deiner Hilfe", sagte Nate und trieb mir damit die Tränen in die Augen.
„Nein, könnt ihr nicht. Er weiß jetzt alles und wird Stenja töten", schrie ich verzweifelt und stieß Yonathan mit dem gesunden Arm an der Brust von mir. Er sah mich mit gehobenen Augenbrauen an und verstand anscheinend nicht, wieso ich mir dessen so sicher war. Ich hob einen Finger und deutete zur Decke. „Kameras."
„Hier nicht, Princess. Alles in diesem Raum ist vor ihm sicher, da er es nicht kontrollieren kann", erklärte er mir mit selbstsicherer Haltung. Gedanklich schweifte ich zu dem Gespräch mit Mikhail zurück, versuchte mich an die Aufnahmen von seinem Handy zu erinnern.
„Gott, ich bin so dumm", warf ich meinen Kopf in den Nacken.
„Endlich siehst du es ein, Kroschka."
„Du konntest es nicht wissen", verteidigte Nate mich stattdessen und versuchte, mir damit ein besseres Gefühl zu geben.
„Und unsere Handys? Denkst du nicht, er hört auch die Telefonate ab? Er wusste alles! Sogar von meinem Gespräch mit Aljoscha letzte Nacht."
„Weil in deinem Zimmer eine Kamera ist. Dein Halbbruder ist gut und anscheinend sehr talentiert in dem, was er tut, aber er hat einen wichtigen Teil bei seinem Plan vergessen", antwortete Yonathan und sprach mal wieder in Rätseln.
„Welchen?" Mit seinen warmen Fingern hob er mein Kinn, sah mir eindringlich in die Augen und begann erneut zu grinsen. Der Wahnsinn in seinen Augen machte mir Angst, obwohl es mich auch faszinierte.
„Wir sind besser!"
Eine Gänsehaut breitete sich über meinem gesamten Körper aus, während ich ihn mit großen Augen anstarrte. In den letzten Stunden hatten wir beide alles dafür getan uns gegenseitig zu verletzten und zu zerstören. Umso verwunderte war ich, als er von einem »Wir« sprach.
„Ich unterbreche diesen bedeutenden Moment ungern, aber wir sollten lieber–", begann Kirill, doch Yonathan schnitt ihm das Wort ab, indem er einfach auflegte.
„Schon viel besser", seufzte er und schaltete sein Handy aus, ehe er es in die Hosentasche seiner schwarze Jogginghose steckte.
„Hör mir zu, Sky. Du kannst mich hassen, dich deinem Halbbruder zuwenden und mir den Rücken kehren, oder mit mir gemeinsam diesem ganzen Scheiß ein Ende setzen", sagte Nate und zog mich mit diesen Worten in seinen Bann. „Ich überlasse dir die Wahl. Du kannst gehen und dich Mikhail anschließen, aber sobald du auf der anderen Seite stehst, kann ich dich nicht mehr beschützen. Das ist dann die Aufgabe deines Bruders und glaube mir, wenn ich dir sage, dass ihm scheißegal ist, was mit dir passiert, sobald du für ihn keinen Nutzen mehr hast."
Überfordert tapste ich die wenigen Schritte rückwärts zum Bett und ließ mich auf die Kante fallen. Nate hatte natürlich recht damit, dass mein Bruder absolut kein Interesse an meinem Leben hatte. Ich verrannte mich und wusste schon gar nicht mehr, was ich wollte. Mir kam es so vor, als rannte ich ununterbrochen im Kreis ohne dem Ziel, welches mir zudem auch noch unbekannt war, näher zu kommen.
„Wenn wir zusammenhalten, können wir alles verändern", sprach er weiter auf mich ein. Ich schüttelte den Kopf und wollte seinen Worten kein Glauben schenken. Schon gar nicht wollte ich ihm wieder vertrauen.
„Verstehst du nicht? Wir beide verfolgen dasselbe Ziel. Also lass uns das gemeinsam angehen, anstatt uns gegenseitig zu schaden." Er ging vor mir in die Hocke, nahm meine Hände in seine und sah mich mit entschlossener Miene an.
Vollkommen neben der Spur schaute ich zu ihm herunter. „Du meinst das ernst? Wie kannst du dir sicher sein, dass ich dich nicht nochmal hintergehe?"
„Kann ich nicht, aber ich bin bereit dieses Risiko einzugehen. Ich vertraue darauf, dass du weißt, was das Richtige für dich ist."
„Ich möchte einfach Stenja zurück", schluchzte ich. Er war die letzten Wochen in all den Momenten, in denen ich nur noch aufgeben wollte für mich da. Ich brauchte ihn, um nicht das Gefühl zu haben zu ertrinken. Aber vor allem wollte ich ihm etwas zurückgeben. Ich wollte ebenso für ihn da sein.
„Ich weiß", antwortete Nate und strich mir einige Tränen vom Kinn. „Obwohl ich nie verstehen werde, wie dieser Clown es in dein Herz geschafft hat. Ich werde nicht zulassen, dass er stirbt."
Ich nickte und kapitulierte. Was blieb mir auch anderes übrig?
„Was ist dein Plan?", fragte ich und wischte die restlichen Tränen von den Wangen. Ich straffte die Schultern, ignorierte den stechenden Schmerz und sah Yonathan mit neuer Entschlossenheit entgegen.
„Zuerst kümmern wir uns um deine Verletzung, währenddessen halten wir das Schauspiel aufrecht, dass du Mikhails Anweisungen folgst, um Stenja zu schützen. Ich werde den engsten Kreis der Bratva einbestellen, erst dann erfahren die von unserem Plan."
„Du willst also niemanden etwas sagen?", hakte ich verwirrt nach. Demjan und Kirill werden Antworten verlangen, dem konnte Nate nicht entkommen.
„Je weniger Bescheid wissen, umso geringer das Risiko doch noch aufzufallen."
„Was ist mit Stenja? Wir können ihn nicht bei Mikhail lassen!" Yonathan stand auf, nahm die Decke und legte sie über meine Schultern.
„Solange er Stenja als Druckmittel benutzt, brauchen wir uns keine Sorgen um ihn machen. Mikhail wird ihm nichts tun", erklärte er gefasst. Ich war mir dessen nicht so sicher. Er konnte Stenja trotzdem wehtun, zudem wollte ich mir nicht vorstellen, unter welchen Umständen er ihn bei sich gefangen hielt.
Yonathan schien meinen nicht überzeugten Blick zu bemerken. „Mehr können wir gerade nicht machen. Wir müssen uns in Geduld üben und uns eine Strategie überlegen", sagte er und deutete mir währenddessen mit dem Finger, dass ich aufstehen sollte. „Ich bringe dich in dein Zimmer."
Er griff unter meine Beine, woraufhin ich überrascht zurückwich. „Was tust du? Ich kann laufen."
„Ich bin mir sicher, dass Mikhail einiges mitbekommen hat, wenn er weiterhin in den Kamerasystemen ist. Wäre auffällig, wenn du einfach über den Flur stolziert, als wäre nichts gewesen", verzog Nate seine Brauen.
„Verletzt das etwa dein Ego?" Ohne weitere Diskussion schnappte er nach meinen Beinen, ehe er behutsam meine Arme um seine Schulter legte und dabei auf meine verletzte Schulter achtete.
„Nein ganz und gar nicht. Es erfüllt mich mit Stolz zu sehen, dass du schon wieder eine dicke Lippe riskieren kannst", antwortete er schmunzelnd. „Und jetzt tue wenigstens so, als wärst du erschöpft."
Mit einem Augenrollen legte ich meinen Kopf an seine Brust, ließ die Arme baumeln und schloss meine Augen. Yonathan verließ anschließend den Raum mit mir, um mich zurück in mein Zimmer zu bringen. Ohne ein Wort zu sagen, legte er mich auf das Bett und ging.
In meinem Kopf entstand ein Karussell aus tausenden Gedanken, die sich wie wild überschlugen. Ich bereute meine Entscheidung, Yonathan schon wieder zu vertrauen nach nur wenigen Momenten. Aber blieb mir eine Wahl?
Meinem Bruder mein Leben anzuvertrauen war keine Option und ohne Nate standen meine Überlebenschancen viel zu schlecht, da ich auch für die Bruderschaft noch immer ein Dorn im Auge war. Solange ich an seiner Seite war, war ich halbwegs sicher, da er als Boss der Bratva noch immer das letzte Wort hatte.
Nach meinem Verrat ihm gegenüber konnte ich froh sein, dass er mir nur die Schulter ausgerenkt und nicht gleich das Genick gebrochen hatte. Seine Wut auf mich war verständlich. Ich hätte weitaus schlimmeres verdient, wenn ich daran dachte, wie viele Männer Mikhail töten ließ, nachdem ich ihm alle notwendigen Informationen gegeben hatte. Wie vielen Menschen er damit wehgetan hatte, nur weil ich mich falsch entschieden und nicht mit Yonathan geredet hatte. Doch trotz allem zeigte er noch immer Verständnis und bat mir seine Hilfe an.
Keine Ahnung, wer von uns beiden verrückter war.
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So, endlich sind wir wieder auf dem richtigen Weg 😅 Einige haben es vermutlich mitbekommen, dass es für mich gar nicht so leicht war wieder zurück in die Geschichte zu finden 🫣😅
Ab jetzt kann es bergauf gehen 🥰
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